Unter der HöerMche. Berlin, im Juli. Ein ausländischer Besucher Berlins, der weit in der Welt herum, gekommen ist, sagte mir jüngst, daß man hier an der Oberfläche die Not kaum bemerke. Er war darüber um so erstaunter, als er von ihrem Vorhandensein wußte. Das gutgekleidete Straßenpublikum, ! die Wochenendmode, der Betrieb in den Lokalen — alle diese Zeichen eines scheinbar gehobenen Lebensstandards verwirrten ihn, da sie! nach seiner Meinung das Faktum des Elends zwar nicht Lügen straften, aber ihm doch rätselhaft widersprachen. Ich machte ihn unter anderem auf die Bettler aufmerksam, die jetzt in immer größerer Zahl gerade den Westen bevölkern. Seine Antwort lautete, daß es in London etwa viel mehr Bettler gäbe als hier in Berlin. „Vielleicht," so reflektierte er, „ist bei euch die Not nicht einmal schlimmer als anderswo. Nur seid ihr von ihr auch seelisch völlig besessen." Solche Urteile werden von Fremden öfters geäußert. Um sie richtigzustellen, genügte beinahe schon der Hinweis auf die täg liche Lokalrubrik. Ich greife aufs Geratewohl die Meldung eines hiesigen Blattes heraus, nach der in der Zeit vom Sonntag bis Zum Montag mittag nicht weniger als sieben Personen Selbst mord verübt haben: Ein blutjunges Liebespaar, dessen Vereinigung durch seine! Mittellosigkeit verhindert wurde; ein Polizeibeamter wegen Familienstreitigkeiten und Ueber- schuldung; ein zugereister Rentmeister; eine ältere Frau, die angesichts ihrer wirtschaftlichen Zer rüttung die Nerven verlor; noch eine alte Frau, die nach dem Tod ihres Mannes vergeb lich Arbeit suchte; ein Stallschweizer, der arbeits- und wohnungslos war; Dem ist nichts weiter hinzuzufügen; es sei denn die Be trachtung, daß die Verschiedenheit der gewählten Todesarten mit der Gleichförmigkeit des Selbstmordmotivs merkwürdig kontrastiert. Aber auch innerhalb seines eigenen Beobachtungsfeldes wäre jener Ausländer leicht zu widerlegen. Ich will gar nicht von den vielen Merkmalen der Not reden, die mindestens so sichtbar sind wie der spärlich aufsitzende Glanz — also zum Beispiel von den Schwierigkeiten der Vergnügungsindustrie oder von der ungeheuren Menge leerstehender Großwohnungen —, sondern lieber einige unauffälligere Symptome des wirklichen Zustands verzeichnen. Zu ihnen gehört -die Aufgeregtheit im Alltag. Mag selbst die gute Kleidung in gewissen Stadtteilen vorherrschen, das Ge baren der Menschen stimmt nicht recht mit ihr überein. Nicht so, als ob sie der Höflichkeit ermangelten, aber sie sind von einer Nervosität, die bei dem geringsten Anlaß ausbricht. Wer jetzt an den heißen Sommerabenden über den Kurfürstendamm promeniert, spürt deutlich, daß diese Menschen von Unruhe verzehrt sind und rasch aus der Haut fahren könnten. Sie stoßen sich, wenn sie aneinander Vorbeigehen, sie sprechen etwas lauter, als es vielleicht üblich ist, und erwecken überhaupt den Eindruck von Reibungs flächen, die sich im nächsten Augenblick entzünden. Oft erfolgt auch wirklich eine Explosion. Ein Auto hat eine Straßenbahn gestreift, oder an irgendeiner Ecke bildet sich ein Menschenknäuel, aus dessen Mitte Schupohelme herausleuchten. Ich weiß, daß ich mich ganz ungenau ausdrücke, aber es kommt mir nur darauf an, die gereizte Stimmung anzudeuten, die hier fast körperlich fühlbar ist. Man müßte, um sie im einzelnen darzustellen, Lausende winzige Vorfälle schildern und dann aus ihnen die Summe Ziehen. Zu notieren wäre: die rücksichtslose Raserei der Autos nach dem Aufblenden des grünen Signals; Strettszenen in Restaurants; stumme kurze Blickschlachten zwischen Passanten, die sich nicht kennen und doch abtaxieren wie Waren; Gesprächsfetzen, Schaffnerauskünste und manche Gebärden. Das aus diesen Zügen zusammengesetzte Mosaik verriete, wie geplagt und geschunden heute die Menschen aller Schichten bei uns sind. Man sollte meinen, daß ihnen Sport und Wochenende eine Erneuerung der Kräfte brächten. Aller ich habe schon wiederholt die Erfahrung gemacht, daß eher das Gegenteil richtig ist. Um es kraß auszudrücken: die Art und Weise, in der sich die Massen gegenwärtig ins Wochenende stürzen, ist selber ein Kennzeichen der durch die allgemeine Not erzeugten Hysterie. Sie geben sich der Natur nicht hin, sondern überrennen sie gleichsam; tragen ihren Krampf in den Sport hinein, statt sich von ihm lösen zu lassen; vergötzen die Nacktheit, die doch nur der Gesundung dienen sollte, und erheben die braune Hautfarbe zum Idol. Wäre es anders, man müßte den Menschen auch im gewöhnlichen Großstadtlellen anmer ken, daß sie sich körperlich ertüchtigt und draußen wirklich erholt haben. Dem besseren Aussehen, daß sie durch die bewußte Körper kultur erlangen, entspricht indessen keineswegs eine größere Ge messenheit, eine ruhigere Haltung. Wenn mich nicht alles täuscht, hat sich sogar ihre Empfindlichkeit nicht unerheblich gesteigert. Im mer wieder kann man an schwülen Tagen beobachten, daß gerade junge, ersichtlich sportgeübte Menschen sich ihrer Jacke entledigen, um die Beschwerden der Hitze zu verringern, während ältere Her ren im Vollbesitz ihrer Kleidung dahinwandeln, ohne unter der kleinen Schwitzkur besonders zu leiden. Das Wochenende scheint also einstweilen die Widerstandskraft nicht eben zu erhöhen. Es hat gewiß gleich dem Sport die Funktion, den Folgen der Not ent- gegenzuwirken, wird aber noch in Formen genossen, die selber ein Produkt der Not sind. Ich möchte damit nur gesagt haben, daß diese Not trotz der Luxuskarosserien und der Glanzperspektiven, die sich den Fremden so schnell eröffnen, durchaus nicht unsichtbar ist. Ihre Signale ragen ! vielmehr wie die Masten gesunkener Schiffe über die spiegelglatte l Oberfläche hinaus. S. Kracauer. 77.^7./!^^