Die Intellektuellen fühlen sich trotz zerschlissener Ueberröcke nicht geächtet, noch sind Schonungen ausgespart für die Aerm- lichkeit und die feineren Regungen. Es gibt auf dem Mont- parnasse und in den Avantgarde-Theatern ein (freilich inter national gesprenkeltes) Publi-um, das aus einzelnen Menschen besteht, und auf den oberflächlichen Eindruck hin sei die Be hauptung gewagt, daß diese einzelnen Menschen einen Körper, eine Seele und einen Geist besitzen, die eine erträgliche Ver bindung miteinander unterhalten. In dem München der Vor- lriegsjahre fanden sich in Konzerten und kleinen Schwabinger Lokalen Versammlungen solcher Art; sie scheinen aus dem öffentlichen deutschen Leben inzwischen verschwunden zu sein. Ich habe Gruppen junger Menschen gesehen, die Abkömm linge jenes unvergeßlichen Freundeskreises sind, den Balzac in den „Illusion« psräuos" verherrlicht hat: eine Zu neigung, die nicht nur Kameradschaft ist, ein nahezu asketischer Fleiß und die edle Haltung, in der sich Esprit und Naturüegabtheit unlöslich einen, sind die Kennzeichen der Verbündeten. Hier wird das Kleine groß, und selbst der Erffelturm nicht, geschweige denn irgend ein ander r Turm in der Welt, vermöchte den weit gespannten Bogen zu durch stoßen, der von Mensch zu Mensch sich dehnt. Das gibt es, noch. Von innen gewahrt man die Grenze nicht, und was der Außenstehende altmodisch heißt, ist zu einem Teil un vergänglich. (Zum anderen Teil hat er recht.) Glanz über den Affärep, Aus Gesprächen mit jungen Katholiken verschiedener Lager geht hervor, daß diese wichtigen Jugendgruppen zu den grundlegenden politischen und sozialen Fragen nicht das gleich: unmittelbare Verhältnis haben wie im allgemeinen die deutschen Die Mitglieder der „Revue <ies llsuves", die erfolgreiche Abendkurse in praktischen Fächern verunstalten, arbeiten bei der Lösung der Tagesprobleme von Fall zu Fall mit verschiedenen politischen Parteien. Ein Student, der sich p^uem»MLMörig fühlt, äußerte mir: «Nur, kein Zentrum!" Die ganz auf daS Individuelle gerichtete Gruppe um Maritain, Claudel, Cocteau entriete bei uns der Aktualität, die sie in Paris besitzt. (Als Claudel gefragt wurde, warum er, trotz feines dichterischen Schaffens, den Gesandt schaftsPosten in Washington angenommen habe, soll er ge antwortet haben: „hjus vouls^-vnus? 6'est lorKneU,." Das Wort ürZuM ist unübersetzbar, die ganze französische Gesellschaft steht dahinter.) Gewiß ermangelt dieses politisch leicht erregbare Volk des politischen Interesses nicht, indessen das politische oder gar das soziale Interesse tritt nicht nackt, hervor. Die ökonomische Struktur des Landes, die eK zu lichen Bedürfnisse und Proportionen offenbar. Mag es an! der geographischen Beschaffenheit liegen oder an der uralten! Kultivierung des Bodens unter der warmen Sonne: die Natur felber hat die Grenzen des Menschlichen anerkannt, sie ist überschaubar und hat Form, sie ist ein Kleid, das gut sitzt. Die Bäume sägen sich aus eigenem Willen zu Alleen, dir Landschaft ist schon einmal in einem Atelier gewesen. Es gibt Untiefen in ihr, die van Gogh aus sich herausgeholt Hai, sie glänzt an der Azurlüste unirdisch verklärt, aber nie mals steigert sie sich ins Uebermenlchliche. Das Humane ist Natur, die Natur humanisiert. Aus solcher Bindung an das Menschliche, der auch das bloß Gewachsene sich nicht entzieht, erklärt sich die Kleinheit der Maße. Klein srrilich dünken sie nur denen, die aus den Schranken ausgrbrochen sind. Der Amerikaner hält Berlin für ein Puppenspielz.ug, der Ber liner fühlt sich in Paris eingeengt. Darum nennt ihn der Franzose noch lange nicht groß. Er schilt die Deutschen barbarisch, weil ihm, zu Recht oder zu Unrecht, auch die Er scheinung des Großen in einem Verhältnis zum Menschlichen steht. Die aus dem abstrakten Denken geborenen konstrukti vistischen Würfel aber, die mit dem Lineal gezogenen Büro fluchten haben sich aus der menschlichen Nähe entfernt, sind aus einem Kreis herauSgetreten, dessen Kontur in PariS als eine Art von Banlieue stets gespürt werden mag. (Was . nicht hindert, daß in Deutschland die Mechanisierung vielleicht - auch eine menschliche Notwendigkeit ist.) In dem franzö sischen Kleinrentnertum stellt sich nicht nur der schlechte Bour geois dar, sondern eine ursprünglich anspruchslose, in sich beruhigte Natur, die sich nicht unnötig vergroß rn will. Man interessiert sich wenig nur für die kulturellen Vorgänge außer halb der Landesgrenzen, zu Goethe werden sie vielleicht an läßlich des Faust-MmS wieder einmal greisen (wenigstens empfahl dies ein Kritiker). Frankreich ist ihnen Paris, Paris die Mitte der Welt, und in der Mitte sind sie gern unt r sich. So wird das materiell abträgliche Ausbleiben der Fremden feit einiger Zeit mit Genugtuung verzeichnet. Ein Boule vard-Blatt schreibt: „Auf dem Montmartre haben- sechs Eabarets schließen müssen. Vielleicht wird bald wieder ein Pariser den Montmartre besuchen können." Diese srnwMge Beschränkung artet nicht selten in Selbstzufriedenheit aus, der Mangel an Neugierde wird zum Laster. Doch bleibt im ganzen durch die Bindung an die natürlich menschlichen Proportionen alles uns VerlorMe bewahrt. Gehobene deutsche Schriftsteller kolportieren hie und da, daß den Franzosen das Gemüt fehle, sozusagen die Seele. Manche haben sie richtiger slS manche Deutsche, bei denen sie übermäßig quillt oder auf HZM Weg von der Sitzung zur Bar abhanden gekommen ist. ! sozialen Kontrasten von der Schärfe und Massenhaftigkeit der unsrigen noch nicht hat kommen lassen, mag ein Grund für die Verhülltheit zumal des Wirtschaftspolitischen sein. Der andere Grund ist vermutlich jene Hast in dem mittleren Menschlichen. Je breiter die Fläche, die zum Aufruhen dient, desto unangetasteter bleiben die Fundamente. Die größere Naturmitgist der Franzosen wäre schon daraus abzulesen, daß sie über das Natürliche weniger diskutieren als etwa die deutsche Jugendbewegung. So spricht auch die geringere Be rücksichtigung des OekonomischLn in den Intelligenz-Kreisen dafür, daß die Krise noch vor der Tür steht, die bei uns auf- geslogsn ist. .Sie dürfen sich vorläufig in den oberen Prunk gemächern des Geistes aujhalten, während die Geistigen in Deutschland nach unten gezogen werden — wenn sie Geistige sind. D:r Nationalismus, den die „Kation krnn- d-iss" täglich herauSbellt, hat eine eigene Substanz, die ein Deutschvölkischer rächt mehr aufbrächte. Was bei uns, infolge der zugespitzten ökonomischen Situation, als Ideologie längst durchschaut ist, überzeugt drüben, infolge des festeren Unter grunds, als geistiges Manifest. Von den Lettern auf dem Versailler Schloß: toutss las Zloires cks tu Rrsocs" ist das Gold nicht ganz abgegangen. Ernsthafte Menschen, die Daudet einen Narren nennen, streiten sich stundenlang wegen der „Motion krnnguiss", und einer, der sie nicht liebt, be hauptet gar, daß sie das einzig: Blatt für Intellektuelle sei. Auch die Katholiken, die ihr fern, stehen, wenden sich gegen ihre Jndizierung als eine unberechtigte Einmischung des Vatikans in die innere Politik. Das Nationale, selbst in dieser Form, scheint nicht nur Phrase oder der durchlöcherte Deckmantel sür Finanzoperationen, sondern die legitime Aus strahlung des gesamten Bestands an Natur und Kultur. Unter der Voraussetzung eines solchen nicht angetasteten Be stands werden Fragen des Privatlebens und zwischen- schichtlich: Probleme mit bessirem Rechte als bei uns in den Mittelpunkt gerückt. In dem Land der VAwUtG und — nach der Meinung des deutschen Durchschnitts — der Durch- schnittsmeinurMn bringen es die Anfechtungen der einzelnen zur öffentlichen Beachtung; in dem Land der Kierkegaard Schwärmer und der radikalen Protestanten beherrscht die Masse das Feld, Hier, wo in jedem Eichenwald ein Stadion dir Eichen aus einund erklängt (mit denen es sich im übrigen gut versteht) gerät das „moderne" katholische Schrifttum und jede Art von Innendekoration epigonal; drüben ist die.Kon- fefstonS-Literatur mittM in der Gegenwert. Durch die Hülle der Seelenmal-rei und des persönlichen Esprits schimm'rt natürlich das Soziale und Klassenmäßige hindurch, aber ihm ist nicht unmittelbar die Aufmerksamkeit zugekehrt, und es gilt auch nicht die blanke vulgär-marxistische Lehre, daß es sich bei diesen geistigen Gebilden rein um ableitbare Urber- bauten handle. Sie sind Ueberbauten, in der Tat, doch die Gehalte, die sie bergen, dauern in einer gewissen Unabhängig keit von der materiellen Basis; eben der wohlgegliedrrten Menschlichkeit wegen, die mit aus der Natur stammt. Diese Menschlichkeit läßt nicht zu, daß die Prinzipien mächtiger als die Personen werden. Kein Franzose ist fähig, die dogmatische Struktur des deutschen ParteiwessnS zu bcgreisen, und die marxistische Dialektik etwa macht nicht nur aus dialektischen Gründen vor dem französischen Bewußtsein Halt. (Ein fran zösischer Gewerkschafter, der vor einiger Zeit zu Besuch in Deutschland weilte, traf mich mit einem Band Marx in der Hand. Es war, als hätte er mich Lei einem Verbrechen über rascht, „Nur nicht immer diese Theorie," sagte er, „auf das Leben kommt es an, junger Freund.") Aus dem Gebiet der Politik selbst ist die Politik noch eingewickelt. Der Glanz des Redners breitet sich strahlend über die kahle Affäre, und ein Jchweißnichtwas hüllt alle Akten in durchsichtig: Porte feuilles (das „Lasterlorrelat" ist der Schlendrian bei Be- hördm). Nirgends ist das menschliche Milchprodukt ganz ent- substantialisiert. Daher an der Oberfläche — aber die Ober fläche ist wesentlich — die Skala der Uebergänge von dem Lumpenproletariat zu den Arbeitern, dem geringen Mittel stand und d:m Großbürgertum. Austern sind eine Volksspeise, und in den Theatern der Faubourgs, in denen der teuerste Platz fünf Francs kostet, treten Komiker auf, die jede Familie in Passy entzückten. Eine dünne Schicht angestammter und eroberter Humanität deckt die Blößen einstweilen zu. Kleine Gewitter. Wenn das Kleine groß ist und die konservative Haltung etwas Unvergängliches meint, muß die Starrheit immer wieder gelockert werden; geschehe es auch unmerllich sür die j an Revolutionen gewöhnten Augen. Das Ungeziefer nagt in der Tat an den Gerüsten der Hierarchie. Ein alter, sehr be kannter Professor erinnert: mich mit der Versicherung, deß die Nachkrieg.Sgenera.tion nichts mehr von ihm wisse» wolle, an seine beklagenswerten deutschen Leidensge fährten. Freilich sind seine Empfindungen, mit uns reu Matzen ^messen, vermutlich üLertrubsn, den» im großen und ganzen werden die Kämpfe doch noch auf einer gemeinsamen Plattform geführt. Es brauen, sich an verschiedenen Ecke» kleine Gewitterchen zusammen. Harmlose Radikale ziehen im Zeichen — Hölderlins.gegen die verführerischen Perioden und di: künstliche Armut der Sprache zu Feld. Proust hat mit jener Skepsis, die selber ein französisches Erbe ist, die Herr-