Berlin Heinrich Hausers Chicago-Film erscheint gleichzeitig mit seinem ehe es unwiderbringlich verschwindet. Wochenschauberichte hingewiesen, denen die Welt mit Brettern vernagelt ist. Sie sehen nichts und sie hören nichts, wo es doch, wie schon allein dieser Chicago-Film beweist, soviel zu sehen und M hören gibt.. Versicherten sich ihre Hersteller einiger Kräfte vom Schlage Hausers, so käme die Wochenschau endlich aus den Wochen heraus. Eine nicht unwesentliche Einschränkung ist freilich zu machen. So geglückt der Film als Reportage ist, er bleibt zugleich hierin den letzten Büchern Hausers verwandt, in der Reportage flecken. Fasziniert von den Gegebenheiten, den Kontrasten und Perspek tiven des neuen Raumes, in den wrx gerade einzutreten begin nen, nimmt Häuser die meisten Eindrücke hin, ohne sie eigentlich zu verarbeiten und ihrem Sinn nachzufragen. Daher sind seine optischen Entdeckungen einstweilen nicht viel mehr als wertvolles Rohmaterial. Sie liefern Stoff, der noch nicht durchdrungen ist und begnügen sich mit der Zusammenstellung von Fakten, deren Unverbindlichkeit erst aufzuheben wäre. Um zu echten' Ergebnissen zu gelangen, wird Häuser die Form der konstatierenden Reportage sprengen müssen; ihre Grenze hat er bereits erreicht. Von den zivilisierten Wilden der Weltstädte ist der verstorbene Regisseur Murnau zu den primitiven der Südsee geflohen. Andere haben ihm diese Flucht ins verlorene Paradies vorgemacht. Seine Beute ist der Film: ,I^abu" gewesen, der nun schon sert Wochen in Berlin läuft: ein Werk, das frei von jedem . Atelier zwang entstanden ist und um seiner Reife willen Bewunderung verdient. Es stellt einen regelrechten mythischen Ablauf dar, in dem sich Weihe, Frevel und Sühne einander bedingen. Ist dieser Mythos real? Er ist es nicht mehr für uns, und sogar die Ein geborenen, die fortwährend mit den Weißen in Berührung kom men, sind ihm schon halb entwachsen. Die glatte Abrundung des Films und seine zu große Stimmigkeit verraten, daß das Mythische hier nicht Wirklichkeit, sondern Sehnsuchtsziel ist. Hausers Chicago Film hält der Gegenwart stand; Murnaus: ,Aabu" bedeutet ein nicht mitvollziehbares Zurück. Wer aber die Schwäche erkennt, der diese Elegie entstammt, darf sich ihrer Schönheit um so auf richtiger freuen. Alle Schönheiten des menschlichen Körpers, der Erde und des Meeres sind in ihr gesammelt und mit einer Weh mut veranschaulicht, die auf das Schicksal des Schönen hinweist. Daß seine Ursprünglichkeit untergehen muß, meint jene herrliche Szene, die den Jazz mit der Körpersprache der Primitiven kon frontiert. Und nur mit Ergriffenheit kann ich des Schlusses ge denken, der ein Abschied ist: lautlos gleitet nach vollstrecktem Urteil das Segelschiff des alten Häuptlings ins Meer hinaus und ist noch lange, eine winzige Erscheinung, am Horizont zu sehen, Anfang Oktober. „Weltstadt in ReiseLuch: „Feldwege nach Chicago" (S. Fischer Verlag, Berlin), aus dem wir an dieser Stelle einige Abschnitte veröffentlichten — ist eine ausgezeichnete Bildreportage. Sie verrät nicht nur ein starkes filmisches Talent, sondern vor allem eine ungewöhnliche Gabe der Beobachtung. Weit jenen faden Produkten überlegen, die man uns unter dem Namen Kulturfilme gemeinhin vorzu- setzen pflegt, vermittelt sie statt konventioneller Vorstellungen und sngelesener Begriffe ein Bild von ihrem Gegenstand, das mit eigenen Augen gesehen ist und ihn vorurteilslos zu erfassen sucht. Aus dem Film ist die Leidenschaft zu spüren, mit der Häuser diese Wildnis erobert hat, die Chicago heißt. Stadtrausch, so hätte er auch seinen Film nennen können; den hier ist der Rausch Bild geworden, in dem einer oft tagelang besinnungslos durch die Straßen fremder Städte treibt. Was fängt er nicht alles auf seinen Wanderungen mit der Kamera ein! Die Wolkenkratzer massen, die ihm wie eine unglaubwürdige Vision bei der Ankunft auf dem Mississippi erscheinen; das Chaos der Hochbahnen und die sich öffnenden Brücken; die Schutthaufen, die wie Exkremente der Mammuthstadt wirken; die Schrecklichst der Straßenkreu zungen, die Wäsche vor Mietskasernen, die Grünflächen, .di' Rie senkrane, die Viehherden, die zu den Schlachthäusern ziehen — diese Aufnahmen pressen im genauen Gegensatz zu den üblichen Ansichtspostkarten ihren Urbildern eine Menge inoffizieller Be kenntnisse ab. Durch die Art der Überschneidung werden schein bar gleichgültige Tatbestände Zu wichtigen Aussagen über sich selbst genötigt, und durch die Komposition der Szenen, die auch stellenweise mit gewissen optischen Leitmotiven arbeitet, ersteht das wahnsinnige Tempo Chicagos so greifbar wie irgendein bild hafter Eindruck. Obwohl vorwiegend das bewußtlose Leben der Stadtnatur dechiffriert wird, fehlen doch die Menschen nicht ganz. Man sieht unter anderem Gruppen, die wie Illustrationen zu Polizeiberichten anmuten, Elendsfiguren, Betrunkene und das Mtagsheer der Angestellten, das zum Bürodienst einrückt. Zahlreiche herrliche Einzelheiten wie gleich am Anfang die Flußbilder wären besonders Zu rühmen, andere Szenen, aller dings verschwindend wenige, zu tadeln, weil sie nicht charakteri stisch sind. Von den technischen Details etwa hätten mit Aus nahme der laufenden Bänder getrost ein paar gestrichen werden dürfen. Aber es liegt hier gar nichts an einem peinlichen Ab wägen. Entscheidender ist, daß Häuser mit seinem Film wieder einmal zeigt, was sich aus den Objekten wirklich herausholen läßt. Ich habe schon öfters auf die Jämmerlichkeit der industriellen