Renovierter Jazz. Als der Jazz noch jung war, in den Jnflationsjahren und später, antwortete er den Bedürfnissen einer Menschheit, die zu vergessen suchte. In der Tat bedeutete er damals Gegenwart und nichts außer ihr. Eine Gegenwart, die dem Krieg den Nucken zugekehrt hatte und zunächst nur sich selber bestätigen wollte. Ihr hing die Generation der Kriegsteilnehmer an, die noch mcht der Erinnerung fähig war, und zu ihr bekannten sich auch die Jungen, sie, die wäh rend jener Jahre erfuhren, daß die Chancen schnell wechselten und man den Augenblick festhalten mußte, um zum Genuß des Lebens zu kommen. Wie sie da waren, Menschen, aller Nationen, standen sie gleichmäßig zwischen zwei Zeiten: bereit, das Vergangene zu ersäufen und die Zukunft, die doch nicht vorhergesagt werden konnte, einstweilen auf sich beruhen zu lassen. Der Jazz erfüllte, was sie begehrten. Er haftete nicht wie der Walzer am Gewesenen, sondern warf es ganz und gar von sich ab. Das Daseinsgefühl, das er aus- stromte,. war das der unbelasteten Körperlichkeit. Dies aber, daß er den Augenblick bejahte, der keine Herkunft hat und folgenlos ist, erklärt recht eigentlich seinen Siegeszug. Denn da er die Welt vom Fluch der Zeit und des Bewußtseins erlöste, war es nicht mehr als billig,- daß sie sich ihm ohne Bewußtsein und unbegrenzt hingab. Und wirklich verwandelte sie sämtliche Podien in. Altäre und weihte sich in Hoteldielen und CafyhLusern seinem Dienst. Es war die hohe Zeit des Jazz. Seine Trabanten tauchten in der barbarischen Fröh lichkeit unter,'die er Heraufbeschwor, und glaubten durch ihn die Gegenwart zu besitzen, die sie selber besaß. Inzwischen hat diese Gegenwart längst aufgehört zu bestehen. Sie ist in dieselbe Vergangenheit eingerückt, von der sie sich ein für- allemal abzulösen gewähnt hatte, und einem Zustand gewichen, der sich von dem ihren gründlich unterscheidet. Vereinigten sich die Menschen damals im Streben, über den Tag nach Möglichkeit nicht hinauszudenken, so sind sie heute mit Sorgen beladen, die den kommenden Tag betreffen. Die Gegenwart des Jazz war zum Punkt verengt; die jetzige Gegenwart ist ein dunkler ungewisser Weg. Statt sich wie jene gegen die Zukunft abzublenden, bemüht sie sich um eine Rettung aus der Dauerkrise, in die wir geraten sind; statt sich während einer kurzen Galgenfrist zu vergnügen, kämpft sie für die Verlängerung kurzfristiger Kredite. Damit ist aber auch der . Jazz in einem'entscheidenden Sinne historisch geworden. Er konnte Beine lockern, die aus den zeitlichen Zusammenhängen heraus zu tanzen verlangten, um sich erst einmal wieder als Beine zu fühlen; Menschen auf diese Beine zu bringen, die sich mit der Zeit auSeinanderfetzen müssen, ist ihm versagt. Schon klingen die Rhythmen verschollen, die einst das horizontlose Leben elektrisierten. Sie erreichen kaum noch eine Gegenwart, die nicht mehr Vergessen schenkt, sondern in ihrer Verzweiflung sich selber vergißt, und die im Zeichen dieser Musik veranstalteten Tanzthees sind der Brauch einer klassenmäßig bestimmten Schicht. Auf den Variete-Bühnen wird versucht, den in der Konvention erstarrten Janz von neuem zur Aktualität zu er wecken. Dort treten Steptänzer auf, dort finden Gastspiele von Jazzkapellen statt. Die Scala etwa, in der sich jetzt Bernard ELt6 mit seiner Bühnenschau produziert, hat schon wiederholt solche Nummern gebracht. Gerade die Tatsache aber, daß sie den Jazzj zur isolierten Kunstleistung erheben, ist ein untrüglicher Beweis dafür, daß sie chm nur ein Scheinleben einflößen. Sie stützen ihn wie eine baufällige Ruine, sie renovieren ihn mit künstlichen Mitteln, ohne doch das Klima nach erzeugen zu können, in dem er gedieh. Diese Steptänzer sind genau so aus dem Tanz saal gerissen, der ihr natürlicher Ort war, wie die Variete-Clowns aus dem Zirkus. Ihre Darbietungen haben nichts mit dem Step zu schaffen, der früher den Menschen die Zeit vertrieb, sondern gehören ins Gebiet der höheren Akrobatik, und der Stiefelgalopp, den sie exekutieren, klappert schauerlich hohl. Das riecht nach Ver wesung, das beschwört Likörstuben und gespenstische Billionen herauf. Nicht minder hoffnungslos sind die Anstrengungen der Kapellen, die dem Jazz durch einen gewaltigen Revue-Tamtam zur zweiten Blüte verhelfen möchten. Gewiß, ihre Musiker gleichen ausgebildeten Jongleuren, der Rumba rasselt betäubend, und die Lichteffekte, die das Orchester berieseln, um die Stimmung all seitig zu verdicken, übertreffen in technischer Hinsicht die von venezianischen Nächten. Indem sich aber der Jazz so kunstgewerb lich aufbläht, bezichtigt er sich selbst des Zerfalls. Wie eine Greisin, die sich knallrot geschminkt hat, erscheint er auf dem Podium, das nicht seine Stätte ist, und behauptet in Jugendschöne zu er strahlen. Eine Wiederbegegnung, die voller Schrecken ist. Denn die Schminke, durch die der Jazz Gegenwart vortäuschen will, ruft nur eine verwelkte ins Gedächtnis Zurück. Sie folgt uns nach, sie ist vorbei, ohne schon liquidiert zu sein. L. Lraoausr.