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H:Kracauer, Siegfried/01.06/Klebemappe 1927 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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Bibliographic data

fullscreen: H:Kracauer, Siegfried/01.06/Klebemappe 1927 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Manuscript

Persistent identifier:
BF00043383
Title:
H:Kracauer, Siegfried/01.06/Klebemappe 1927 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]
Shelfmark:
H:Kracauer, Siegfried/01.06/Klebemappe 1927
Document type:
Manuscript
Collection:
Holdings and special collections
Year of publication:
1927
Copyright:
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Full text

Paris ist groß. 
Die Kugel ist klein. Vielleicht, daß sie sich weitet, wen- 
man in sie eingedrungen ist, daß sie sich als eine Kristallin-^ 
mit vielen Strahlenbrechungen erweist. In - M:m In r 
wird die Angemessenheft sämtlicher Gebilde an die mensch- 
Eine geschlossene Kugel. 
Me Tradition bewahrt nicht Museumsstücks,, sondern 
erhält das ererbte Besitztum lebendig. (Wenn in Deutschland 
manches nicht zerfallen ist, was in Frankreich weiterbrsteht, so 
darum nur, weil es bei uns niemals bestanden hat; etwa eine 
Gesellschaft.) Immer noch gönnen die Restaurants nur von 
12 bis 2 und von 7 bis 9 Uhr den Gästen das Essen. Ein 
Philosoph, der es wissen muß, erklärte mir: „Die französische 
Sprache ist beständig von Ewigkeit zu Ewigkeit. Ihre Pflege 
nimmt die halbe Schulzeit ein, und der schlechteste Schüler ist 
gerettet, wenn man von ihm sagen kann: inuls U 6erLt dien; 
wie in Deutschland der begabte Turner." Ein junger Kauf 
mann studiert die Schriftsteller des 16. Jahrhunderts, um ihneh 
irgend eine feine Redeweise zu rauben, und Gelehrte, die sich > 
anderswo um Prosa nicht kümmern, streiten stundenlang über' 
eine sprachliche Wendung. Der Philosoph, ein älterer Herr, 
ist in Berlin zur Schule gegangen. Er wird es mir nicht als 
Indiskretion anrechnsn, wenn ich verrate, daß er dort einen 
Kameraden hatte, der seiner Völligkeit wegen der „dicke Müller" 
hieß. Der Junge schrieb Klassenaufsätze, in denen die Phra 
sen wie die Trompeten von Kriegervereinen schmetterten. Als 
später die ersten Reden des jungen Kaisers erschienen, mußte 
der Philosoph immer wieder feststellen: „Aber das hat ja schon 
der dicke Müller gesagt!" . . . Ein anderer Franzose, dem ich 
von der gesellschaftlichen Libertinage in Berlin berichtete, 
schüttelte begriffsstutzig den Kopf. Noch gilt sich die Bourgeoisie 
zu viel, als daß sie durch die Praktizierung eines mißverstan 
denen Bohsmetums ihre Unbürgerlichkeit (die sie erst recht 
bürgerlich macht) vor aller Welt bekunden möchte. Paris ist 
eine der dezentesten Weltstädte. Der Amant einer verheirateten 
Frau hält ihr strenger die Treue als ihr Ehemann, und die 
läßlicheren Beziehungen sind nicht ohne Verpflichtung. Eine 
ontologisch fixierte Ordnung, von der noch die Gleichgültigkeit 
gegen Bahnhofsgebäude zeugt, denen man nur den Rang einer 
dekorativ zu vernachlässigenden Durchgangshalle zugesteht. Die 
deutschen Großstationen werden als Krematorien empfunden, 
in denen sakraler Verbrennungspomp sich entfaltet. Auch die 
Universitätsbeamten, die Wissenschafter und die Denkdozenten 
schweben noch unbeschädigt über dem Volk. Einer fragte mich, 
warum in Deutschland diese oberen Menschenkategorien neuer 
dings aus der Stille der Hörsäle und Studierstuben heraus- 
brächen und dem Geschmack der Menge sich anzupassen suchten. 
Ich erwiderte ihm, daß, von den Naturwissenschastern ab 
gesehen, die sich industriell verwerten ließen, sämtliche Gelehrte 
Lei uns von der Angst besessen seien, man könne sie eines 
Tages vergessen. Im übrigen gelänge es ihnen nicht einmal, 
sich zu der Menge herniederzulassen; was ihn beruhigte. Er 
selber mit seinen Kollegen ist frei von dieser Nervosität. Ja, 
so sicher thront das gelchrte Leben, daß es die Popularität ver 
Fariser AeobachLungen. 
Von Dr. S. Kraeauer. 
Von Berlin aus gesehen. 
Der Deutsche aus Berlin, der mit seinen Problemen bepackt 
nach Paris kommt, glaubt sich in eine riesige Provinzstadt 
versetzt. Gewiß, da sind die beiden Louvre Gebäude (von denen 
ihm die Gemäldegalerie mehr imponiert als das Warenhaus, das 
er besser fertig bringt), da sind Plätze, Schlösser, Attraktio 
nen auf dem Montmartre, Modehäuser und andere Häuser, die 
in Deutschland aufgehoben sind — aber das Leben, die Gesell 
schaft? Leben und Gesellschaft scheinen ihm wie vor hundert 
Fahren. Seine Promptheit fühlt sich durch das 
sein hygienischer Sinn durch die zu geringe Verwendung des 
Vakuumreinigers verletzt. Das Telephonieren ist eine Qual, 
in den Cafes immer die Brioches, die Wasserhähnchen funktio 
nieren nicht recht. Schweigen wir von den Aborten. Warum 
wird nicht zugegriffen; hier und dort nur ein neues Gebende, 
viele neue Gebäude sind alt. Der Deutsche, der mit seiner 
Zeit lebt, findet die Vergangenheit wieder. Neben Salon 
stücken und abgelegten Operetten begegnet er Schauspielen, die 
sich über die Frauenemanzipation dramatisch erstaunen, oder 
einen jungen Offizier, dem die konventionelle Schlamperei zu 
Hause nicht mehr behagt, sanft zurückleiten zu den überlieferten 
bürgerlichen Tugenden. Es darf vorausgesetzt werden, daß 
auch der deutsche Reisende ein tugendhafter Bürger ist. Aber er 
ist doch ein aufgeregter Bürger, der verlorene Krieg und die 
Jnflationsjahre haben ihn um die Gewißheit seines Wertes 
gebracht, er zweifelt, er zweifelt sogar an der Erhabenheit des 
Eigentums, er hat die Revolution als Demokrat oder als ihr 
Gegner erlebt, und Ankerika ist sein drittes Wort. Selbst wenn 
er frisch aus England kommt, wie ein junger Deutscher, den 
ich bei einem Jour kennen lernte, eigentlich kein junger Deut 
scher mehr, sondern nach einem halben Jahr England bereits 
ganz der englische GroMufmann:, selbst als apathischer, gar 
nicht aufgeregter Gentleman noch wird er die moderne Welt in 
Paris vermissen. Die Gesellschaft dauert fort als habe sie den 
Krieg wirklich gewonnen, man spricht über Kunst und Literatur 
wie in verfallenen Jahrzehnten, Besitz und Mitgift stehen im 
Geruch der Heiligkeit, und ihre Generale sind echte Generale. 
Vergeblich packt der Deutsche seine Probleme aus; noch ehe er sie 
ausgepackt hat, sind sie schon aus dem Wege geräumt. Er denkt: 
diese Weltstadt ist aus der Gegenwart. Entspannt wandelt er 
in ihren wohlerzogenen Parks umher, freut sich ihrer Kultur 
güter, die er nicht besitzt, rafft mit beiden Händen charmant 
dargebotene Vergnügungen zusammen und kehrt dann nach 
Berlin mit dem Bewußtsein zurück, daß er hier wieder die Luft 
der rauhen Wirklichkeit atme, wie es heißt. 
achtet. Die Damen in seinen Kollegs sind Bergson ver-^ 
übelt worden^ und der berühmte Lebensphilosoph, so wird be 
richtet, hat seine Gattin eigens als Beobachtungsposten in den 
Hörsaal beordert, um von ihr einwandfrei feststellen zu lassen, 
daß der Damen nicht gar so viele seien. Es soll sich nichts 
ändern, und Deutschland ist ihnen im Grunde nur darum 
unheimlich, weil es immer wieder Veränderungen hervorrufen 
will. Dem Ausländer in Paris muß es scheinen, als dringe 
er in eine kleine geschlossene Kugel ein. 
Glückliche Natur. 
In den Fehler der Vorkriegsjahre verfiele, wer die Stabi 
lität des französischen Lebens nur als Erstarrung begriffe. Sie 
stammt gewiß zum Teil aus einer glücklich angelegten Natur. 
Das Land birgt alle Erderscheinungen in den richtigen Maßen. 
Von der gut proportionierten geographischen Fülle haben die 
Menschen etwas abbekommen, man könnte sagen, sie seien von 
Natur aus katholisch. Ein Intellektueller sprach von ihrem 
inneren Gleichgewicht. Sie lieben vielleicht die Natur längst 
nicht so wie die Deutschen, aber sie sind eine Darstellung der 
Natur; von ihr wird die Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit 
getragen, und noch die feinste Spiritualität ist dem natürlichen 
Untergrund nicht entfremdet. Diese Natur ist nicht das reine 
Binnenland, aus dem nur Bauern wachsen, die beharrlich auf 
ihrer Scholle sitzen, sondern, sie wird von Meeren umspült. An 
seinen Ufern kommt und geht eine Bevölkerung, die wurzellos 
ist. Sie hat sich bis nach Paris heveingezogen, dessen Fau- 
bourgs Gassengekröse enthalten, die aus Neapel oder Mar 
seille entwendet sind. Eine städtische Unterschicht, die aus 
importierten Bauern besteht, verhärtet sich leicht und die dar 
über konstruierte Gesellschaft ist dann hoffnungslos abgeschnürt. 
Das Hafenvolk hat die Unruhe in sich, die Farbe ist sein 
Wesenselement und feine Bildungen zerrieseln unaufhörlich. 
Wenn man seine Quartiere und Kneipen durchstöbert, kann 
man das Ereignis der französischen Revolution begreifen, deren 
Spuren aus dem Bild der höheren Gesellschaft ausgekocht 
sind. Zu ihrem "Heil ist sie auf der vulkanischen Lava dieses 
zeitlosen, niederen Volkes errichtet, heiß wie vorn Mittelmeer 
dringt es von unten herauf, und so vermag sie vorerst noch zu 
dauern. 
Paris ist klein. 
Ein Professor sagte zu mir: „Die Deutschen bauen immer 
zu groß, denn sie Lauen für fünf bis sechs Jahre später. Wir 
Franzosen bauen immer zu klein, weil wir uns auf die Gegen 
wart einrichten." Das bekannte Bonmot eines Engländers hat 
ungefähr den gleichen Sinn: Die deutsche Methode ist, bei 
großem Umsatz wenig zu verdienen. Die Franzosen ver 
dienen bei kleinem Umsatz viel, Wir Engländer halten uns 
in der Mitte. — Je mehr der Deutsche aus Berlin stammt, 
desto stärker empfindet er die Kleinheit in Par^s. Die 
Theater fassen bestimmt keinen Kubikzentimeter zu vi^. die 
Restaurants haben Unterabteilungen und bestehen vielfachXaus 
Zimmerchen. Wer der Concorde-Platz, der Louvre, die schnür- 
graden aufgeklärten Perspektiven? Durch eine Kunst, die an 
das Wunderbare grenzt, sind sie trotz ihrer Ausdehnung so 
verringert worden, daß man unwillkürlich in die Versuchung 
gerät, sie aufzupacken und in den Wüsteneien eines Berliner 
Sternplatzes oder Fürstencafes irgendwo abzustellen. Einige 
Kandelaber, ein paar fein gegliederte Lisenen, und sie 
schrumpfen auf ein Mindestmaß zusammen. Auch den öffent 
lichen Peranstaltungen und geschlossenen Cercles fehlt der 
Hang Zum Gigantischen. Man liest mitunter in französischen 
Zeitungen, daß Paris auf dem Wege sei, sich zu amerika 
nisieren. Dem Franzosen mag es so scheinen; auf den Fremden 
wirkt das bißchen Amerika erst recht französisch. Aus dem 
Charleston haben sie lE Oburleston gemacht, nun ist er 
von Maurice Chevalier erfunden, reinstes Pariser Nr- 
gewächs, ein elegantes Schlenkern der Beine. Sie fürchten 
die Amerikanisterung, wollen sie nicht. „Als einem Agrar 
land und dem Lieferanten der Qualitätswaren für die Welt", 
äußerte mir ein Herr, der es zwar auch nicht weiß, aber die 
landesübliche Meinung wiedergibt, „wird uns Amerika wohl 
erspart bleiben." Die Lichtreklame beschreibt gefällige 
Schwünge, die Substanzen der Warenhäuser sind bis auf die 
Moleküle zerspalten. Niemals verschwindet das einzelne Stück 
als Typenprodukt in der großen Masse; aus einer getönten 
Hülle von ^Seidenpapier strahlt es dem Beschauer entgegen. 
Noch lebt Sardou, in der dichten Atmosphäre gedeihen herr 
lich gesponnene Jntrigen, nicht umsonst ist die Diplomaten 
sprache französisch. Von Berlin aus gesehen, ist Paris aus 
Tüpfeleien zusammengesetzt, wie umgekehrt Berlin von o m 
Luxembourg aus zur hingestrichenen Plakatwand wir^ Der 
Deutsche mit seinem Tempo durchrast die Miniaturen. urw 
datiert sie in frühere Jahrhunderte zurück; da er gewohnt 
ist, an Betonklötzen vorbeizusausen, denen eine neue Sach 
lichkeit die Ornamente abgeschlagen hat, und da er zuhcusc 
alle Bänder rollen läßt, hat er keine rechte Geduld, bei den 
Details zu verweilen. Wo er aber etwa dem schnöden MU- 
vismus surrealistischer Propaganda begegnet, dort empfinde 
er unzweideutig, daß hier kein Frankreich mehr ist.
	        

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