Ein Zeichen der Jllusionslosigkeit, mit der die Sowjetregierung das Mögliche in Angriff nimmt, statt sofort Zielen nachznjagen, die noch nicht durchaus spruchreif sind, ist das Nebeneinander dreier verschiedener Wohntypen. Der erste ist das JndividualhauS im Wert bis zu 10000 Rubel, das vielfach vorherrscht, obwohl es keineswegs dem Streben nach Kollektivisierung entspricht. Der Zweite ist das K.ollektiv Haus, das Gruppenküchen enthalt, die eine Unterbringung pon Küchen in den Wohnungen selber überflüssig machen. Der dritte, das Kommunehaus, ist der radikalste. Ein solches Haus beherbergt 400 lis 800 Menschen, deren jedem 6 bis 9 Quadratmeter Zustehen —- eine erschreckend geringe Fläche, die aber angesichts des gegenwärtigen Wohnungs mangels und der Verhältnisse im Zaristischen Rußland in vielen Distrikten immer noch einen Zuwachs an persönlichem Lebens spielraum bedeutet. Abgesehen von den Zimmern ist allen Mit gliedern der Kommune alles gemeinsam: der Speisesaal, der Klubraum, die Krippe, der Kindergarten. Die schulpflichtigen Kin der kommen ins Schulrnternat. Er versteht sich von selbst, daß man im Einklang mit der politischen Kollektivisierung den Pro zentsatz der Kommunehauser Zu erhöhen hofft. Der Ausführung der nach diesen Gesichtspunkten projektierten Städte stehen zahlreiche ernste Schwierigkeiten entgegen. Kann die deutsche Industrie ihre Arbeiter nicht beschäftigen, so fehlt es in Rußland an Arbeitskräften für die primitivsten Verrichtungen. Dis Bevölkerung weiter Landstriche befindet sich noch in völlig unzivili- siertem Zustand. Der Mangel an Transportwegen hindert vor allem die rasche Erschließung der asiatischen Gebiete. Nicht Zuletzt muß der Tatsache Rechnung getragen werden, daß die Baustoffindustrie ungenügend entwickelt ist. Kalkuliert man diese Hemmnisse ein, so ist das Arbeitstempo heroisch Zu nennen. Bis Zum 31. Dezember wird May 700 000 Menschen angesiedelt haben. Er realisiert den Aufbau in „SLoßaktionen" und nimmt Zuflucht zu rücksichtsloser Lypisierung und Standardisierung. 4- Das Publikum, das Zum Teil aus Fachleuten bestand, folgte mit angespannter Aufmerksamkeit dem durch Lichtbilder unterstütz ten Vortrag, der wirklich einen Begriff von den Gedanken-- und Arbeitsprozessen im heutigen Rußland vermittelte. Mochte er im merhin bestätigen, daß manche dort gemachten Anstrengungen der anders gearteten Vorbedingungen wegen auf europäische Verhält nisse nicht Zu übertragen sind, so Zeigte er doch nicht minder deutlich, daß der ungeheure russische Systementwurf Zu haltbaren Kon struktionen fuhrt. S. Kracauer. IHrt im Sonderzug. Besuch der Reichsbahn-Zentralschule Brandenburg-West. Berlin, im Juni. Der Zug. Im Vormittagsfrieden des Potsdamer Bahnhofs ruht der Sonderzug. Noch hübscher wäre es, wenn er vom Anhalter abginge, weil er dort im Reisetrubel mehr ausfiele. Aber man kann nicht alles zugleich haben. Schon als Kind habe ich mich danach gesehnt, einmal in einem Sonderzug fahren zu dürfen. Solche Züge spielen mitunter in Detektivromanen eine Rolle: ein amerikanischer Milliardär mietet sich etwa an einer kleinen Station einen Sonderzug, besteigt ihn mutterseelenallein und trifft ermordet in London ein. Der im Potsdamer Bahnhof dient allerdings weniger verbrecherischen Zwecken. Er ist von der Reichsbahndirektion Berlin zusammengestellt worden und soll die Vertreter der Presse zur Reichsbahn-Zentralschule Brandenburg-West bringen. Leider liegt sie nur eine Stunde Bahnfahrt von Berlin entfernt. Die Organisation dieser Studienreise ist bereits ein Wunder der Technik. Jeder Teilnehmer erhält einen graphischen Fahrplan, aus dem er ersehen mag, um welche Zeit ihm welche Züge während der Hin- und Rückfahrt begegnen; er wird einer bestimmten Be sichtigungsgruppe zugewiesen, ehe noch etwas zu besichtigen ist; er erfährt zu seiner Beruhigung, daß die Lokomotive 31 cdrn Wasser faßt — kurzum, für die Dauer von 5 Stunden und 46 Minuten ist er unverrückbar eingegliedert und untergebracht. Eigentlich brauchte er gar nicht mitzureisen, denn die Dispositionen sind so genau festgelegt, daß er die Fahrt gewissermaßen vor ihrem Antritt gemacht hat. Der Sonderzug selber besteht aus zwei modernen D-Zug wagen I. und II. Klasse, einem Eilzugwagen neuer Bauart, in dem nan sehr bequem eilen kann, und zwei Unterrichtswagen. Diese der fortlaufenden Instruktion des Personals dienenden Wagen werden von Wanderlehrern bewohnt, die wie Zirkusbesitzer durchs Land reisen, an allen möglichen Stationen Station machen und sich nach Erledigung ihrer Pflichten wieder an einen Zug anhängen lassen. Auf dem Bahnsteig verwandelt sich das. gehobene Gefühl, einen Sonderzug zu benutzen, geradezu in einen Höhenrausch. Dank der Zuvorkommenkeit der Schaffner, die keine Billette knip sen, sondern zum Empfang salutieren. Sie müssen — aus Gründen, die man noch kennen lernen wird — außerordentlich kluge Leute sein. 3 0 Perser. Die Reichsbahn-Zentralschule, vor deren Hauptportal der Sonderzug hält, ist während des Krieges ein Feuerwerkslabora torium gewesen. Ein behäbiger Gebäudekomplex, der so freundlich arsfleht, daß niemand von selber auf den Gedanken geriete, es sei Munition in ihm hergestellt worden. Aber auch manche Giftgase sollen sich ja ins Gemüt einschmeicheln. Jetzt werden in dem idyl lischen Besitztum, das fern von der Eisenbahn zu liegen scheint, an die es unmittelbar grenzt, sowohl Unterrichtskurse für Dienstan ¬ fänger wie ErgänzungSlehrgänge für untere und mittlere Beamte abgehalten. Mehrere Wochen lang leben die Schüler in der An stalt wie in einer weltabgewandten Akademie. Sie haben nette Zimmer, ein Kasino und modern ausgestattete Schulräume und Laboratorien. In einem Klassenzimmer sind die Bänke sogar mit Stahlbeinen versehen, die sich eisenbahntechnisch krümmen. Reichsbahnbeamte wirken als Lehrer. Einer erzählt nicht ohne Genugtuung von 30 Persern, die hier vor etlicher Zeit ihre Aus bildung genossen. Es seien intelligente, leidenschaftlich veranlagte Jünglinge gewesen. Als sie nach Persien zurückkehrten, um im Betrieb der neu erbauten Eisenbahnen ihrer Heimat tätig zu sein, hätten alle Zeitungen Teherans ihre Verdienste in Wort und Bild ausführlich gefeiert. Einige von ihnen hätten inzwischen schon dicke Bücher über das Eisenbahnwesen im allgemeinen und im besonderen geschrieben. Sicherheit. > Aengstlichen Reisenden wäre die Teilnahme am Unterricht zu empfehlen, da er ihnen bewiese, welches Gewicht die Reichsbahn auf Betriebssicherheit legt. Wie ein Versuch im Lehrstellwerk ver anschaulicht, werden zum Beispiel die Weichen nicht nur gestellt, vielmehr überdies durch schikanöse Maßnahmen in ihrer neuen Lage befestigt. Ein Schülergruppe auf dem Lehrbahnhof übt die Sicherung der freien Strecke. Ist etwa ein Abschnitt unbefahrbar, so wird der Lokomotivführer schon 700 Meter vorher durch Knall signale auf der rechten Schiene davon benachrichtigt, daß er bremsen muß. Nach diesem Blick hinter die Kulissen, werde ich nie mehr die Harmlosigkeit Zurückgewinnen können, mit der ich bisher Eisen bahn fuhr, sondern unterwegs alle Signale beargwöhnen. Nur eines ist mir unerklärlich geblieben: wie bei so vielen Schutzvorrichtungen Eisenbahnunglücke überhaupt möglich sind. Theoretisch sind sie jedenfalls ausgeschlossen. Aber wahrscheinlich spottet die mensch liche Unvollkommenheit auch der vollkommensten Erfindungen, und wie sie Gesetze Übertritt, so überfährt sie manchmal Signale.