Betrogene Jugend. Won Albert Lamm. Vorwort der Redaktion Die Erwerbslosigkeit ist zum Dauerzustand geworden« Wie rasch und bis zu welchem Grad sich dieser Zustand bei einem Konjunkturaufschwung ändern wird, steht dahin. Zweifellos ver streicht aber auch im besten Falle noch eine geraume Zeit über hie Wiedereingliederung der Massen in den Arbeitsprozeß. Zu leiden unter den schwer wandelbaren Verhältnissen hat vor allem die erwerLslose Iugend Ganze Jahrgänge Jugend licher, deren Recht und Pflicht es wäre, sich eine Stellung im Leben zu erobern, harren vor verschlossenen Türen. Ist die ältere Generation immerhin noch im Besitz von Erinnerungen, so dürfen sie nicht einmal Hoffnungen nähren, sondern werden zuM alten Eisen geworfen, obwohl sie doch funkelnagelneu glän- zen^ Und vorenthalten bleibt ihnen gerade das, wonach sie, ihrem Entwicklungsstädium gemäß, mit Leib und Seele verlangen: eine Tätigkeit, die ihrem Dasein eine Art von Sinn zu geben vermöchte. Has Outsidertum, Zu dem sie ohne ihre Schuld verdammt sind, ist aber um so bedrohlicher, als es an jener allmählichen Ver schmelzung mit der Gesellschaft verhindert, die sich von rechtswegen nach den Schuljahren vollziehen müßte, We wachsen nicht, wie es ihren eigenen und den gesellschaftlichen Notwendigkeiten entspräche, in die Arbeitsmethoden, Gesetze, Spannungen und geistigen Ueber lieferungen des Volksganzen und der ihnen zubestimmten Schichten hinein — sie stehen draußen wie Verbannte in einem abseitigen Raum. * Was weiß man von ihnen? So gut wie nichts und jedenfalls kaum mehr als dies: daß sie, die abgeschnürt vom Leben sind, das allein Leben heißen darf, mit einer begreiflichen Willfährig keit den politischen Rattenfängern Gefolgschaft leisten, die ihre Unerfahrenheit und ihren Tatendrang zu nutzen verstehen. Und Loch käme es darauf an, tiefer in diese Welt einzudringen, die sich neben der eigentlichen neu gebildet, hat. Denn überläßt man sie immer weiter sich selbst und einer verderblichen Agitation, so ver härtet sie sich mehr und mehr, und die in ihr sich regeMen Kräfte werden vollends an sich und an der Gesellschaft verzweifeln. Schon sind wir diesem Punkt bedenklich nahe ,gerückt. Und wenn es nicht bald gelingt, die unerträgliche Lage ü>er Erwerbslosen, durch ge eignete Maßnahmen erträglicher Zu gestalten, ist -das Gesamtleben der Gesellschaft gefährdet. Voraussetzung solcher Maßnahmen ist die Vertrautheit mit denen, deren Lage gebessert werden soll. In der Absicht, auf die betreffenden Zustände aufmerksam zu machen und so ihre Ver änderung einzuleiten, veröffentlichen wir im folgenden Auszüge aus einem (demnächst im Bruno-Cassirer-Verlag erscheinenden) Manuskript, das über die Lebensumstände der erwerbslosen Ju gend unterrichtet. Sein Verfasser ist Albert Lammein Äetzefinnter, tätiger Mann, der laWL Jahre in SüddeuLWaM lebte und Lmpfts und dann nach Berlin verzog. Warum? Weil er zu denen gehen wollte, „deren Leidensweg am Ende angelangt ist, die an das Zeitalter der Maschine sich selbst verloren hatten und nun auch von diesem abgeschoben waren ins Nichts: Zu den Erwerbslosen. Unter diesen aber Zur erwerbslosen Jugend. Denn nur Lei der Jugend kann ein neuer Lebenswille noch mit so viel Unbefangenheit sich äußern, als aller Schutt der Urteile, von mals es zuläßt, -7- gerade weil hier Erfahrung zum Vergleichen und. damit Verleitung zum bloßen Widerspruch fehlte Um diese' Jugend kennen Zu lernen und ihr Zu helfen, verschaffte sich Lamm eine Stelle als Zeichenlehrer an einem Jugendheim für Erwerbslose, das vor kurzer Zeit. geschloffen wurde.. Der Wert der Einblicke, die er hier erhielt, wird noch durch den der Haltung erhöht, mit dD er dem Uebermaß der Not entgegen- zutreten sich bemühte. Kurort Merlin . »E, im- IM Denn Berlin heute die Menschen starker als je verbraucht, so bemüht es sich doch auch doppelt um ihre Auffrischung, damit sie sich dann wieder besser verbrauchen können. Und diese Fürsorge ist bereits so weit gediehen, daß man die Erholung nicht einmal mehr in Wannsee suchen muß, sondern sie in der Stadt selber findet, dort, wo die Unruhe am größten ist. Lauter kleine, ihr dienstbare Oasen sind während der letzten Monate entstanden. Sie liegen mitten in der Krise und dem Wahlkampf und nur einen Schritt von den nächsten Sträßenkämpfen entfernt. So ist zum Beispiel der Dachgarten eines Hochhauses gegen über dem Anhalter Bahnhof ganz der Erholung gewidmet. Man durchstiegt im List zehn Stockwerke, in denen das Geschäftsleben wo nicht Müht, so doch vegetiert, und erreicht eine Plattform, die den Rang eines Höhenluftkurorts beanspruchen darf. Denn sie ist nicht einfach eine asphaltierte Rechtecksfläche, sondern eine Art künstlicher Alm» Saftige grüne Wiesen dehnen sich unmittel bar über den stickigen Büros, und aus dem Erdreich der Kassa bücher und Akten sprießt eine üppige Flora in zahllosen Kübeln" empor. Hier scheint die Sonne leuchtender als drunten in der Liefe, hier weht der Wind wie um Gipfel. Der besondere Zauber dieser tzimmelslandschaft besteht aber darin/ daß sie eine Menge Liegestühle enthält, die zur kostenlosen Benutzung sreigegeben sinh. Wer Will, kann in ihnen von früh bis in die Ncht hinein die Zeit vertrödeln, wenn er sie hat, und sich einbilden, auf der Terrasse eines Luftschlosses zu weilen. Zwar erblickt man von ihr-aus nur Berlin, das man kennt, aber ein anderes als das bekannte, dem man glücklich entronnen ist» Fremd wie ein blaues Tellergemälde schimmert die Stadt. Ihre Armut, ihre Erwerbslosen und ihre politischen Wirren werden durch die Dächer verborgen, die sich nach allen vier Himmelsrichtungen erstrecken und in eine leichte Dunsthülle getaucht sind, der allein die Kuppeln, Türme und Hochhäuser entsteigen. Ist das noch Berlin? Nicht die Stadt selber,^ ihr unwirklicher Glanz dringt zu den Liegestühlen hinauf -- ein Glanz, der sich Von den Straßen und Plätzen abgelöst hat und den reinsten Sommerfrischenfrisden verbreitet. Die Kurgäste laben sich an dem Frieden, lassen sich bräunen und genießen das Panorama, aus dem . sie stammen, wie eine M sie nie durch ¬ messen werden. Um die Illusion noch vollkommener zu machen, steht ihnen überdies ein Fernrohr zur Verfügung, das nicht so sehr die Annäherung der Schaüobjekte als Me Versetzung in ein entlegenes Jenseits bezweckt. Diese der Erholung günstige Abgeschiedenheit wird auch aus ebener Erde neuerdings zu erreichen versucht. Merdings ist die Sehnsucht nach ihr im StraßMN schwerer zu befriedigen als hoch über den Dächern, und es bedarf schon besonderer Vorkeh rungen, um sie hier unten ungetrübt zu verwirklichen. Ein vor kurzem eröffnetes Cafe, das dicht neben einem Verkehrszentrum liegt, vermittelt seinen Gästen dadurch die gewünschte Entspan nung, daß es sie in einen submarinen Naturschutz park verpflanzt. Zwischen den einzelnen Tischen sind leuchtende Glaskästen ausgestellt, in denen die merkwürdigsten Fische sorglos herumschwimmen. Sie nahen Ar rauschenden Gewändern, schillern in bunten Färben und tragen schwierige lateinische Namen, M für alle Fälle auf.kleinen Schildern verzeichnet sind. Aber man muß zum Glück ihre Namen nicht auswendig lernen, sondern braucht nur die Bewegungen zu verfolgen, die diese Unterwaffer- gsschöpfe vollführm während man sie unaufhörlich und sinn los an bleich Farnen vorbeiziehen ficht, beginnt man selber von der Oberwelt zu genesen. Das Bei spiel der innerlich erhellten Aquarien verführt sämtliche Herzen, und es ist, als ließen sie sich allmählich von der stummen Weisheit der Fische erfüllen. VM sich' die Gäste, auch darum der Ruhe so willfährig hin, weil ihnen durch das Treiben in den perlenden Gewässern die Aussicht auf die Nachb^rtische verdeckt wird. Die gläsernen Wände verwehren den Gesichtern, ihnen aufsteigen wollen, schreckhaft deutlich zu werden, und machen hie Worte unhörbar. So bleibt man allein in der Gesellschaft der schweigsamen Wesen zurück und ist ihnen nachzueifern genötigt. Himmel und Meeresgrund liegen mitten in Berlin. Und ich weiß nicht, was wunderbarer ist: daß man gar nicht erst verreisen muß, um in ihren Höhen und Tiefen wie in Kurorten Erholung Zu finden oder daß man von der langen Reise nach diesen uner meßlichen Fernen mit einer Plötzlichkeit ohnegleichen zurückkehren