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Nicht die Typisierung des Films ist verv^l-cd-Im
«eg-nteil: statt des wahllosen Experimentierens
Bon T. Kraeauer.
Die Filmproduttion hat sich so stabilisiert wie das
Publikum. Ihre Erzeugnisse weisen typische, immer wieder
kehrende Motive und Tendenzen auf, und selbst die vom
Durchschnitt abweichenden Filme bieten kaum noch eine Ueber-
raschung. Eine Verfestigung, die sich sowohl auf die Filmfabel
wie auf das technische Verfahren erstreckt. Die Außenseiter, also
etwa die Filme: „Die freudlose Gaffe", „Manege", „Die
Hose", „Primanerliebe", „Therese Raquin", lassen sich zählen.
ES ist an der Zeit, mit dieser Produktion abzurechnen. Sie
ist dumm, verlogen und nicht selten gemein. Sie dürfte so nicht
fortgesetzt werden.
Ihre Liquidierung wäre um so notwendiger. Äs die FLm-
freudigkeit während der letzten Jahre gewaltig zugenommen
hat. Unzählige neue Kinos sind entstanden, die sich Paläste
nennen, und der Kreis der eingeschworenen Filmverächter
stirbt auS. Von den Arbeitern in den Vorstadtkinos an bis
zur Großbourgeosie in den Palast - Etablissements strömen
heute dem Film sämtliche Schichten der Bevölkerung zu;
am stärksten vermutlich die kleineren Angestellten, die sich
seit der Rationalisierung unserer Wirtschaft nicht nur ab
solut, sondern auch relativ vermehrt haben. Ist aber der
Film in die Massen gedrungen, so find seine Produzenten
jedenfalls nicht allein für ihre Ware verantwortlich zu machen.
In ihrem eigenen Interesse müssen sie die Bedürfnisse der Kon
sumenten zu befriedigen suchen, und sogar Hugenberg be
herrscht nur bedingt den Markt. Die Kritik der gegenwärtigen
Produttion richtet sich mithin keineswegs ausschließlich gegen
die Industrie, sie wird genau so an der Öffentlichkeit geübt,
die dieser Industrie sich auszuleben erlaubt. Mitgefangen,
mitgehangen — das gilt hier in strengem Sinn.
Daß die Anklage gegen den heutigen Film nicht zur still
schweigenden Rechtfertigung des augenblicklichen Theaters
dienen kann und soll, braucht hoffentlich nicht erst ausdrücklich
versichert zu werden. Wenn sie durch eine Untersuchung der
deutschen Verhältnisse belegt wird, so heißt das ebenso
wenig, Kß der ausländischen (nichtrussischen) Produttion ein
Vorrang vor der eigenen eingeräumt werde. Vor allem die
amerikanischen Fabrikate, die in letzter Zeit zu uns gekommen
sind, wären, mit Ausnahme verschiedener, allerdings erstaun
licher Spitzenleistungen, am besten gleich drüben geblieben.
Aber das deutsche Elend betrifft uns unmittelbarer als das,
der andern. «
Der Heutige Iilm und seinWuötißum
schon eher die Abwandlung bestimmter Vorlagen, außer
dem vermöchte ja auch der größte Konzern nicht L.
Woche neue und originelle Muster zu liefern. Verwerflich ist
die G esinnung der Filme. In allen Typen, die sich heraus
kristallisiert haben, wird unsere gesellschaftliche Wirklichkeit aus
bald idiotisch harmlose, bald verruchte Weise verflüchtigt, be
schönigt, entstellt. Genau das, was auf die Leinwand proji
ziert werden sollte, ist von ihr weggswischt, und Bilder, die
uns um das Bild des Daseins betrügen, füllen die Fläche. Be
darf es der Beispiele? Ein Neberblick über unsere Durch
schnittsproduktion genügt.
Um nur ja nicht die Gegenwart zu zeigen, werden in den
Spielfilmen tatsächlich die abenteuerlichsten Fluchtver
s u ch e gemacht. Die Kamera, die an jeder Straßenecke stehen
könnte, durchrast im Atelier ferne Zeiten und Räume, mit
denen wir nichts mehr zu tun haben. Es muß nicht der Luther
der Schullesebücher sein, Otto Gebühr oder die Jugend der
Königin Luise, es muß überhaupt kein GeschichtSheros ein
springen, der von dem wesentlicheren Heroismus namenloser
Menschen ablenkt, — die jüngste Vergangenheit ist schon so
weit von uns entfernt, daß sie uns wieder nahe gebracht wer
den kann. Ihre verschollenen Lustspielstoffe sind den modernen
Filmen gerade rechi, vorausgesetzt, daß die Lustigkeit weniger
dem „Simplizifsimus" als den „Fliegenden Blättern" enr-
stammt. Vor allem haben es die abgeschafften Fürstenhöfe
den Manuskriptautoren ongetan. An diesen Höfen findet sich,
was das republikanische Publikum nach der Meinung der
Filmgesellschaften ersehnt: ein erlauchter Kreis von Standes
herren, Galanterie aus Zeitvertreib, Glanz der Kostüme und
frisch gebohntes Parkett. Die Stücke sind nicht zu zählen, in
denen der Glanz neu ersteht, und käme es nur auf das Lächeln
in Dragoneruniform an, so hätte Harry Liedtke längst wieder
die Menge für das alte Regime gewonnen. Er ist der Mann
nach dem Herzen der Marlitt und der Held vieler Operetten.
Je abgetakelter die Operetten sind, desto mehr eignen sie
sich offenbar für die Verfilmung. „Der Bettelstudent", „Der
Orlow", „Die Geliebte seiner Hoheit" — in Schwärmen fallen
sie über die Zuschauer her, mit ihren leichtsinnigen, aber
liebenswerten Prinzen, ihren Feenschlössern und faden
Couplets. Der Plunder, der nach der Revolution in Staub
zu zerfallen schien, gebärdet sich quicklebendig. Seine Dar
bietung ist gewöhnlich eine günstige Gelegenheit, auf Wien
; zurückzugreifen, das die Berliner Fabrikanten ins Herz ge-
! schloffen babem weil es su den sichersten Oviaten schort. DaS