Weisßaus im Werlmer Westen.
Berlin, im März.
. Das . Haus, in dem ich wohne, ist eines von Lausenden im
Berliner Westen. Ein völlig normales. Haus, das nicht den ge
ringsten Wert darauf legt, aus der Masse der übrigen hewsrZu-
stechen. Es- hat so Mb soviole Kubikmeter umbauten Raumes, vier
Dockwerke, in deren jedem > zwei Wohnungen angeordnet sind, und
einen Lifr, der fast immer funktioniert. Die Treppe ist mit einem
Läufer bedeckt/und drückt man gleich/links hinter der.Haustür /auf'
einen Knopf, so geht das Licht im ganzen Treppenhaus an. Ver^
antwEngsbewußL kommt das Haus seinen großstädtischen
Pflichten nach. Nur ein kleines geschwungenes Erkerdach sucht nach
dep-Simtze zu die Nüchternheit Zu unterbrechen, mit der die
Fassade der gemeinsamen Sache dient.
Dieses Haus, 'das scheinbar so fest im Boden wurzelt, ist aber
nicht ganz geheuer. Freilich kann einer tagelang ein- unö aus
ausgehen, ohnZ ivgendetwas Zu gewahren, das-wider p-ie Natur-
gesetzewsMeße. Die Ereignisse ushmen. sich Zeit' und betragen sich
Werhau-pt so bchutsam, daß-man sie zunächst .für Zu-We Mt. Nach
uns nach ^st entdeck? man, daß sie nicht ZuMig auftreten, sondern
MmM Mer -methodischen ZatzigLeLt auLMMderreihen, wie sie- sollst
nur der Wahnsinn kennt. . ' - .
/Statt mich in müßige Betrachtungen zu verlieren, will ich lieber
Mch/öie Tatsachen berichten. Also,, wann /immer,ichsidas Haus ver ¬
lasse oder heimkehrs, geschieht es in der unerbetenen Gesellschaft
fremder Leute. Seien es Mieter oder Besucher: sie überschreiten Zu
jeder Tages- und Nachtzeit mit mir gemeinsam die Schwelle.-Auf
den rätselhaften Zuspruch aufmerksam geworden, dessen sich das
Haus erfreut, habe ich während einer gewissen Frist absichtlich die
Stunde-Meiner abendlichen Rückkunft bald früher angesetzt, bald
länger hinausgeschoben; mit dem Ergebnis, daß ich dennoch nie
mals allein das Haus betrat. Unheimlicher ist aber noch dies: daß
stets neue Gesichter'austauchen, Herren lind Damen, die sich vorher
nicht Zeigten. Es ist, als ahnten sie im Dunkeln wein Kommen
und ballten sich in der menschenleeren Straße plötzlich zusammen.
Und alle scheinen sie zum Haus zu gehören und finden sich in ihm
wie selbstverständlich zurecht. Manchmal treiben sie ihren Schaber
nack mit mir, den ich allerdings längst Zu durchschauen gelernt habe.
Ich nähere mich etwa dem Haus, ohne eins. Spur von meinen
AVangsbegleüern zu bemerken. Aber die Helle im Treppenhaus
verrät mir schon an der Tür, daß sie kurz vorher eingedrmMn sein
müssen. Mit einer Art von Genugtuung stelle ich fest, daß sie gerade
iw List hinaufführen, den ich selber verwenden will, und erst im
vierten Stock landen. Hoch dort oben ist ihr Asyl. Es dauert eine
Ewigkeit, bis der'List zurückkommt, und-mittlerweile verfinstert sich
wieder das Haus. Oder die Leute schließen unmittelbar hinter mir
auf und verlangen noch im Fahrstuhl mitgenommen Zu Werden.
Nicht selten werden beide Fälle miteinander kombiniert, so daß sich
gewissermaßen eingeklemmt bin. Unablässig gleitet der List durch
meinen Schlaf, und erwachs ich nachts einmal, so rauscht er im
Schacht, und über dis Treppenpodeste stolpert ein fernes Geflüster,
Das Haus wird von Kaufleuten, einem Fabrikanten, zwei Aerz^
Len, einer Schauspielerin, einer Geheimratsfamilie und ein paar
anderen Berufen bewohnt- Aber selbst werm alle, dlese ParL^
Untermieter härten, wäre damit noch keineswegs die Menschen
fülle erklärt, die gleichzeitig mit mir die Etagen benutzt. Vergeblich
frage ich mich, wie sie in den Kubikmetern umbauten Raumes.
untergebracht werden kann. Vielleicht verlängert sich das Haus
nach Liner mir unbekannten Richtung oder besitzt geheime M
bauten, die nicht im Adreßbuch stehen. Jedenfalls ist es erschreckend
überbevölkert. Und ich möchte nur eines wissen: ob auch die anderen
Mieter gleich mir wie sin Magnet unbekannte Leute ünzishen und
einfach mit sich inS Haus lockern
Es wäre durchaus denkbar, daß sich ihrer viele aus dem unge-
meinen Betrieb heraus nach einem Naturhäuscheu sehnten mit
einem Mrtcheu. dabei- Ja, das Haus selber ersehnt zaghaft seine
UerMnerung; nach jenem geschwungenen Erkerdstch zu schließen,
das entschieden einen AnflW eine
Torheit! Besteht doch die Herrlichkeit dieses Mietshauses gerade
darin, daß es wie ein Hafenquartrer tagaus lagern frische An^
kömmlinge aufnimmt und nicht nur an der Straße. Liegt, sondern
auch Straße ist- ' . S. Ameauer^ ..
/ L. -
KMurboWewismus /
Berlin, im März.
Vor einigen Tagen hat der Abgeordnete Dr.-Wtnschuh
von der Deutschen StaatsparLei im Reichstag über die Gefahren
des „Kulturbolschewismus^ gesprochen, der zynisch alte Werts
herunterreiße. Bei dieser Gelegenheit griff er auch Heinrich
Mann an, den Präsidemen der Dichierakademie. Und zwar kenn
zeichnete er „Die große S a ch e", Heinrich Manns neuesten
Roman, als ein Werk, das nicht weit von der Grenze jenes Bolsche
wismus entfernt sen
Dieses- Urteil, das da plötzlich am Rand einer ReichsLagsreds
austaucht, kennzeichnet mit einem Schlag die Entfremdung, die
zwischen den literarischen Produzemen und ihren Konsumenten
eingetreten- ist. Wie tief sie reicht, beweist übrigens nicht nur der
Ausfall Winschuhs, sondern auch der Prozeß gegen Penzoldt, über
dessen Verlauf unsere Leser durch den Artikel: „Der Dichter und
die Welt" unseres Münchener Mitarbeiters gerade jetzt vorzüglich
unterrichtet worden sind. Wenn die Prozeßverharcklungeu eines
gelehrt haben, so dies: daß vsm Publikum zu den Dichtern kaum
noch ein Notsteg führt. Die Werke, der Dichter leben von Mißver-
Mchmffen; aber die Mißverständnisse, die ihnen heute zustoßen,
betreffen sie gar nicht mehr. Es ist, als würden die Worte der
Schriftsteller auf ihrem Weg zum Leser durch einen Dämon ser-
tauscht.
Um die Aeußerung des Abgeordneten Mnschuh Wer Heinrich
Mann richtig zu stellen: dessen Roman grenzt nicht nur nicht an den
ominösen „Kulturbolschewismus", er richtet sich im Gegenteil
wider manche Mächte der Zerstörung und mittelbar auch wider
jene. Tendenzen, die bei uns gern und vag unter dem Namen
Bolschewismus Zusammengefaßt werden. Gewiß handelt das Buch
von Schiebern und GrsßspekulanLen und Zeigt eine Jugend, die in
den Fragen des Geldverdienens und des Geschlechtsverkehrs skrupel
los ist; aber doch nur zu Zwecken, die gerade im bürgerlichen Sinne
als durchaus moralisch anzusprechen sind. Muß der Leser erst lange
suchen, um diese, moralischen Absichten Zu entdeckend Keineswegs;
der Dichter stößt ihn vielmehr mit der Nase darauf. Ausdrücklich
läßt er durch feinen Mittelsmann im Buch, den Oberingenieur
Birk, die irregeleitete Jugend darüber aufklären, daß die „große
Sache" im Leben Arbeit, sei und nicht unverdienter Gewinn, Liebe
und nicht die Befriedigung flüchtiger Bedürfnisse, gehaltvolle FrZude
und nicht öder Betrieb.
Daß Aussagen von solcher Unzweideutigkeit, die, nebenbei be
merkt, die Komposition des ganzen Romans bedingen, einfaK nicht
zur Kenntnis genommen werden, ist um so erstaunlicher, rüs ein
Anlaß zu politischer Gegnerschaft in diesem Falle nickt belteht-
Ewseil' nten und Uebertreibungen sind eine erklärliche Folge des
politistz.n Tageskampfes, und ein Dichter, der die Politik ein--
ÜLZiebsi muß bei Andersdenkende mit Verweckslungen rechnen.
Aber hier geht es ja nicht um das Werk eines Mannes, der sich
im feindlichen Lager befände, sondern um den Roman eines. Vor
kämpfers der Demokratie. Wie Heinrich Mann von jeher ein guter
Europäer gewesen ist, so hat er sich stets für die Verwirklichung
echter Demokratie eingesetzt. Wenn er in ihrem Dienst — ich
erinnere an seinen Vorkriegsroman: „Der Untertan" — die
Similiwerte entlarvte, die im wilhelminischen Deutschland Geltung
besaßen, darf man ihn darum noch nicht in die Nähe derer rücken,
die nach Winschuhs Worten alte Werte herunterreißen. Das Um
gekehrte trifft zu. Wie ich in meiner Analyse des Romans: „Die
große Sache" (vergl. LiLeraturblatt der „Frankfurter Zeitung"
vom 9. November 1930) uachgewiesen habe, ist er gerade ein
Träger der Tradition.
Vermutlich ist Klsi Winschuh von Heinrich
Mann gar nicht so weit entern/ Daß er dennoch die Stimme des
Dichters nicht hört, ist ein erschütterndes Zeichen für den gegen
wärtigen ^-prachzersall. Viele Sprachen werden im heutigen
DeuL'chland gesprochen, und kaum eine, es sei denn die plane des
Durchschnitts, dringt über eine enge Gemeinde hinaus. Es wird
einer viel größeren EckennLmsüereitschM als der jetzigen und der
Anstrengung des guten Willens bedürfen, damit dieser anarchische
Zustand einem der Verständigung weiche.
S. Krakauer-