Funatscharski über die russische Kultur bestehende. 8. TrasLuer. Im Verlauf einer Polemik, die gewissermaßen das Präludium bildete, fiel die Bemerkung, daß noch nie ein Land ein solches Interesse für theoretische Fragen bekundet habe wie Rußland, und die Bedeutung der Theorie für den Alltag noch nie so deutlich wie dort erkannt worden sei. Man weiß das; aber man ermißt bei uns vielleicht doch nicht ganz, was die ständige Konfrontation von Theorie und Praxis für jede einzelne Lebensäußerung bedeutet. Auch die scheinbar indifferente wird dazu gezwungen, Farbe zu bekennen und ihren sozialen und politischen Gehalt Zu enthüllen. Ein Kontrollverfahren, durch das die Russen jedenfalls die Ver wirklichung der von ihnen gewollten Ordnung noch auf den ab gelegensten Gebieten erreichen und die Einschmuggelung von Konterbande verhindern. Ob man nun die faktische Handhabung dieses Verfahrens anerkennt oder nicht: als heuristisches Prinzip stiftet es zweifellos überall Nutzen. Immer wieder begegnet man bei uns wissenschaftlichen oder literarischen Meinungen, die sich fü" unpolitisch halten, ja ganze Abteilungen des Daseins werden von ihren Hütern künstlich neutralisiert. Aber in Wahrheit sind sie gar nicht neutral, sondern enthalten Voraussetzungen oder Konsequenzen durchaus politischer Art. Es wäre für das geistige Leben in Deutschland ein Gewinn, wenn sich alle Formulierungen und Leistungen mit den sozialen und politischen Tatsachen aus- einandersetzten, statt sich wie so oft hinter einer vermeintlichen Neutralität zu verschanzen. Das Tatsachenmaterial, das Lunatscharski unterbreitet, bezieht sich auf die Bekämpfung des Analphabetentums, aufs niedere und höhere Schulwesen, auf die kulturellen Organisationen der Partei und die planmäßige Pflege der Künste. Imposante Zahlen be kunden eine Ehrfurcht vor der Statistik, die auch durch das summarische Wesen gewisser inhaltlicher Angaben belegt wird So heißt es etwa, daß der Verbrauch an Druckpapier im Vergleich mit der Vorkriegszeit um das Vierfache gestiegen sei. Nicht so, als ob die Quantität entschiede; aber das Meß- und Bezifferbare drängt sich doch aus begreiflichen Gründen einstweilen stark vor. Vielleicht hängt der ihm erteilte Rang auch mit der beinahe mystischen Wert schätzung zusammen, die zur Zeit in Rußland die Wiss enschaft, vor allem die Naturwiffenschaft, genießt. Mir brauchen die Wissen schaft wie die Lust zum Leben": ein solcher Satz ist 19. Jahr hundert und Zugleich etwas ganz anderes. Er wiederholt nämlich nur äußerlich eine historische Phase unseres Denkens; in Wirklich keit entstammt er einer neuen Situation. Der Situation eines Volkes, das sich geistige Besitztümer und Verfahrungsweisen, die auf einem fremden Boden gewachsen sind, zu Zwecken aneignet, Zu denen sie bisher nicht gebraucht wurden. Es ließe sich daher durch aus denken, daß die Flachheit, mit der Lunatscharski von den Fort schritten des Konsums an Kulturgütern Rechenschaft ablegte, nicht ganz so flach wäre, wie sie uns erscheint. Mitunter kleiden sich un gewohnte Sachen in die Sprache von gestern. seinem Vortrag. Umstanden Generationen der Zukunft zum Opfer gebracht werden müssen, die dem vollendeten Sozialismus gehöre. Diese durch und durch dynamische Lebensauffassung wird entschieden gegen jede statische ausgespielt, nach der das menschliche Dasein darum einen unvergleichlichen Wert hat, weil es sich auf Gehalte bezieht, die über die Entwicklung in der Zeit hinausweisen. Ja nicht einmal die immerwährende Dialektik zwischen den statischen und den dynamischen Sachverhalten gibt Lunatscharski zu. Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, gebraucht er ein merkwürdiges Bild. Er vergleicht den Sozialismus in der Periode des Ausbaus mit der ecclesia militans; woraus bereits von selber folgt, daß die ecclesiL triuroxkanZ mit dem vollendeten Sozialismus gleich gesetzt wird. Unverkennbar verrät dieses Bild, bis zu welchem Grade der russische Kommunismus eine säkularisierte Heilslehre ist. (Unser N. L.-Mitarbeiter hat erst jüngst in einem seiner vor züglichen Rußland-Aufsätze ähnliche Beobachtungen gemacht.) Und noch eine andere Einsicht entspringt dem Vergleich. Sich an Lenin anlehnend, schildert Lunatscharski den vollerrdeten Sozialismus als das Reich des Friedens und der Freiheit, als einen kampf losen Zustand, der keine Entwicklung mehr kennt. Er ist das Paradies selber, das irdische Jenseits der Zeit. Die extrem-dyna mische Haltung, die der Zukunft die ganze Gegenwart darbringt, ist so genötigt, das von ihr restlos verdrängte statische Prinzip am Ende der Entwicklung restlos aufleben zu lassen. Ob aber auch nur theoretisch angenommen werden darf, daß seine Herrschaft den dynamischen Prozeß aözulösen vermag, der es radikal tilgen will, ist zum mindesten fraglich. Lunatscharski unterscheidet in Rußland zwischen der politischen, der wirtschaftlichen und kulturellen Revolution und ist im Gegen satz zu manchen seiner Mitkämpfer der Ansicht, daß die kulturelle von der gleichen Dringlichkeit sei wie die eigentlich materiellen. Aus folgenden Gründen: des Bedarfs an Fach arbeitern wegen; im Interesse der Hebung des Lebensstandards; um der Aufzucht „kommunistisch enthusiasmierter" Massen willen. Diese schematichen Distinktionen, die überdies den Begriff der Kultur allzu weit spannen, sind insofern lehrreich, als sie erken nen lassen, Laß die russische Praxis das „Kulturelle" dem „Mate riellen" nicht nächstem, sondern neöenzuordnen sucht. Das wirk liche Verhältnis zwischen beiden Ordnungen: der materiellen und jener, die wir die geistige heißen, kann sich erst in einem vorge rückten Stadium des Experimentes ergeben. Inzwischen ist es methodisch beachtenswert, daß man sich schon während seiner An- sangsphase um ihr Jneinandergreifen bemüht. ch Die russische Gegenwart ist nach Lunatscharski die Zeit des streitenden Sozialismus, eine heroische Epoche, in der unter In einigen Bemerkungen, die ohne Zweifel der offiziellen Meinung von heute entsprechen, grenzt sich Lunatscharski von ge wissen ultralinken Anschauungen ab. So stellt er fest, daß man in der Architektur nicht mehr allein die reine Zweckmäßigkeit erstrebe, sondern die Darstellung eines „harmonischen Selbstgefühls" verlange. Eine etwas undurchsichtige Aussage, die jedoch darauf zu schließen erlaubt, daß der extreme Materialismus sich selber ein zu schränken beginnt. In derselben Richtung bewegt sich die ausdrück liche Erklärung, daß man in Rußland keineswegs die Entwicklung der Individualität hemmen wolle, da sie sich mit der sozialen Entwicklung grundsätzlich durchaus vertrage. Wie schwierig immer diese Erklärung zu bewahrheiten sein mag, sie sollte allen jenen Intellektuellen zu denken geben, die bei uns einen u«realisierbaren, völlig abstrakten Kollektivismus vertreten. Statt eine bessere Wirk lichkeit zu erzeugen, stärken solche leblosen Konstruktionen nur die Bemerkungen Zu Berlin, Anfang November. Der Vortrag Lunatscharski über den Kultur-Aufbau in Sowjetrußland, zu dem die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland in Deutschland eingeladen hatte, war außerordentlich stark besucht. Akademiker, Politiker, Intellektuelle der verschiedensten Berufe, Anhänger und wohl auch Gegner des russischen Systems drängten sich im Saal der Singakademie Zusammen, und ich nehme an, daß sie nicht nur aus politischer Leidenschaft, sondern auch aus dem Wunsche kamen, wirklich authentische Nachrichten über die kulturellen Ereignisse in Rußland zu erhalten. Keine Neugierde ist berechtigter als diese, deren Befriedigung erst eine Stellung nahme ermöglicht. Lunatscharski, der in physiognomischer Hinsicht an einen Arzt erinnert, ist nicht eigentlich ein Redner. Er liest in der Hauptsache ab, er arbeitet kaum je mit rhetorischen Mitteln. Dennoch erzielte er Wirkungen, die sich nicht allein auf den Inhalt seines Vortrags grün deten. Sie waren zweifellos der dem Publikum bewußten Tat sache zu danken, daß hier nicht wie sonst gewöhnlich ein bloßer Betrachter sprach, sondern ein Mann, der kraft seiner Machtstel lung die von ihm berührten Gegenstände selber angerührt hat. Jedes Wort der Macht erregt durch seine Verbindlichkeit. Ich erblicke meine Aufgabe darin, aus den Darlegungen Lunat- scharskis einige Punkte Herauszugreifen, die für die öffentliche Diskussion in Deutschland wichtig sind.