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Object: H:Kracauer, Siegfried/01.01/Klebemappe 1921 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Weisßaus im Werlmer Westen. 
Berlin, im März. 
. Das . Haus, in dem ich wohne, ist eines von Lausenden im 
Berliner Westen. Ein völlig normales. Haus, das nicht den ge 
ringsten Wert darauf legt, aus der Masse der übrigen hewsrZu- 
stechen. Es- hat so Mb soviole Kubikmeter umbauten Raumes, vier 
Dockwerke, in deren jedem > zwei Wohnungen angeordnet sind, und 
einen Lifr, der fast immer funktioniert. Die Treppe ist mit einem 
Läufer bedeckt/und drückt man gleich/links hinter der.Haustür /auf' 
einen Knopf, so geht das Licht im ganzen Treppenhaus an. Ver^ 
antwEngsbewußL kommt das Haus seinen großstädtischen 
Pflichten nach. Nur ein kleines geschwungenes Erkerdach sucht nach 
dep-Simtze zu die Nüchternheit Zu unterbrechen, mit der die 
Fassade der gemeinsamen Sache dient. 
Dieses Haus, 'das scheinbar so fest im Boden wurzelt, ist aber 
nicht ganz geheuer. Freilich kann einer tagelang ein- unö aus 
ausgehen, ohnZ ivgendetwas Zu gewahren, das-wider p-ie Natur- 
gesetzewsMeße. Die Ereignisse ushmen. sich Zeit' und betragen sich 
Werhau-pt so bchutsam, daß-man sie zunächst .für Zu-We Mt. Nach 
uns nach ^st entdeck? man, daß sie nicht ZuMig auftreten, sondern 
MmM Mer -methodischen ZatzigLeLt auLMMderreihen, wie sie- sollst 
nur der Wahnsinn kennt. . ' - . 
/Statt mich in müßige Betrachtungen zu verlieren, will ich lieber 
Mch/öie Tatsachen berichten. Also,, wann /immer,ichsidas Haus ver ¬ 
lasse oder heimkehrs, geschieht es in der unerbetenen Gesellschaft 
fremder Leute. Seien es Mieter oder Besucher: sie überschreiten Zu 
jeder Tages- und Nachtzeit mit mir gemeinsam die Schwelle.-Auf 
den rätselhaften Zuspruch aufmerksam geworden, dessen sich das 
Haus erfreut, habe ich während einer gewissen Frist absichtlich die 
Stunde-Meiner abendlichen Rückkunft bald früher angesetzt, bald 
länger hinausgeschoben; mit dem Ergebnis, daß ich dennoch nie 
mals allein das Haus betrat. Unheimlicher ist aber noch dies: daß 
stets neue Gesichter'austauchen, Herren lind Damen, die sich vorher 
nicht Zeigten. Es ist, als ahnten sie im Dunkeln wein Kommen 
und ballten sich in der menschenleeren Straße plötzlich zusammen. 
Und alle scheinen sie zum Haus zu gehören und finden sich in ihm 
wie selbstverständlich zurecht. Manchmal treiben sie ihren Schaber 
nack mit mir, den ich allerdings längst Zu durchschauen gelernt habe. 
Ich nähere mich etwa dem Haus, ohne eins. Spur von meinen 
AVangsbegleüern zu bemerken. Aber die Helle im Treppenhaus 
verrät mir schon an der Tür, daß sie kurz vorher eingedrmMn sein 
müssen. Mit einer Art von Genugtuung stelle ich fest, daß sie gerade 
iw List hinaufführen, den ich selber verwenden will, und erst im 
vierten Stock landen. Hoch dort oben ist ihr Asyl. Es dauert eine 
Ewigkeit, bis der'List zurückkommt, und-mittlerweile verfinstert sich 
wieder das Haus. Oder die Leute schließen unmittelbar hinter mir 
auf und verlangen noch im Fahrstuhl mitgenommen Zu Werden. 
Nicht selten werden beide Fälle miteinander kombiniert, so daß sich 
gewissermaßen eingeklemmt bin. Unablässig gleitet der List durch 
meinen Schlaf, und erwachs ich nachts einmal, so rauscht er im 
Schacht, und über dis Treppenpodeste stolpert ein fernes Geflüster, 
Das Haus wird von Kaufleuten, einem Fabrikanten, zwei Aerz^ 
Len, einer Schauspielerin, einer Geheimratsfamilie und ein paar 
anderen Berufen bewohnt- Aber selbst werm alle, dlese ParL^ 
Untermieter härten, wäre damit noch keineswegs die Menschen 
fülle erklärt, die gleichzeitig mit mir die Etagen benutzt. Vergeblich 
frage ich mich, wie sie in den Kubikmetern umbauten Raumes. 
untergebracht werden kann. Vielleicht verlängert sich das Haus 
nach Liner mir unbekannten Richtung oder besitzt geheime M 
bauten, die nicht im Adreßbuch stehen. Jedenfalls ist es erschreckend 
überbevölkert. Und ich möchte nur eines wissen: ob auch die anderen 
Mieter gleich mir wie sin Magnet unbekannte Leute ünzishen und 
einfach mit sich inS Haus lockern 
Es wäre durchaus denkbar, daß sich ihrer viele aus dem unge- 
meinen Betrieb heraus nach einem Naturhäuscheu sehnten mit 
einem Mrtcheu. dabei- Ja, das Haus selber ersehnt zaghaft seine 
UerMnerung; nach jenem geschwungenen Erkerdstch zu schließen, 
das entschieden einen AnflW eine 
Torheit! Besteht doch die Herrlichkeit dieses Mietshauses gerade 
darin, daß es wie ein Hafenquartrer tagaus lagern frische An^ 
kömmlinge aufnimmt und nicht nur an der Straße. Liegt, sondern 
auch Straße ist- ' . S. Ameauer^ .. 
/ L. - 
KMurboWewismus / 
Berlin, im März. 
Vor einigen Tagen hat der Abgeordnete Dr.-Wtnschuh 
von der Deutschen StaatsparLei im Reichstag über die Gefahren 
des „Kulturbolschewismus^ gesprochen, der zynisch alte Werts 
herunterreiße. Bei dieser Gelegenheit griff er auch Heinrich 
Mann an, den Präsidemen der Dichierakademie. Und zwar kenn 
zeichnete er „Die große S a ch e", Heinrich Manns neuesten 
Roman, als ein Werk, das nicht weit von der Grenze jenes Bolsche 
wismus entfernt sen 
Dieses- Urteil, das da plötzlich am Rand einer ReichsLagsreds 
austaucht, kennzeichnet mit einem Schlag die Entfremdung, die 
zwischen den literarischen Produzemen und ihren Konsumenten 
eingetreten- ist. Wie tief sie reicht, beweist übrigens nicht nur der 
Ausfall Winschuhs, sondern auch der Prozeß gegen Penzoldt, über 
dessen Verlauf unsere Leser durch den Artikel: „Der Dichter und 
die Welt" unseres Münchener Mitarbeiters gerade jetzt vorzüglich 
unterrichtet worden sind. Wenn die Prozeßverharcklungeu eines 
gelehrt haben, so dies: daß vsm Publikum zu den Dichtern kaum 
noch ein Notsteg führt. Die Werke, der Dichter leben von Mißver- 
Mchmffen; aber die Mißverständnisse, die ihnen heute zustoßen, 
betreffen sie gar nicht mehr. Es ist, als würden die Worte der 
Schriftsteller auf ihrem Weg zum Leser durch einen Dämon ser- 
tauscht. 
Um die Aeußerung des Abgeordneten Mnschuh Wer Heinrich 
Mann richtig zu stellen: dessen Roman grenzt nicht nur nicht an den 
ominösen „Kulturbolschewismus", er richtet sich im Gegenteil 
wider manche Mächte der Zerstörung und mittelbar auch wider 
jene. Tendenzen, die bei uns gern und vag unter dem Namen 
Bolschewismus Zusammengefaßt werden. Gewiß handelt das Buch 
von Schiebern und GrsßspekulanLen und Zeigt eine Jugend, die in 
den Fragen des Geldverdienens und des Geschlechtsverkehrs skrupel 
los ist; aber doch nur zu Zwecken, die gerade im bürgerlichen Sinne 
als durchaus moralisch anzusprechen sind. Muß der Leser erst lange 
suchen, um diese, moralischen Absichten Zu entdeckend Keineswegs; 
der Dichter stößt ihn vielmehr mit der Nase darauf. Ausdrücklich 
läßt er durch feinen Mittelsmann im Buch, den Oberingenieur 
Birk, die irregeleitete Jugend darüber aufklären, daß die „große 
Sache" im Leben Arbeit, sei und nicht unverdienter Gewinn, Liebe 
und nicht die Befriedigung flüchtiger Bedürfnisse, gehaltvolle FrZude 
und nicht öder Betrieb. 
Daß Aussagen von solcher Unzweideutigkeit, die, nebenbei be 
merkt, die Komposition des ganzen Romans bedingen, einfaK nicht 
zur Kenntnis genommen werden, ist um so erstaunlicher, rüs ein 
Anlaß zu politischer Gegnerschaft in diesem Falle nickt belteht- 
Ewseil' nten und Uebertreibungen sind eine erklärliche Folge des 
politistz.n Tageskampfes, und ein Dichter, der die Politik ein-- 
ÜLZiebsi muß bei Andersdenkende mit Verweckslungen rechnen. 
Aber hier geht es ja nicht um das Werk eines Mannes, der sich 
im feindlichen Lager befände, sondern um den Roman eines. Vor 
kämpfers der Demokratie. Wie Heinrich Mann von jeher ein guter 
Europäer gewesen ist, so hat er sich stets für die Verwirklichung 
echter Demokratie eingesetzt. Wenn er in ihrem Dienst — ich 
erinnere an seinen Vorkriegsroman: „Der Untertan" — die 
Similiwerte entlarvte, die im wilhelminischen Deutschland Geltung 
besaßen, darf man ihn darum noch nicht in die Nähe derer rücken, 
die nach Winschuhs Worten alte Werte herunterreißen. Das Um 
gekehrte trifft zu. Wie ich in meiner Analyse des Romans: „Die 
große Sache" (vergl. LiLeraturblatt der „Frankfurter Zeitung" 
vom 9. November 1930) uachgewiesen habe, ist er gerade ein 
Träger der Tradition. 
Vermutlich ist Klsi Winschuh von Heinrich 
Mann gar nicht so weit entern/ Daß er dennoch die Stimme des 
Dichters nicht hört, ist ein erschütterndes Zeichen für den gegen 
wärtigen ^-prachzersall. Viele Sprachen werden im heutigen 
DeuL'chland gesprochen, und kaum eine, es sei denn die plane des 
Durchschnitts, dringt über eine enge Gemeinde hinaus. Es wird 
einer viel größeren EckennLmsüereitschM als der jetzigen und der 
Anstrengung des guten Willens bedürfen, damit dieser anarchische 
Zustand einem der Verständigung weiche. 
S. Krakauer-
	        
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