Skip to main content

Object: H:Kracauer, Siegfried/01.07/Klebemappe 1928 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

>5895 
Nicht die Typisierung des Films ist verv^l-cd-Im 
«eg-nteil: statt des wahllosen Experimentierens 
Bon T. Kraeauer. 
Die Filmproduttion hat sich so stabilisiert wie das 
Publikum. Ihre Erzeugnisse weisen typische, immer wieder 
kehrende Motive und Tendenzen auf, und selbst die vom 
Durchschnitt abweichenden Filme bieten kaum noch eine Ueber- 
raschung. Eine Verfestigung, die sich sowohl auf die Filmfabel 
wie auf das technische Verfahren erstreckt. Die Außenseiter, also 
etwa die Filme: „Die freudlose Gaffe", „Manege", „Die 
Hose", „Primanerliebe", „Therese Raquin", lassen sich zählen. 
ES ist an der Zeit, mit dieser Produktion abzurechnen. Sie 
ist dumm, verlogen und nicht selten gemein. Sie dürfte so nicht 
fortgesetzt werden. 
Ihre Liquidierung wäre um so notwendiger. Äs die FLm- 
freudigkeit während der letzten Jahre gewaltig zugenommen 
hat. Unzählige neue Kinos sind entstanden, die sich Paläste 
nennen, und der Kreis der eingeschworenen Filmverächter 
stirbt auS. Von den Arbeitern in den Vorstadtkinos an bis 
zur Großbourgeosie in den Palast - Etablissements strömen 
heute dem Film sämtliche Schichten der Bevölkerung zu; 
am stärksten vermutlich die kleineren Angestellten, die sich 
seit der Rationalisierung unserer Wirtschaft nicht nur ab 
solut, sondern auch relativ vermehrt haben. Ist aber der 
Film in die Massen gedrungen, so find seine Produzenten 
jedenfalls nicht allein für ihre Ware verantwortlich zu machen. 
In ihrem eigenen Interesse müssen sie die Bedürfnisse der Kon 
sumenten zu befriedigen suchen, und sogar Hugenberg be 
herrscht nur bedingt den Markt. Die Kritik der gegenwärtigen 
Produttion richtet sich mithin keineswegs ausschließlich gegen 
die Industrie, sie wird genau so an der Öffentlichkeit geübt, 
die dieser Industrie sich auszuleben erlaubt. Mitgefangen, 
mitgehangen — das gilt hier in strengem Sinn. 
Daß die Anklage gegen den heutigen Film nicht zur still 
schweigenden Rechtfertigung des augenblicklichen Theaters 
dienen kann und soll, braucht hoffentlich nicht erst ausdrücklich 
versichert zu werden. Wenn sie durch eine Untersuchung der 
deutschen Verhältnisse belegt wird, so heißt das ebenso 
wenig, Kß der ausländischen (nichtrussischen) Produttion ein 
Vorrang vor der eigenen eingeräumt werde. Vor allem die 
amerikanischen Fabrikate, die in letzter Zeit zu uns gekommen 
sind, wären, mit Ausnahme verschiedener, allerdings erstaun 
licher Spitzenleistungen, am besten gleich drüben geblieben. 
Aber das deutsche Elend betrifft uns unmittelbarer als das, 
der andern. « 
Der Heutige Iilm und seinWuötißum 
schon eher die Abwandlung bestimmter Vorlagen, außer 
dem vermöchte ja auch der größte Konzern nicht L. 
Woche neue und originelle Muster zu liefern. Verwerflich ist 
die G esinnung der Filme. In allen Typen, die sich heraus 
kristallisiert haben, wird unsere gesellschaftliche Wirklichkeit aus 
bald idiotisch harmlose, bald verruchte Weise verflüchtigt, be 
schönigt, entstellt. Genau das, was auf die Leinwand proji 
ziert werden sollte, ist von ihr weggswischt, und Bilder, die 
uns um das Bild des Daseins betrügen, füllen die Fläche. Be 
darf es der Beispiele? Ein Neberblick über unsere Durch 
schnittsproduktion genügt. 
Um nur ja nicht die Gegenwart zu zeigen, werden in den 
Spielfilmen tatsächlich die abenteuerlichsten Fluchtver 
s u ch e gemacht. Die Kamera, die an jeder Straßenecke stehen 
könnte, durchrast im Atelier ferne Zeiten und Räume, mit 
denen wir nichts mehr zu tun haben. Es muß nicht der Luther 
der Schullesebücher sein, Otto Gebühr oder die Jugend der 
Königin Luise, es muß überhaupt kein GeschichtSheros ein 
springen, der von dem wesentlicheren Heroismus namenloser 
Menschen ablenkt, — die jüngste Vergangenheit ist schon so 
weit von uns entfernt, daß sie uns wieder nahe gebracht wer 
den kann. Ihre verschollenen Lustspielstoffe sind den modernen 
Filmen gerade rechi, vorausgesetzt, daß die Lustigkeit weniger 
dem „Simplizifsimus" als den „Fliegenden Blättern" enr- 
stammt. Vor allem haben es die abgeschafften Fürstenhöfe 
den Manuskriptautoren ongetan. An diesen Höfen findet sich, 
was das republikanische Publikum nach der Meinung der 
Filmgesellschaften ersehnt: ein erlauchter Kreis von Standes 
herren, Galanterie aus Zeitvertreib, Glanz der Kostüme und 
frisch gebohntes Parkett. Die Stücke sind nicht zu zählen, in 
denen der Glanz neu ersteht, und käme es nur auf das Lächeln 
in Dragoneruniform an, so hätte Harry Liedtke längst wieder 
die Menge für das alte Regime gewonnen. Er ist der Mann 
nach dem Herzen der Marlitt und der Held vieler Operetten. 
Je abgetakelter die Operetten sind, desto mehr eignen sie 
sich offenbar für die Verfilmung. „Der Bettelstudent", „Der 
Orlow", „Die Geliebte seiner Hoheit" — in Schwärmen fallen 
sie über die Zuschauer her, mit ihren leichtsinnigen, aber 
liebenswerten Prinzen, ihren Feenschlössern und faden 
Couplets. Der Plunder, der nach der Revolution in Staub 
zu zerfallen schien, gebärdet sich quicklebendig. Seine Dar 
bietung ist gewöhnlich eine günstige Gelegenheit, auf Wien 
; zurückzugreifen, das die Berliner Fabrikanten ins Herz ge- 
! schloffen babem weil es su den sichersten Oviaten schort. DaS
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.