durft den unbedingten Vorzug. Aber sie ist ihrer Vorläufigkett wegen mit Trauer umgeben, und daß in einer ihrem Zugriff entzogenen Sphäre individuellere Ansprüche nach wie immer fragwürdigen Grundsätzen befriedigt werden dürfen, verleiht ihr mitunter den Schein der Inhumanität und mehrt noch die Trauer um sie. Ein schlechter Individualismus drückt auf die gute Grobheit, die den Einzelnen vernachlässigen muß. Nur mit der Masse selber kann eine Gerechtigkeit nach oben steigen, die wirklich gerecht ist. „Im Interesse eines reibungslosen Verkehrs ist den Anordnungen des Pförtners bedingungslos Folge zu leisten." Dieses Reglement am Hofeingang eines Geschaftshauskomplexes ist dem im Hinter grund befindlichen Arbeitsnachweise vorangeschickt wie die Ein leitung eines Buches seinem eigentlichen Text. Was das auf Massen- Wirkung berechnete Schild verheißt, die Plakate im Rauminnern führen es weitschweifig aus. Sie beziehen sich auf die elementaren Lebensbedürfnisse, die den Massen der Erwerbslosen von rechts wegen zukommen. Aus wer weiß wie triftigen baupolizeilichen Gründen oder auch solchen des Wohlanstands wird ihnen das Rau chen immer wieder verboten, aus noch triftigeren Gründen rauchen sie dennoch und aus den triftigsten drückt das Aufstchtspersonal beide Augen zu. Neben dem Rauchtrieb gibt es noch Hunger und Liebe Jenen können die Metallarbeiter gleich im Arbeitsnachweis selber stillen. In der einen Ecke ist eine Kantine aufgebaut^ die als Hauptgetränk Milch feilbietet. Milch ist gesund, aber wie genießt man sie? „Nie ohne etwas zu essen", verkündet ein sichtbar unge ordneter Schriftsatz. „Ein Glas Milch, auf einmal in den leeren Magen gebracht, bildet dort einen schwer verdaulichen Käse klumpen." Belegte Stullen, die mithin eine Grundvoraussetzung ge sunder Milch sind, häufen sich dicht nebenan auf dem Büfett Die Bil der von dem Käseklumpen und dem leeren Magen beweisen drastisch, daß die Menschen in diesen Räumen so nackt und bloß dastehen wie die Wände, ein Objekt der Hygiene, die sich freilich durch ihre plumpe Direktheit manche Möglichkeiten verscherzt. Keine Aura hüllt gnädig das Körperliche ein, die Körper treten vielmehr ohne Be schönigung ins grelle Licht der Öffentlichkeit, und die dazugehöri gen Menschen sind nur noch Systeme, die bei Zufuhr von Milch nach vorangegangenem Essen schon funktionieren werden. In den Hinter häusern der Gesellschaft hängen, Wäschestücken gleich, die mensch lichen Eingeweide heraus. Ihnen gelten auch die Plakate, die sich über Geschlechtskrankheiten und Geburtenregelung verbreiten. Daß die elementaren Lebensereignisse resolut angepackt werden, ist in der Ordnung und entspricht durchaus dem Walten der primitiven Gerechtigkeit. Aber wie das Warten im Arbeitsnachweis keine Er füllung findet, es sei denn durch die blinde Laune des Produk tionsprozesses, so ist auch das elementare Dasein hier nicht einges baut und umfangen. Es starrt ins Leere, ohne vom Bewußtsein ausgenommen zu werden und seinen Platz zu erhalten. Offenbar aus dem Bedürfnis heraus, es ein wenig zu besonnen, hat man die Mauern ab und zu mit Buntdrucken geschmückt. Unterbrechen Land schaften die Oede oder künstlerische Porträts? Ganz und gar nicht, sondern Bilder, die der Unfallverhütung gewidmet sind. „Denk an deine Mutter", steht unter dem einen, das wie die übrigen vor den Gefahren warnt, denen die Arbeiter im Verkehr mit den Maschinen ausgesetzt sind. Wunderbar genug: die paar Illustrationen ünfreund- licher Vorgänge schimmern freundlich über den Köpfen. Nichts kennzeichnet aber die Beschaffenheit des Raumes mehr, als daß in ihm sogar Unfallbilder zu Ansichtskartengrüßen aus der glücklichen Oberwelt der Tariflöhne werden. Könnten die Erwerbslosen aus dem Arbeitsnachweis unmittelbar dorthin gelangen, so erübrigte sich vermutlich das Plakat: „Unnötiger Aufenthalt auf den Treppen nicht gestattet", das eine Zierde sämtlicher Treppenhäuser ist. Es klingt wie ein Nachwort zu der Sammlung von Texten, die durch das Schild am Hoseingang eingeleitet warten. Vechältn^ damit, zu SNcklich vernachlässigt werden da? k der Stellen äugen- d zu - rm A Senlbsgtzw L eck t .a u Ic l h k habe beoba»? >, das Warten beinahe stumpst, um an ihre Auserwäkltbeit s, Ed zu abge. Burschen und ältere Leute i/d cken Klü! J«g sie ohne Beschäftigung allaeme?? ? . "nd schützen -der den Hut ^gentum. Daß sie die Mütze Freiheitswillens sein. Nur im ^waches Zeichen des demoralisierend wÄrk Um ganz davon avzuschen, daß ihr in diesen Zeiten der Stagnation das Ziel fehlt: es fehlt ihr vor allem der Glanz. Weder ist der Empörung gestattet, hier laut zu werden, noch erhält der ausgezwungene Müßiggang irgendeine andere Weihe. Im Gegenteil, das Nichtstun vollzieht sich durchaus im Schatten und muß auf den gesellschaftlichen Adelstitel ver zichten, der ihm gebührte. Und doch wäre viel zu überglänzen,! denn die Armut ist immerwährend ihrem eigenen Anblick aus gesetzt. Bald macht sie sich breit mit sichtbaren Flicken und Lappen,, bald zieht sie sich bürgerlich-schamhaft ins Verborgene zurück. Bei einem besser gekleideten Schneider etwa hat sie sich als letzten Schlupfwinkel die Manschetten des Hemdes ausersehen. Gelingt es ihr an der einen Stelle, sich zu bedecken, so schlägt sie an der anderen um so sicherer nach außen durch. Die Körper sind häufig ungepflegt, und ein stickiger Dunst schwelt in den Sälen. So dem unverklärten Beieinander preisgegeben, wird den Leuten das Warten zur doppelten Last. Auf jede mögliche Weise suchen sie! sich die sinnlose Zeit zu vertreiben, aber wohin sie auch treiben, die Sinnlosigkeit folgt ihnen nach. Sie schlüpfen in Gespräche hinein, die vom Warten ablenken sollen und vor seinem unend lichen Hintergrund zuletzt doch vergehen. Sie spielen Mühle, Schach und Karten, lauter Glücksspiele, die nur Spielereien des Unglücks sind, weil die hier zum Schicksal emporgesteigerte Not den Durch bruch des Glücks verwehrt. Die Aelteren freunden sich vielleicht mit dem Warten wie mit einem Genossen anp für die jugendlichen Er werbslosen dagegen ist es ein Giftstoff, der sie langsam durch- dringt. Ich bin Zeuge folgenden Gesprächs. Ein Mann beschwert sich Leim Beamten: „Nun bin ich ein Jahr ohne Arbeit und habe die Stelle doch nicht bekommen." — „Aber der andere ist schon andert halb Jahre arbeitslos," wird ihm erwidert. Ein Bescheid von bün ¬ diger Klarheit, der auf Grund der Bestimmung erfolgt, daß sich bei gleicher Eignung die Vermittlung nach der Dauer der Arbeitslosig keit zu richten habe. StellenanwLrter können in manchen Berufen nur berücksichtigt werden, wenn sie über eine gewisse Zeit hinaus freigesetzt sind. Die primitive Gerechtigkeit, die in den Nachweisen regiert, ist auf Massen gemünzt, und auch der Arbeitslose ist ein Partikel der Masse. Daß Massen ein und aus gehen, drückt den VermittlungssLlen den Stempel auf. Immer wieder erleben diese Wände, diese Tragstützen das Schauspiel, daß sich vor den Schaltern endlose Schlangen bilden, daß lose Gruppen zusammenströmen und zerrieseln, daß sich um den Mittelpunkt eines Sprechers ein regel mäßiger Menschenhaufen kristallisiert. Wo solche Massenmuster sich regen, kann die Gerechtigkeit nichts weiter unternehmen, als die Massen zu mustern. Sie muß Quantitäten abwägen, Zeit- und Raummaße werden ihr zur Richtschnur. So ist es gut, und niemand trüge einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge, ware-diese Welt der Masse die einzige. Zu ihrem Schaden ist sie es nicht. Man erklärt mir im Arbeitsnachweis für Chauffeure: Gewiß, je länger einer arbeitslos ist, desto eher wird er vermittelt. Aber die Be sitzer wertvoller Autos vertrauen ihre Wagen nicht gern einem Chauffeur an, der Monate hindurch gefeiert hat, sondern fordern gewöhnlich einen Mann, der möglichst kurze Zeit ohne Tätigkeit gewesen ist. Da müssen wir eben nachgeben und gegen unsere Prin zipien handeln «« . Die Gerechtigkeit in den Niederungen wird so von einem Akt der Willkür durchkreuzt, der freilich alles andere eher als pure Willkür ist. Er fährt in die Unterschicht wie ein Blitz aus dem heiteren Himmel der oberen Schichten. In ihnen ! herrscht statt der Masse der Einzelne, und ihm könnte eine Gerechtig keit angepatzt sein, die je nach den Umständen sich umständlich ent schiede, eine, die genauer wäre als die primitive. Ein jeder weiß, daß und warum sie dort oben faktisch nicht in Kraft ist, und im Vergleich mit ihrem Zerrbild verdient sicher die barbarische der Not