1. Mai in Jerlin. Zwischen Neukölln und Lustgarten/ Vor dem Abmarsch. Früh gegen 8.30 Uhram Hermannplatz m Neukölln. Ein strah lender Morgen; so Leglänzte das Kaiserwetter vor dem Krieg die großen Paraden^ In der Nähe eines der kommunistischen Ver sammlungsorte bilden sich Zerstreute Gruppen, die ernstweilen un tätig herumstehm. Viele Leute aus der Kriegsgeneration. Sie! haben noch die alten Militärgesichter, die jetzt nur zu anderen Zwecken verwändt werden. Ein Mann verkauft für zehn Pfennige proletarische . Maiblumen, rote Blumen aus Papier, die in jedem 'Knopfloch glühen. Blitzblanke Schupomannschaft rollt an, steigt ab, , verteilt sich. Immer Zwei und zwei, mit neutralem Ausdruck. Fest steht und treu die Polizei, während ein Propagandawagen der Roten Hilfe vorbeifLhrt und die Begrüßung Rotfront ertönt. Alles wartet, der Sonnenschein wirkt wie ein Bürgschein für den friedlichen Verlauf. Daß es an so schönen Tagen je zu grimmigen Schlachten kam, ist schlechterdings nicht zu begreifen. / .De^ Um A.36 Uhr etwa beginnt sich der kommunistische Demon strationszug zu entwickeln. Sie marschieren mit ihren Musikkapellen m emZelnen Abteilungen hintereinander, die Steinträger, die Rohrleger, die Erwerbslosen, die Angehörigen, der verschiedenen Betriebszellen, die Melker, die Sportler und Sportlerinnen im leichten, bunten Badekostüm. (Nicht durchweg sieht die Nacktheit gut aus, wie revolutionär immer sie gemeint sein mag.) Rüstig schreiten Frauen in Reih und Glied, deren Züge verarbeitet sind, und ein Kindertrupp fordert die Freiheit der Lehrmittel, von der er noch nichts versteht. Ueberall folgen blaue Uniformen, rechts, links und von Zeit zu Zeit auf Lastautos mittendrein. Sie ver körpern Ne bestehende Ordnung, die von den Demonstranten be kämpft wird. Aber beide Parteien haben gewissermaßen einen Wafsenfried^n miteinander abge^ und arbeiten Hand in Hand. Der Protest gegen die Ordnung ist von dieser geregelt. Sie marschieren und marschieren. Sie haben nicht den strammen militärischen Schritt, sondern einen festen, schweren, der durch seine Ruhe wirkt. Eine Straße nach der andern tut sich vor ihnen auf, immer neue Straßen mit immer denselben Mietshausfronten. Aber wo der Zug eindringt, erweckt er die toten Fassaden zum Leben. Er dröhnt, tönt, singt und ruft, und die Angestellten in denBüros lassen ihre Arbeit sein, und alle Leute blicken zum /Fenster heraus. Im zweiten Stock eines Hauses strampelt gar ein kommunistisches Baby, von der Mutter gehalten, vor Entzücken mit Beinen und Händen. - Rot ist die Farbe des Zuges. Radier haben ihre Vorder- und Hinterräder rot dekoriert, und oberhM der endlosen Prozession wallen die roten Banner so dicht, daß man über sie -hinwegschreiten könnte. Ein einziges rotes Gewoge, das die grauen Hauswände beiseite drängt und wundervoll mit dem grünen Laub kontrastiert. Es ist beschriftet, marxistische Sentenzen und Proklamationen heben sich schreiend ppm roten Untergrund ab. Der Siebenstundentag wird verlangt und andere, noch einschneidendere Wünsche werden laut, das Bild Lenins schwebt wie das eines Heiligen voran, oder es "finden sich auf den wehenden Draperien auch Texte wie dieser: „Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser und Tribun". Parolen, die sich von der Metaphysik bis zur Tageslosung erstrecken. Sie sind oft nicht ohne Witz hingemalt und ausgeschmückt, dem Erfindungsgeist der Gruppen ist Spielraum gelassen worden. Im Lustgarten. Kurz vor Ml Uhr. Man kann sich ohne jede Schwierigkeit und Ausweis dem Schauplatz der Demonstration nähern, die Poli zisten halten sich diskret zurück oder haben eine Tarnkappe auf. (Sie werden schon dort sein, wo ds nötig ist.) Rechts droht das Schloß und hinten steigt die Marmorkulisse des Domes auf, ein wilhelminischer Restbestand, dessen Hohlheit bereits so offen zu Tage getreten ist, daß er sticht zur leisesten Geste den Empörung mehr aufreizt. Es denkt auch niemand daran, sich, zu empören. Die Menge, die auf . der Riesenfläche ZusamMmströmt, scheint sich zu einem Volksfest vereinigt zuch und Speiseeis wer ¬ den feilgeboten, saure Gurken in Wascheimern herbeigeschleppt, kommunistische Flugblätter und Zeitungen an den Mann gebracht. Die Züge, die wie aus Neukölln so aus dem Wedding eintrefsen, machen bei klingendem Spiel ihre Evolutionen. In dem Schauge pränge fällt unter anderem auf: das hölzerne Modell eines Traktors, das den Fünfjahresplan darstellen soll, und ein gewaltiger Schüpv- helm, der die Inschrift: „Republikschutzgesetz" trägt. Es fehlt nicht an Jnvektwen gegen die Sozialdemokratie. Mittlerweile haben scheinbar die Reden begonnen, doch man kann aus der Ferne nichts hören. Von ihrem Inhalt Wngt auch vermutlich nicht so viel ah. Ein Kameramann kurbelt auf einer rot ausgeschlagmen Plattform den ganzen 1. Mai. - Ueb er Mittag» Es ist heiß geworden. Ein Paar Meter weit vorn.Lustgarten entfernt, und man ist/durch Welten vom Weltfeiertag geschieden. Vor der Universität gibt es den Weltfeiertag einfach nicht. Die Studenten stehen korporationsweise beisammen. Sie haben Schmisse wie vor hundert Jahren, ste lebm unter einer Glasglocke wie nie zuvor, und tragen noch immer ihre bunten Mützen und Bänder, damit man sie ja nicht für gewöhnliche junge Leute hält wie die auf der Straße. Unter den Linden: die Autos rollen, die Cafes sind besucht,.dtt Heschäfte haben geöffnet. Alles wie sonst, der Be trieb geht weiter, ein unergründliches Nebeneinander. Später auf dem Hausvogteiplatz. Hier harrt eine größere . sozialdemokratische Gruppe, zum Start nach dem Lustgarten bereit. Sie kommt an die Reihe, wenn die Kommunisten dort das Feld geräumt haben. Dank der Organisationskunst der Behörden, die sich ebensogut schon vor einem Jahr hätte bewähren können, ist dafür gesorgt, daß. sich -die feindlichen. Züge weder Zeitlich noch räumlich begegnen. Welch eine Ordnung; auch die Krieger der Zukunft wüßten sich so behutsam ausweichen. Die SoZialdemokraten führen ebenfalls rote Fahnsn mit sich, sehen aber dennoch weniger revolutionär aus, ein Eindruck, der durch die beigemengte Reichsbannerkompanie verstärkt wird. Es herrscht hier gleichsam ein offizieller Ton, man hat Teil an der Macht im Staat und weitz daß man sie hat. Manche sind besser gekleidet, die Reichsbannergemeinen grüßen ihre Vorgesetzten halb militärisch, und unverkennbar ist eine schwache Spur von klein bürgerlichem Komfort. Auf einer der Fahnen flattert der Spruch: „Einigkeit macht swrk". Er we^ den Kom ¬ munisten im Wind. Rückkehr. Zwischen 1 und 2 wieder in Neukölln, zur gleichen Zeit mit den Heimkehrern vom Lustgarten. Sie nahen von neuem, die Steinträger, die Betriebszellen, die Badekostüme. Sind sie müde vom langen Weg, vom Marsch in den Kolonnen? Sie scheinen jetzt, da die Haupt- und Staatsaktion vorüber ist, sich frischer und freier zu fühlen. Zwar, die Ordnung wird gewahrt wie zuvor, aber die Fäuste ballen sich häufiger zum Gruß und in einem fort erschallen, Responsalien gleich, die Bekräftigungen: Hoch, Nieder, Wir. Zuletzt lösen sich dii Züge auf, denn gegessen muß unter allen Umständen werden. Am Nachmittag finden Festveranstaltungen statt. Die Kom munisten versammeln sich in Kliem's Sälen, die Sozialdemokraten gegenüber in der Neuen Welt. Hier und dort füllen Frauen und Männer mit der proletarischen-Maiblume die Räume; aber wird dort der „Kampfmai" begangen, so hier die „Maifeier". Ein feiner Wortunterschied. Er kennzeichnet den Riß, der sich durch unsere gesellschaftliche MMchM zieht. T S. Kracauer.