bald das Portal geöffnet wird, in eine Schar von Sklaven verwandelt. Die Aufseher sind strenge Gebieter, die ihre Schutzbefohlenen treppauf und treppab jagen, durch ein Steindickicht aufs Dach. Manchmal halten sie Appell ab und geben Erklärungen, nach denen die Architektur aus Jahrhun derten stammt, ich weiß nicht, aus welchen. Die Leute staunen über die Jahrhunderte, die sie nicht kennen. Schöner als der Kreuzgang, dessen Bedeutung durch seine Schwüle beeinträch tigt wird, sind ein paar Säle, in denen es wenigstens kühl ist. Wo immer sich ein Blick aufs Meer oder das Hinterland bietet, muß er genossen werden. Sie kommen hierher, um sich über den Mont-St.-Michel zu vergewissern, und betrachten von ihm aus wieder die Gegenden, aus denen sie kommen. Nur dort, wo sie sind, wollen sie niemals sein. Einige, die gar nichts sehen, haben sogar Feldstecher bei sich. Die Führerbegabung der Aufseher zeigt sich besonders deutlich am Ende, wenn es gilt, die Gefangenen so aus dem Portal herauszulassen, daß die Nachzügler des neuen Schubs nicht die Gelegenheit erhalten, ins Innere zu schlüpfen. Nichts einfacher als das. Der Türwächter wirft sich mit der.ganzen Gewalt seines Kör pers gegen das Portal, durch das die Besichtiger abziehen sollen. Da er nicht mitbesichtigt hat, ist er stärker als sie, und so geschieht es, daß sich immer nur die eine oder andere Person den Ausgang erzwingen kann. Sie darf zufrieden sein, wenn sie nicht zerquetscht draußen landet. Die Hitze ist weiter angewachsen. Der Autobus fährt erst nach einer Stunde im lokalen Interesse der Lokale. Ein schöner Tag, sagt mein Hotelportier nach der Rückkunft. Vielleicht ist dsr Besuch des Mont-St.-Michel bei bedecktem Himmel vorzuziehen. Ich meinesteils begnüge mich fortan mit Ansichtskarten, Farbdrucken und Photos. High-LLfe. Die Nachmittage sind dem eleganten Dinard geweiht. Das Motorboot trägt in zehn Minuten hinüber. Meistens fährt es an einem Wasserflugzeug vorbei, das von früh bis spät immer die gleichen Bogen beschreibt und sich dann wieder auf.dem Wasser niederläßt. Uebrigens scheinen sich die Vögel schon genau so an die Aeroplane gewöhnt zu haben wie die Haus und Stcaßentiere an Autos. Dinard hat drei Casinos, deren eines sich ausdrücklich High-Life-Casino nennt. Das High-Life ist bunt. Von meinem Beobachtungspysten aus, einer entzückenden Konditorei an der Hauptstraße ,verfolge ich das Defilee der Phjamas, die sich durch ihre Farbenpracht gegenseitig zu übertrumpfen suchen. Sie sind bald indianisch zugeschnitten, bald chinesisch - eine Maskerade bei hellichtem Tag. Erst unterdrückt man die Volker, dann schmückt man sich mit ihren Kostümen, um Reize zu entfalten, die man nicht hat. Nur gut, daß es die Seebäder gibt. Die Männer sind noch eitler als die Frauen. Ist bei diesen die Eitelkeit ein Kriegsmittel, so bei jenen ein Bedürf nis. Sie tragen weiße Hosen, kunstgewerbliche Sweater und Baskenmützen und werfen in einemfort selbstgefällige Blicke, die oft genug ziellos sind und dazu dienen, andre Blicke auf sich zu lenken. Der Strand ist so groß, daß er ein weitschweifiges Strandleben ermöglicht. Es ist mondäner als das in Si Malo und spielt sich vor langen Reihen grüner Badekabinen ab, die zum Rollen eingerichtet sind und an eine Lauben kolonie gemahnen. Von der Estrade aus gleicht das Gewim mel dem von Pinguinen in der Filmwochenschau; nur daß die Pinguine weiser sind als die Menschen. Außer den Kin dern treiben sich vor allem junge Leute im Sand herum. Franzosen, Engländer, Amerikaner —° es ist eine merkwürdige Generation, die sich da sonnt und sozusagen ertüchtigt. Sie ist trainiert, technisch gewandt und gesund. Aber ihre Gesund heit ist von einer Art, daß sie Angst erregt, und man wird das Gefühl nicht los, daß jedes von diesen jungen Mädchen und Männern gelenkte Auto mehr Empfindung hat als sie selber. Man merkt ihnen nicht an, daß Krieg gewesen ist, und nirgends haftet an ihrer Erscheinung etwas von der ent setzlichen Not in der Welt. Das eben ruft jene Angst hervor: daß man ihnen nichts anmerkt. Es sei denn, daß sie leben. Und ich weiß noch nicht einmal, ob sie gern leben. An den Strand schließt sich ein bewaldeter Villenhügel an, um den sich, dicht überm Meer, ein herrlicher Spazierweg hinzieht. Zu ihm schimmert aus der Ferne St. Malo herüber: ein weißes Steinphantom, das in der Bläue von Wasser und Himmel schwebt. Zu Schiff nach England. Wenn gerade Flut ist, liegt abends das Schiff nach Southampton abfahrbereit im Hafen vonSt. Malo. „Dinard", „Rouen", „Wera" heißen die Kästen. Sie sehen etwas unförmig aus, weil sie in zwei getrennte Decks zerfallen, zwischen denen sich in der Tiefe der Laderaum öffnet. Dort unten Hausen bei den Koffern die Autos, in dicken Knäueln drängen sich die englischen Touristen über den Schisfssteg; ohne daß darum das: ,/WIiut", das: „I tüLuk 80" und das: äou't tüink so" in St. Malo abnähme. Offenbar werden die Rei senden nach ihrer Ankunft in England sofort wieder heimlich Zurückgebracht. Stumm lehnen sie am Geländer und starren ! auf den Kai nieder. Ein ältliches Mädchen küßt noch einmal Mr Berlin, im September. Die Kriminalstücke, die in der Endzeit des stummen Films von der Leinwand verschwunden waren, sind mit der Herauf- kunft des Tonfilms wieder in Mode gekommen. Ich möchte mich nicht in Spekulationen über die Gründe dieser Renaissance ver lieren. Immerhin ist interessant, daß die Gattung, die einst durch Reichers Stuart Webbs-Filme nicht schlecht vertreten war, gerade jetzt von neuem auf der Btldfläche erscheint. Man Hat den Ein druck, als ob die Sensation heute erst beim echten Pistolenschuß begönne und viel« Worte gemacht werden müßten, um das Publikum in Spannung zu halten. Wenn die unbestreitbare Zug kraft der tönenden Kriminalstücke aber wirklich diesem billigen Naturalismus zu danken ist, so bedeutet das nichts anderes, als daß die Nerven in erschreckendem Maße abgestumpft und dem entsprechend auch die Ansprüche gesunken sind. Knalleffekte sind gegenwärtig nur Effekte, die tatsächlich knallen. Eine Feststellung, die durch die in diesen Tagen angelaufenen Filme bestätigt wird. Richard Eichbevg zeigt im Ufa-Palast am Zoo -m Krtminalstück: „Der Greifer", in dem, frei nach Wallace, ein begabter Detektiv eine Verbrecherbando zur Strecke bringt. Legte sich nicht Hans Mers mit seiner forschen Natur als Detek tiv ungeniert ins Zeug, so wäre der etwas konfus angelegte Film keiner ausdrücklichen Erwähnung wert. Noch weniger verdient die in einem anderen Ufatheater herausgekommene Kriminalkomödie: „V a Banque", baß von ihr Notiz genommen wird. Sie will eine Komödie sein und ist ein witzloses Erzeugnis, das auch durch die Mitwirkung LU Dagovers nicht lustiger wird. Warum ich dennoch solcher Machwerke gedenke? Weil sie zur Zeit Konjunktur sind unÄ werk sich gerade in diesen Kriminalstücken die falsche Tendenz der augenblicklichen Tonfilmproduktion besonders drastisch enthüllt. Sie setzen ihren Ehrgeiz darein, hunderprozentig zu sein und durch «ine möglichst getreue Kopie wirklicher Vor gänge Erregung, Gruseln und Aeberraschung hervorzurufen. Aber in demselben Maße, in dem sie das reale Leben zu reproduzieren suchen, verzichten sie darauf, die Mittel anznwenden, die dem stummen Film einst zu Gebote standen. Sie lassen Schreie ertönen und verschleppen die Handlung; sie nehmen Dialoge aus und zeigen Bilder, die gar keiner Worte bedürften. Nicht umsonst wirken die atzten Kriminalstücke so tolpatschig und langsam, und der stumme Stuart WebbS war zweifellos viel gewandter als alle seine Kolle gen, denen nunmehr die Sprache gegönnt ist. Wenn es so weiter geht, entartet der Tonfilm zur puren Imitation, an der die Freude nur kurz währt. Er sollte lieber danach trachten, gleich dem stummen Wm jenes Leben umzugestalten, das sein Borwurf ist. einen jungen französischen Burschen, ehe es sich zum Schrff beoibt. Dann blickt es ihn zärtlich an und lutscht unausgesetzt Bonbons, um sick (und ihm) den Abschied zu versüßen Zwei Bretonen singen Weisen, die traurig wie Warfen sind, und ernten zum Dank die letzten Sous, die vom Deck aufs Pflaster klatschen. Die Lieder werden vom Geschrer der Algerier uver- tönt, die aus der wehmütigen Stimmung der Engländer chren Nutzen ziehen möchten. Sie halten ihre Teppiche und Pen- schnüre hoch — ein kleiner Orient mit Gefeilsche, das kunst voll weitergetrieben wird und allmählich verebbt. Ueber den roten Fezen funkeln die Sterne und an den Masten zwer Lichter. Das Schiffsseil wird in ein Boot geworfen, das mit der Last ans andre Ufer gleitet. Schon löst sich die riesige Masse des Dampfers vom Land. Sie treibt der Hafenmitte zu und wen det sich hier überdeutlich und langsam. Immer noch stehen die Engländer nebeneinander am Geländer und schauen aus die Rampe zurück. Eines Tages werde auch ich heimfahren. Vielleicht hangt dann in meinem Bilderrahmengeschäft beim Kurfürftendamm ein anderes Gemälde: Vor einem blutroten Horizont sticht ein > Ozeandampfer in See, auf dem sich zahllose Meerstreicher uber die Brüstung lehnen. Aber sie blicken nicht auf den Betrachter, sondern kehren ihm und der Küste unnachsichtig den Rucken zu. S. Krakauer.