Ll Berlin, im Juli. Wann immer ich in der Schule von der Zerstörung einstiger Weltstädte hörte, so schienen mir diese Schreckensereignisse heute unmöglich. Mit einem ungläubigen Staunen las ich auch das Gedicht von Chider, dem ewig jungen, der nach aber fünfhundert Jahren dort, wo früher ein gewaltiges Stadtgebiet sich gedehnt hatte, auf verödetes Land stieß. Wie, diese Bahnhöfe, diese Ge schäftshäuseralleen, diese ganzen endlosen Steinmassen sollten eines Tages nicht mehr bestehen? Ich konnte mir ihre Vergänglichkeit nicht ausmalen, hielt Paris, Berlin und London für unverwüst lich und zweifelte keinen Augenblick daran, daß jene Kriegszüge und Einäscherungen, von denen die Geschichte uns meldet, nur noch wie Sagen heraufrauschen. Obwohl sie vielleicht wirklich nicht wiederkehren, ist mein Zu trauen zum Fortbestand unserer Städte mittlerweile doch ernsthaft erschüttert. Zwar werden sie weder von Geschützen noch von Feuers brünsten bedroht, aber andere, unheimlichere Gegner sind ihnen erwachsen, die ihrer viele inwendig auszuhöhlen beginnen. Gewiß, diese Städte sind fest gegründet, scheinen wie ehedem unversehrt und weichen nirgends zurück. Und dennoch wütet schon das Verder ben in ihnen. Ganze Quartiere siechen dahin, als habe der Tod sie gezeichnet, und verwandeln sich, wenn die Krankheit nicht auf- zuhalten ist, über kurz oder lang- in Siedlungen für Gespenster. Ruinenfelder zwischen Asphaltstraßen — die Geschichte erreicht mit immer neuen, nicht vorauszuahnenden Mitteln ihre alten Effekte. Zur Gräberstätte ist der Berliner Alte Westen geworden. Die Mehrzahl seiner Villen und vornehmen Herrschaftshäuser steht leer und wird sich vermutlich nie mehr bevölkern. Wie Epitaphien reihen sich die Schilder aneinander, auf denen 8- bis 12-Zimmer- wohnungen angepriesen sind, und an die verlassenen Mauern schmiegt sich zärtlich Gebüsch. Ich stelle mir die Raumverschwen dung im Innern dieser Häuser vor, die glänzenden Treppen, die Dielen, die weitgeschweiften Mosaikmuster, die Wintergärten und Säle. Wunderbare Wohnsitze des Reichtums: vor einigen Jahren noch haben sie Wärme ausgestrahlt, die große Welt beherbergt und sich unantastbar oberhalb der kleinen behauptet. Jetzt ist ihr Atem erloschen und kein Gast kommt die Stufen herauf. Beinahe ist es, als wüßten sie selber Bescheid um ihr Los. Müd harren sie in den Sommergärten wie alte Geschöpfe, die schon mit den Bäumen verwachsen sind und nur mehr Erinnerungen bei sich empfangen. Auch weniger eingesessene und minder vornehme Stadtteile werden geräumt. So entfernt sich das Hansaviertel langsam aus der Gegenwart und dünstet bereits einen leichten Modergeruch aus. Es liegt hinter den Stadtbahnwällen wie ein abgestandener Teich und enthält Balköne, Erker, Gesimse und dazwischen viel Grün. Hier haben sich gute Mittelstandsfamilien zu Hause gefühlt und auf die Dauer des Glücks gebaut. Die Wohnungen sind für Nachwuchs berechnet, nicht allzu großartig, aber solid. Ka^ 'm mehren die Zimmerpracht, Stukkaturen schimmern herab, reien täuschen Italien vor, und" eine Loggia holt den herein. Das stirbt nächstens trotz des Kindergequakes; wahrend die ungeheuren Wohnungen in der Kurfürstendammgegend nicht einmal richtig sterben können. Da sie keine Herkunft haben, son dern einfach.für beliebige hochzahlende Mieter pompös errichtet worden sind, hinterlassen sie nach ihrer Preisgabe nicht die ge ringsten Spuren. Uebrig bleiben allenfalls die steilen Marmor- Lreppenläufe, die wie Dekorationen im Nichts endigen. -i b L i Um M Mittagsstunde stehen die Menschen vor einer Filiale der Danatbank. Sie staunen das majestätische Portal an, dessen wuchtige Quadern die Tür aus Milchglasscheiben umrahmen, und versenken sich wieder und wieder in den bekannten Anschlag, der die Tür außer Tätigkeit setzt. Warum sie hier stehen, wüßte ver mutlich niemand von ihnen zu sagen. Ich nehme an, daß sie die metkwürdige Tatsache der geschlossenen Tür sich einprägen wollen. Jahrelang ist man durch sie hindurch gegangen, als sei sie gar nicht vorhanden, hat unnachdenklich Geldsummen eingezahlt und abge hoben, und nun ist sie gegen jede Erwartung zum unüberwind lichen Hindernis geworden und bietet den Beschauern ihre schön geschliffene Außenseite dar, die zweifellos dem Schöpfergeist eines Kunstarchitekten entstammt. Immer neue Gruppen bilden sich vor dem Portal, unwiderstehlich angezogen von dieser Stätte, an der sich die unsichtbare Katastrophe sichtbar verkörpert. Sie sind dem Ort wie durch Magie verfallen, stehen still mit der Zeit und harren auf ein Wunder. Aber die Tür öffnet sich nicht. Es ist, als seien sie hierher bestellt worden, um Stafettenläufern gleich Gerüchte weiterzutragen, die ihnen bestimmt schon entgegeneilen. Kritischer Hag. Berlin, im Juli. Montag morgen in der Depositenlasse einer Großbank, die ihre Schalter noch offen hat. Der Raum befindet sich gewisser, maßen im Kriegszustand. Er ist, anders als an gewöhnlichen Tagen, mit Menschen gefüllt, unter denen sich zahlreiche ältere Leute befinden. Witwen, die nicht mehr viel zu erhoffen haben, Greise besserer Herkunft, Adelsdamen und pensionierte Beamte: sie tauchen aus der Vergangenheit aus, zittern um ihr Erspartes und warten. Das Geld ist ausgegangen, aber ein Angestellter versichert, daß ein Bote der Bank unterwegs sei. Inzwischen knüpft sich das Band jener traurigen Brüderlichkeit, die ein Produkt gemein samer, unverschuldeter Not ist. Sie täuschen sich über die Zeit hin weg, indem sie ihre Schrecklichkeit bejammern, sie machen sich gegenseitig klar, daß man doch das bißchen Geld haben müsse, um überhaupt leben zu können. Ein Knäuel von Menschen, die sich aneinanderklammern und zu stützen suchen, so gut es im Augen blick geht. Wie dankbar sind sie dem geringsten Anlaß, der ihnen zu vergessen erlaubt. Zwei Herren betreten den Raum, die Geld einzahlen wollen, und diese schlichte Tatsache ruft eine Heiterkeit ohnegleichen hervor. Man lacht von Herzen und versieht das er staunliche Ereignis mit drolligen Kommentaren: wahrhaftig, die Herren kommen vom Mond. Die Stille, die dem Ausbruch folgt, ist um so trüber. Endlich trifft der Bankbote mit einem Beutel ein, wie ihn die Briesabholer tragen. Werden die mitgsbrachten Scheine auch reichen? Die Aufregung, die sich der Leute bemächtigt, ist peinigender als die Ungewißheit des Wartens. Ein gewitzter Mann, der erst später an die Reihe kommen sollte, drängt sich vor, tut vertraulich und erhält ohne Anstand den gewünschten Betrag. Das Publikum, empfindlicher gegen Ungerechtigkeiten als ein Präzisionsinstrument, murrt über die ihm widerfahrene Benach teiligung. Dann werden nach und nach die geforderten Summen ausgehändigt. Glückselig nimmt ein verwitterter Handwerker seine Ersparnisse in Empfang, die alles in allem 30 Mark betragen. „Hier sind Ihre 30000 Mark," sagt der Beamte. „Wenn es auch nur 30 Mark sind," erwidert der Inhaber des BarvermögenZ, „Bescheidenheit ist auch etwas wert." Wahrscheinlich bedeuten ihm jetzt die 30 Mark zuzüglich der Bescheidenheit so viel wie anderen die 30000. Nur leider bewertet die Welt nicht unsere Tugenden, ob sie nun angeboren seien oder erworben. Am Abend desselben Tages ist auch Max Schwelt ng auf dem Tempelhofer Flugfeld gelandet. Drei Mikrophone sind auf gestellt gewesen, die Musik hat gespielt, die Operateure haben ge ¬ kurbelt, und Tausende von Menschen habe« dem d ° k zugejubelt, als brächte er uns die Erlösung. Am Abend desselben Tages. S. Krakauer. Gästen in der Konditorei, wie töricht die überstürzten Abhebungen seien, zerstreut ihre Sorgen und ermähnt sie zur Disziplin. Erne unnennbare Beruhigung strömt von ihm aus wie von emem gütigen Onkel, der den Neffen und Nichten vorm Sch afsngehen Märchen erzählt. Der Präsident schweigt, und die Gaste plaudern weiter. Eine Fliege brummt in der Nische die von einem Pärchen ausgefüllt sein müßte. Hinge wirk- Leim^^"^ der Ampel, sie klebte längst auf dem süßen Abends in einer Konditorei, die so abgetakelt anmutet wie ein aufgebauschtes Provinzlokal, obwohl sie nur ein paar Minuten vom Mittelpunkt des Amüsierbetriebs entfernt liegt. Auf die fünf Minuten kommt es aber hier an. Gäste aus der Nachbarschaft sitzen an den Tischen herum, und schließt man die Augen, so glaubt man im Nachbild unwillkürlich Fliegenpapier zu erblicken, das von den Ampeln herunterhängt. In dieses Stilleben kann kein Geräusch der großen Welt dringen. Und doch hockt schon mitten unter den verstaubten Konditorwaren das öffentliche Unglück und fegt die Privatgespräche fort, die sonst über Tasten und Kuchen teller schwirren. Vernimmt man auch nicht die Unterhaltung an den Nebentischen - die Mienen sind leicht zu enträtseln, und spür bar ziehen Worte, Namen und Befürchtungen, die aus den Nach- kriegsjahren noch in aller Erinnerung sind, durch die friedfertigen Stuben. Plötzlich entsteigt dem allgemeinen Gesumme über das Allgemeine eine Stimme, der anzumerken ist, daß sie die Angst beschwichtigen will. Sie gehört dem Präsidenten des Giro- und Sparkaffenverbands, der irgendwo ins Mikrophon spricht. Er er-