Won der fitzenden LeVensweise. für immer geborgen. Er sitzt nicht wie auf einem gewöhnlichen Stuhl, er übt vielmehr die Funktion des Sitzens aus, und Lr Berlin, Anfang Nvvember. Die von Friedmann L Weber verunstaltete Stuhlaus Vor meinem Fenster verdichtet sich die Stadt zu einem Bild, das herrlich wie ein Naturschauspiel ist. Doch ehe ich mich ihm zu- wende, muß ich des Standortes gedenken, von dem aus eS sich er schließt. Er befindet sich hoch über einer unregelmäßigen Platz- snlage, der eine wunderbare Fähigkeit eignet. Sie kann sich un sichtbar machen, sie hat eine Tarnkappe auf. Mitten in einem groß städtischen Wohnviertel gelegen und Treffpunkt mehrerer breiter Straßen, entzieht sich der kleine Platz so sehr der öffentlichen Auf merksamkeit, daß kaum jemand auch nur seinen Namen kennt. Vielleicht hat diese märchenhafte Geschicklichkeit ihren Grund in der Tatsache, daß er vor allem dem Durchgangsverkehr dient. Taufende kreuzen ihn täglich im Omnibus oder in der Tram, aber gerade weil sie ihn ohne jedes Aufheben überqueren, versäumen sie es, seiner zu achten. So genießt er das unvergleichliche Glück, gewisser- Massen inkognito im Trubel leben zu dürfen, und obwohl er sich nach allen Seiten hin austut, ist es doch, als sei er von dichten Nebeln umlagert. . » DaS Stadtbild selber nun, das bei diesem Plätzchen beginnt, ist sm Raum von außerordentlicher Weite, den ein metallischer Eisen- aäer erfüllt. Er klingt von Eisenbahngleisen wider. Sie kommen aus dex Richtung des Bahnhofs Charlottenburg hinter einer über lebensgroßen Mietshauswand hervor, laufen bündelweise neben einander und entschwinden zuletzt hinter gewöhnlichen Häusern. Ein Schwärm von glänzenden Parallelen, der tief genug unter dem Fenster liegt, um seiner ganzen Ausdehnung nach übersehen wer Diese Landschaft ist ungestellteS Berlin. Ohne Absicht sprechen sich in ihr, die von selber gewachsen ist, seine Gegensätze aus, seine Harte, seine Offenheit, sein Nebeneinander, sein Glanz. Dre Er kenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hin gesagten Bilder geknüpft- stellung zu besichtigen, ist ein kleines Spezialvergnügen. Sie beginnt gewissermaßen bei Adam und Eva, die allerdings ver mutlich, dem Katalog nach zu schließen, „damit zufrieden waren, auf Decken und Fellen hingelagert zu ruhen", führt dann in chronologischer Reihenfolge verschiedene markante Stuhlpersön lichkeiten der Geschichte vor, und mündet zuletzt in die Sitzflächen der Gegenwart ein, die bei weitem den breitesten Raum bean- spruchett. Vielleicht dient überhaupt der ganze Rückblick auf die Vergangenheit nur dazu, um diese Gegenwart in ein Helles Licht zu setzen. Nicht anders verfahren ja auch die meisten idealistischen Philosophiesysteme, deren ersten Begriffsbestimmungen man schon an der Nasenspitze ansehen kann, bei welchen letzten Begriffen sie nach fünfhundert Seiten zu landen gedenken. * Ich lasse mich also gleich in den heutigen Sitz- und Liege- möLeln nieder, von denen der Katalog mit Recht meint, „daß sie dem Ruhebedürfnis des modernen Menschen aufs vollkommenste entsprechen und auch den Anforderungen eines verwöhnten Ge schmacks an gefälliger Form Genüge tun . . . Ja, das tun die hier gezeigten Sitzerzeugnisse in der Tat. Sie sind geräumig wie Eigenheime und nach einer neuartigen Methode gepolstert, die zwar den Motten nicht mehr gestattet, in ihnen behaglich zu nisten, aber dafür das rein menschliche Ruhebedür^nis wunderbar stillt. Wer zwischen ihren vier Wänden Platz gefunden hat, ist sozusagen während er diesem Prozeß lustvoll obliegt, verfliegen von selber Sorgen, die ihn bedrücken. Freilich darf man nur gerade so viele haben, um das Stuhlwerk noch bezahlen zu können. Am trostreichsten sind zweifellos die Sitzeinrichtungen, die auf einen Insten Druck hin niederzugleiten beginnen; denn sie versetzen in einen Z - us - tand . . des Schwebens, in dem man Zeit und Raum hinter sich läßt. Wahrscheinlich soll er auch durch die Lunten Farben her vorgerufen werden, in denen alle Stoffbespannungen prangen. Sie wimmeln von Blümchen, von roten und gelben Streifen, deren betonte Freundlichkeit die düstere Gegenwart zurückdrängen möchte. Aber die Blümchen sind ohnmächtig, und den Streifen nutzt ihre Heiterkeit nichts. Die Stahlstühle, die natürlich nicht fehlen, find von diesem Hang zur Gemütlichkeit angesteckt worden. Statt sachlich zu blitzen, winden sie sich in matten, gelblichen Tönen durch die Zimmerluft. Oder in der Sprache des Katalogs ausgedrückt: „Auch das Stahlmöbel in reizvollen- metallischen Färbungen wird erstmalig gezeigt, so daß das Stahlmöbet nunmehr für das Heim unbederrklich Verwendung finden kann." Obwohl das Stahlmöbel immer noch forscher ist als diese Sprache, hat es doch seine frühere Angriffslust ganz verloren. Es folgt dem Zug der Zeit, und verkriecht sich mit den Leblümten Polstern und den gleitenden Liegesesseln am hüuslichen Herd. Draußen auf der Straße aber wird desto heftiger Politik gemacht. den zu können. Mt ihren vielen Signalmasten und Schuppen macht die Fläche beinahe den Eindruck eines mechanischen Modells, das ein Knabe, der irgendwo unsichtbar kniet, MM Experimentieren be nutzt. Er läßt im Spiel die entzückenden bunten Sradtbahnzüge rasend schnell auf- und abgleiten, jagt einzelne Lokomotiven hin und her und entsendet schwere V-Züge nach berühmten Städten wie Warschau und Paris, die gleich hinter der nächsten Ecke auf gebaut sind. Die Schienen blitzen, die Signale gehen abwechselnd hoch und nieder, und die Rauchwolken bleiben lange zurück. Glück lich neigr sich der Knabe über sein Werk, desien Vollkommenheit durch eine rauschende Straßenunterführung noch erhöht wird. Es muß schwer gewesen sein, sie so schnurgerade unter der gesamten Eisenöahnebene hindurchzuziehen. Wer die Mühe hat sich gelohnt, denn zahllose Wagen, deren Geschwindigkeit der Zeitraffer zu ver doppeln scheint, befahren jetzt unnachdenklich den Tunne^ Die rollenden Züge oben und eine Etage darunter dieses laufende Quer band der Wagen: das Geriesel setzt keinen Augenblick aus und stör- doch niemals die Ruhe der eisernen Fläche. Sie wird im Hinter grund durch einen schmalen, Hellen Hauserstreifen begrenzt, der sie nicht anders auffängt wie ein Waldrand enteilende Wiesen. Kaum kann man die Fenster und Balköne unterscheiden, so jenseitig ist schon der Streifen. Ihn überragt der Rundfunkturm, ein senkrechter Strich, der mit der Reißfeder dünn durch ein Sckck Himmel ge zogen ist. Abends ist das ganze Stadtbild illuminiert. Verschwunden die Schienen, die Masten, die Häuser ein einziges Lichterfeld glänzt in der Dunkelheit, eines von jenen, die dem Reisenden nachts Trost spenden, weil sie ihm die baldige Ankunft verheißen. Die Lichter sind über den Raum verteilt, sie harren still oder bewegen sich wie an Schnüren, und vorne, zum Greifen nah, leuchtet ein blendendes Orange, mit dessen Hilfe eine Großgarage ihren eigenen Ruhm weithin verbreitet. Mitten aus dem Getümmel, das keine Tiefe hat, erhebt sich ein strahlender Baum: der Rundfunkturm, der von seiner Spitze einen Lichtkegel rundum schickt. Unablässig kreisend taste: das Blinkfeuer die Nacht ab, und wenn der Sturm h^rlt, fliegt es über die hohe See, deren Wogen den Schienenacker umspülen. Man kann zwischen zwei Arten von Stadtbildern unterscheiden: den einen, die bewußt geformt sind, und den andern, die sich ab sichtslos ergeben. Jene entspringen dem künstlerischen Willen, der sich in Plätzen, Durchblicken, Gebäudegruppen und perspektivischen Effekten verwirklicht, die der Baedeker gemeinhin mit emem Sternchen beleuchtet. Diese dagegen entstehen, ohne vorher geplant worden Zu sein. Sie sind keine Kompositionen, die wie der Pariser Platz oder die Concorde ihr Dasein einer einheitlichen Baugesinnung zu verdanken hätten, sondern Geschöpfe des Zufalls, die sich nicht zur Rechenschaft ziehen lassen. Wo immer sich Steinmaffen und Straßenzüge zusammenfinden, deren Elemente aus ganz verschieden gerichteten Interessen hervorgehen, kommt ein solches Stadtbild zu stände, das selber niemals der Gegenstand irgendeines Interesses gewesen ist. Es ist so wenig gestaltet wie die Natur und gleicht einer Landschaft darin, daß es sich bewußtlos behauptet. Unbekümmert um sein Gesicht dämmert es durch die Zeit. Aerliner Landschaft» Von S. Krakauer.