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H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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Bibliographic data

fullscreen: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Manuscript

Persistent identifier:
BF00043386
Title:
H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]
Shelfmark:
H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930
Document type:
Manuscript
Collection:
Holdings and special collections
Year of publication:
1930
Copyright:
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Full text

Worte zu einer unverständlichen Luftbrandung, die ganz an 
genehm klingt, und manchmal singt sogar Chevalier, Nach dem 
Essen benutze ich das Eäfs am entgegengesetzten Platzende, 
zwischen leeren Stühlen beinahe der einzige Gast. Zch träume 
unter einer aelben Markise, berausche mich-an dem Gedanken, 
daß es zahlloie Casss gibt und komme mir wie ein Robinson 
vor, der in einen Jnselarchipel rötlicher Marmortischchen ver 
schlagen worden ist. Auf vielen von ihnen stehen blaue 
Siphonflaschen wie Palmen einsam im Süden. 
Bald nach dem Abendessen hebt das Unglück an. Die Cafs- 
stühle rücken noch weiter in den Platz Hinein und verwandeln 
sich unmerklich in Zuschauersitze. Vor ihnen sind weiße Lein 
wandflächen gespannt, die an hölzernen Galgen hochgezogen 
werden. Vier Freilichtkinos — es genügt. Es genügt 
scheinbar doch nicht, denn außerhalb der also auf dem 
freigelassenen Platz, der allerdings nicht vorhanden ist, drängen 
sich die Einheimischen in Scharen. Sie stehen oder benutzen dre 
Feldstühlchen, die sie mitgebracht haben. Die Leinwandflächen 
erstrahlen, die CäM verdunkeln sich. DäS ist nicht recht von 
ihnen, denn ein Caf6 muß hell sein. Nur eines von den sechs 
bleibt als Caf6 erhalten, weil es sich einem von Fenstern 
durchlöcherten Haus gegenüber befindet, auf das schlechterdings 
nichts projiziert werden kann. Aber dieses Caf6 liegt abseits 
von den übrigen und wirkt überhaupt so verlassen. 
Gleich nach meiner Ankunft habe ich einer Aufführung bei 
gewohnt und dann nicht wieder. Kaum lehne ich mich erwar 
tungsvoll in mein Strohstühlchen zurück — es ist bereits finster 
und man hat durchaus die Empfindung, in einem abgeschlosse 
nen Raum zu sitzen — so wird mir bewußt, daß ich nicht nur 
auf die Leinwand sehen kann, derentwegen ich Hier meinen 
Kaffee trinke, sondern auf die Flächen zur Rechten und zur Lin 
ken. Sie gehen mich eigentlich nichts an, locken mich aber un 
widerstehlich. In der ersten Stunde laufen überall. Reklamen 
ab, dreimal dieselben, nur in verschiedener Reihenfolge, ganz 
St.-Malo inseriert. Später kommen die Filme. Ich befinde mich 
unmittelbar einem Liebesdrama gegenüber, das sich so langsam 
abwickelt, daß ich hinreichend Zeit habe, nach beiden Seitch W 
blicken. Links rast ein komischer amerikanischer Grpteskfilm, über 
den die Leute wie toll lachen. Einer überkugelt sich fortwährend, 
veranügt sich unter Wasser bei den Fischen, usw. Rechts da 
gegen zieht ein spannendes Kriminalstück herauf, mit Ver 
brechern im Hotelflur und blitzenden Autos: Während ich in der 
Mitte weinen müßte, weil der.Held seine Geliebte im.Mich 
läßt, hätte ich, streng genommen, links mit den andern zu 
lachen und rechts den Atem erregt anzuhaltem Ich zerspalte 
mich zuletzt in drei Zuschauer, die nichts mehr miteinander 
eemein haben. Die verlassene Geliebte schlägt Vurzelbäume, 
und der Held geradeaus wird zUM Mörder. Die drei Zuschauer 
Überwerfen sich auf dem Heimweg und wollen nicht länger zu- 
sammenbleiben. Nachts braust und rauscht die Bedürfnisanstalt 
lauter als sonst. ° 
Mei Filme auf einen Schlag - meine Kinoleidenschoft hat 
ryre Grenzen (Wie wäre es übrigens, wenn man in St. Malo 
dafür drehte? Das Städtchen eignet sich ausgezeichnet 
Sehenswürdigkeiten. 
Wer sich m St-Malo aufhält, kann dem Mont-St.- 
Michel mcht entgehen, Ansichtskarten, Farbdrucke und Pho 
tos spiegeln ihn tausendfach wider, und man weiß bald das 
Original auswendig, ohne es je erblickt zu haben. Seine 
Besichtigung wäre mithin überflüssig, aber wer vermöchte der 
Verfuhrungskraft der vielen Autocars zu widerstehen die Tag 
ftw Tag dorthin fahren und ihre Exkursionen auf Schritt und 
Tritt anpreisen? Die Konstatierwut der Menschen ist unersätt- 
und auch ich unterliege ihr an einem Tag, den mein 
Hoteiportier schön nennt. Warum, ist mir unklar, denn heißer 
konnte es nicht gut sein, und wir fahren noch dazu über lauter 
baumlose Alleen. Endlich kommt zu Gesicht, was ich in und 
ohne Rahmen schon so oft zum Ueberdruß vor Augen gehabt 
habe Das Objekt macht natürlich nicht den erwarteten Ein 
druck, wirkt überhaupt nicht wie ein Urbild, sondern eher wie 
eine nach den Vervielfältigungen hergestellte Rekonstruktion. 
Das rst die Rache an der Photographie: daß das Original 
durch seine Echtheit verliert. 
Wenn man das Gebiet des Mont-St.-Michel betreten hat, 
ist man unverzüglich seiner Bewegungsfreiheit beraubt. Die 
Ankunftzeiten der meisten Autocars sind mit den Besichti 
gungszeiten so geschickt kombiniert, daß man zuerst eine Stunde 
in einem der zahlreichen Restaurants zubringen muß, von 
denen die einzige Straße des Orts besetzt ist. Diese Straße 
ist einem Alpdruck ähnlich und erinnert an die von Lourdes. 
^st der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert, so 
der zum Himmel frommer Sehenswürdigkeiten mit eitel Tand. 
Ein unerträgliches Gemisch von religiösen Gegenständen, 
Touristenbelangen und Andenkenartikeln füllt die Enge, in 
der es nach Küche riecht, nach Trinkgeldern und nach 
Fremden. 
Es ist heißer als heiß, und der erste Schub wartet vor 
der Kathedrale auf Einlaß. Eine Menschenherde, die sich, so- 
Zauberers ein Täubchen nach dem anderen herausflattert, 
so tauchen innerhalb der Wälle lauter verschiedene Quartiere 
auf. Die Hexerei wird durch das Mm begünstigt. 
Eine Art von Hauptstraße halbiert zwar die Stadt, aber sie 
ist so gewunden, daß ich öfters eine Seitenstraße mit ihr ver 
wechselt habe. Nicht zu meinem Schaden bin ich regelrecht in 
die Irre gegangen und nach wildfrenkden Gegenden verschla 
gen worden. Da ist ein beinahe moderner Baumplatz mit 
mehreren offiziellen Gebäuden; eine mittelalterliche KomM 
nation aus Kathedrale, Torbogen und Treppchen; eine stille 
Provinzstraße zwischen Wall und Wall. Abgeschlossene Winkel 
aM Genua sind eingespxengt Und ein richtiges Matrosen- 
viertelchen mit einer Music. Hall, die wie ein Osterei grell 
angemalt ist und sich in einem Gastenschlauch verbirgt. 
Dieses Klein-Marseille öffnet sich nach dem, F i sch markt 
zu. Nicht so, als ob sich nur hier die Fische sammelten. Ueber- 
all auf dem Straß enpflaster Hocken Weiber mit Körben, in 
denen Fische liegen, schöne Fische, die wie Perlmutt glänzen und 
so zierlich ornameUtiert sind, als seien sie in den Wiener Werk 
stätten hergestellt. Der Fischmärkt. selber wird fast ganz von 
den kreisrund angeordneten Ständen ausgefüllt, über die sich 
ein Zeltdach spannt. Ein Karussell, das von Restaurants um 
ringt ist, in denen man verspeisen kann, was unter dem Zelt 
heftig zappelt. Voller Todesangst wehren sich die Langusten 
dagegen, bei lebendigem Leib nach Gewicht verkauft zu werden. 
Aber es hilft ihnen nichts, denn die Händler packen sie einfach 
bei den Scheren und fesseln die Körper mit Bindfäden. Ich 
möchte den Tag der Langusten-Revolution nicht erleben. Es 
wird ein Tag der Rache sein, wenn sie anrücken, die roten 
Legionen, und ihre Feinde in die Beine zwicken, gefolgt von 
den Tanks der Krustentiere And den Kampfformationm der 
Schnecken und Austern... 
Woher es rührt, daß die vpn Mauern eingeschnürte Stadt 
sich so grenzenlos weitet, ist mir ein Rätsel. Sind es die fünf 
stöckigen Häuser? Die vielen vollgepfropften Geschäfte? Die 
Menschenströme und das: „l tbiM so"/das ewige: „VKat"? 
Ich weiß es nicht. Ich bewundere nur den Geist der Ein 
wohner, die diesen mikroskopisch kleinen Jnselraum so einge 
richtet haben, daß man in ihm Visionen haben kann wie sonst 
nur in riesigen Städten. Und sch verstehe gut, daß außer 
Chateaubriand auch noch Lümennais und andere berühmte 
Franzosen gerade in St. Malo zur Welt gekommen sind. 
Drei auf einen Schlag. 
Ich liebe leidenschaftlich das Kino (was nicht heißen soll, 
daß ich mich für den heutigen Tonfilm einsetze). Daß auch 
diese Liebe nicht schrankenlos ist, habe ich erst in St. Malo 
erfahren. 
Man wird sich schon gefragt haben, wo die Caf 6 s liegen. 
Denn was wäre eine Stadt,vor allem eine französische, ohne 
Caf^s? St. Malo verfügt über einen einzigen großen Platz, 
der auf der einen Seite von Häusern, auf der anderen von der 
unvermeidlichen Ringmauer begrenzt wird. Der Platz ist natür 
lich gar nicht groß, aber das gehört eben zur Hexerei. Auf ihm, 
der ein länglicher Korridor ist, sind nicht nur sechs Cafäs, 
sondern auch noch ein Restaurant untergebracht. Macht zu 
sammen sieben Lokale. Sie schieben ihre Tische so weit vor, 
daß sich die Autos nur schwer durchzwängen können. Wie sie 
sich behutsam vorwärts bewegen, gleichen sie den Dampfern, 
die sich während der Ebbe eine schmale Fahrrinne suchen. Da 
ich je nach der Tageszeit das Caf6 wechsle, sehe ich den Platz 
rmmer aus einer neuen Perspektive. Vormittags zum Beisviel 
sitze ich in einem Cass, das dicht bei einem Radiogeschäft 
liegt. Durch den Schalltrichter wird: „Hallo, hallo!" gerufen 
und in einemfort laut gesprochen. Seit der Erfindung des 
Radios hat die Geschwätzigkeit im der Welt noch beträchtlich 
zugenommen. Hört man aber nicht zu, so verschmelzen die 
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Param« glänzen im Master. Der Mond rst ganz gelb. 
Großstadt s» mlmaturv. 
Da die Wallpromenads nur kurz ist, müßte die Stadt von 
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