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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.01/Klebemappe 1921 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Im GngmleU bcflhwo i Ader sich ko 
quent bleibende Jk- 
Möglichkeit, zu seinem vollen Sein zu gelangen, sie binden-' 
ihn bloß, um ihn Zu befreien. Weder vergewaltigt — im aller 
dings unerreichbaren Jdealfall — die Gemeinschaft das Indi 
viduum, noch kann dieses auf Kosten jener sich ausdehnen; 
beide haben ja letzten Endes gar keine von einander unab 
hängige Existenz, sie bestehen vielmehr mit und für einander, 
da seelische Innenwelt sowohl wie kulturell-soziale Außenwelt 
in den gleichen Materiellen Voraussetzungen wurzeln, die dem 
unverbrüchlich geglaubten göttlichen Sinn entfließen. Man 
braucht das Mittelalter nicht romantisch zu vergolden, um zu 
erkennen, Laß aus dem Werke des Thomas von Aquino z. V. 
etwas von. dem Geiste einer solchen Einheitskultur uns ent- 
gegenweht. 
Die in der Gegenwart sich befehdenden Anschauungen über 
die Bedeutung der Autorität sind gleichsam Fragmente dieses 
ELmemschastsideM Es ist vor allem die Neak ion, die heute 
nach dem starken Mann ruft und die Wiedergewinnung einer 
fraglosen, über den Parteien stehenden staatlichen Autorität als 
einziges Mittel der Rettung aus unserem Elend preist. So 
gewiß es nun seine Richtigkeit damit hat, daß jedes Gemein 
wesen starker, zielbewuß'er Leitung bedarf, so wenig kann man 
doch den von den Anhängern des „Autoritätsgedank-sns" ge 
prägten Machtbegriff gelten lassen. Ganz abgesehen da 
von, daß dieser Gedanke heute meistens zur Verbrämung sehr 
realer politischer Ziele dient, er ist auch an sich verwerflich, weil 
er einseitig die Notwendigkeit' des Zwanges betont, ohne die 
Gesinnung der dem Zwange unterworfenen Menschen wesentlich 
mitzuberückW Seine Vorkämpfer werden sozusagen nur 
einen Teil des Urbildes der vollkommenen Gemeinschaft 
gewahr, es bleibt ihnen verborgen, daß Autorität erst dann 
Daseinsberechtigung erlangt, wenn die Seelen sich ihr Zu- 
me gen, wenn sie von einem die Gemeinschaft erfüllenden hohen 
Sinn sicb herleitet. Die Verherrlichung der Macht um ihrer 
selbst willen, wie sie von den Verfechtern des Au-oritätsprinZips 
betrieben wird und betrieben werden muß, weil ihre Sehnsucht 
tto kueto einem historisch überlebten, seelenlos geworden m 
staatlichen Gebilde gilt, führt folgerichtig zur Staatsvergotzung, 
zur Wertminderung individuellen Sems, Zur unerträglichen 
Scheidung von Innenwelt und Gemeinschaftswelt^ Krieg und 
Revolution haben uns d'ese.und noch andere Folaen eines 
rein autoritativen Systems mit so surchtbarer Deutlichkeit ent 
hubt, daß es kaum angebracht erscheint, auf lerne Gefahren 
noch ausdrücklich ^inz"wei''rn 
Ge^krttcher, wrß rsi ^cnein^ng Lei 
Autorität zugunsten der Eigenbedeutung des Einzelmen- 
scheru Der bis auf Luther zurück reichende Mdividualis- 
rrms. Messt verankert m der deuWm LeMAchen Philoso- 
phie, schließt gegenwärtig, wo immer er sich weltanschaulich 
politisch auswirkt, naturgemäß seinen Pakt vorwiegend mit 
den Linksparteien. In taufend Abschaltungen cmftretend, 
von denen der Liberalismus alten Sti^s nur eine schon bei 
nahe überholte Spielart ist, wirft er sich bald ganz allgemein 
zum Verteidiger der oemokratichen Republik gegen den Obrig- 
leilsstaat auf, wacht sich im besonderen bald, bis zur Un 
kenntlichkeit verhüllt, den Genoffenschaftsgedanken zu eigen 
(Natorp) oder setzt sich auch (wie bei G. Landauer Z. B.) für 
einen revolutionären Sozialismus mit anarchistischen Endzie 
len ein, als solcher neuerdings reiche Nahrung aus der russi 
schen Gefühlswelt ziehend; wobei im übrigen nicht vergessen 
werden darf, daß er, als rein geistige Strömung, seinen unkon- 
trollierbaren, dafür aber umso stärkeren Einfluß auf breite 
deutsche Dildungsfchichten ausübt Gerade die jüngsten Polin 
sehen Auswirkungen des deutschen individualistischen Geistes^ 
bedürfen nun einer lSonderen Aufmerksamkeit, weil sie, getra 
gen von dem Willen zur Gemeinschaft, auf den ersten VLick hin 
einer Ueberwindung liberalen Manchestertnms Von innen her 
aus gleickzukommen scheinen. Dieser Geist gibt sich z. B. in 
den verschiedensten deutschen Jugendbewegungen kund, er lebt 
den zablreich emporsprießenden Arbeitsgemeinschaften und 
läßt eine Unmenge von Gesinnungsbünden, von Vereinigungen 
zur inneren Erneuerung usw. erstehen. Man wird sich darüber 
zu verg-ewissern haben, ob der weltanschauliche Unterbau der 
meisten derartigen Gruppen so beschaffen ist, daß das ideale 
Streben, das in ihüen nach Ausdruck ringt, wirklich sein Ziel 
erreichen kann. Fast durchweg beruhen die hier gemeinten Zu- 
sanrmenschlüsse, die wie Pilze aus der Erde schießen und sich 
nur in verhältnismäßig unwesentlichen Pw^rammpunk^n von 
einander unterscheiden, ouf dem Glauben an ein Ich, das auf 
Grund seiner Einsicht und aus freiem Entschluß heraus sich 
mit anderen Jchen harmonisch zur wahren Gemeinschaft ver 
bindet. Der Bestand übermdividueller Mächte wird von den 
Anhängern dieser ganzen Richtung geleugnet und, abgesehen 
bestenfalls von der rein persönlichen Autorität Zufällig g-efun- 
dener charismatischen Führer, gilt ihnen sachlich fest veran 
kerte Autorität, die befiehlt, Gehorsam verlangt und sich den 
Eingriffen Einzelner entzieht, recht eigentlich als das 
teuflische Prinzip Gort lebt nur in den Einzelpersönlichkei 
ten, aus oeren Zusammerk^ng auch einzig der Staat erwächst 
Autontatwe? Zw^ng von leiten des Startes ist durch E^zieb- 
Autorität und Individualismus. 
Von Dr. Siegfried Kraeauer. 
Als im November 1918 der Zusammenbmch einer schon 
langst unterhöhtten Autorität sich vollendete, war Ablehnung 
dieser wie schließlich jeder Autorität überhaupt tief berechtigte 
Notwehr-Handlung des einem unerhörten Druck plötzlich ent 
ronnenen Volks. Inzwischen ist es, aus sattsam bekannten 
Gründen, nicht gelungen, der Auflösung staatlicher Gewalt 
Einhalt zu tun, und die demoralisierenden Folgen des chaoti 
schen Zustands, in dem wir nun schon über zwei Jahre leben, 
wachen sich von Tag zu Tag stärker fühlbar. Dem Chaos ist 
ober um so schwerer zu gebieten, als die zerrüttenden ökonomi 
schen und Politischen Kampfe durch Gegensätze der Welt- 
l nschauungen getragen werden, die so unversöhnlich sind, 
baß noch mcht einmal über die für den Aufbau einer jeden Ge 
meinschaft wesentlichen Vorbedingungen Einstimmigkeit sich er- 
xirlen läßt. Gerade in Bezug auf das heute einer Bewältigung 
besonders bänglich harrende Grundproblem, welche Rolle denn 
Autorität und autoritativer Zwang innerhalb der Gemeinschaft 
Du spielen habe, ein Problem von weltanschaulicher Bedeutung, 
bes^n Lösung part-eipolitflch-ryi Denken sich durchaus entzieht, 
finden sich die geistigen Schichten Deutschlands im großen und 
ganzen in zwei feindliche Lager geteilt. Während die. eine 
Richtung das Heil in einem auf unbedingte Autorität ge 
stützten Regiment erblickt, verwirft die andere Richtung jegliche 
wuto-i^iive Anmaßung als unsittlich und erkennt allein die 
durch Freiwilligkeit ihrer Glider zustande gekommene 
Gemeinschaft an. Es ill für die junge deutsche Demokratie in 
ihrer gegenwärtig so bedrängten Lage Pflicht, zu dieser Frage 
grund-MÜH Stellung zu nehmen. 
In gotterfüllten Zeiten, da noch ein bestimmter hoher Sinn 
alle Gellaltunaen des Daseins dnrchdnngt, weilt man dem 
Urbild der vollkommenen Gemeinschaft näher als in Epochen, 
in denen bloß mel-r die Sehnsucht Einzelner Gen aus der Welt 
gewichenen göttlichen Sinn erreicht. Dem Schoße gemein- 
Amen unerschütterlichen Glaubens entwächst eine Materials 
Einheit? kultur; Gott verUrperr sich in Formen, Ordnungen 
und Machten, durch die sämtliche Angehörige der Gemeinschaft 
innerlich und äußerlich fest miteinander verknüpft werden 
Stets darf die Autorität, als Ausdruck des höch^n Sinnes, 
dcr dem Geilt überhaupt gegeben sein kann unbedingten ^e- 
lorsam fordern. Die auf diesen Sinn sich gründenden Ge 
bräuche, Institutionen, Gliederungen usw. engen den Einzelnen 
Richt NM Gicht ein, sie gewähren ihm mr Gegenteil erst die 
zur G" u 'ck Sdng zu e m wAcher C Im GngmleU bcflhwo i Ader sich konsequent bleibende Jk- 
ziel'<rleistung die Ausgabe echten politischen FührerLums gipselu dividualismus, der den Schwerpunkt rein in das Subjekt ver- 
Jedem Zwang und allen Forderungen sich versagend, durch legt, notwendig den chaotischen Anarchismus heMpf uM 
die das Recht der verschiedenen Persönlichkeiten auf ihr eigenes hereM demrtn mittelbar die Diktatur vor ; gleichviel im übrb 
Innenleben veÄürzt werden Drucke, erblickt der Individualis-Mn, ob ex bloß egoWMe MrLMDMAreAeN maskiert Ob« 
mus in dem Vorhandensein sylchrr Gesinnung, wie überhaupt 
in dem Willen dcr Menschen zum Guten und Wahren, eine 
genüszmLe Bürg-chaft für das Gedeihen der Gemeinschaft. 
Höchstes Ziel ist ihm ein. Staatsgebilde, das aus dem perank 
wormngsvollen Handeln autonomer Individuen gleichsam von 
selber erblüht. 
So hart es klingt: auch dieser Individualismus unserer 
Tage läßt das Urbild der vollkommenen Gemeinschaft zum 
Fragment ve'ckümnurn, er ist im Grunde nichts anderes als 
das genaue Widerspiel der rein autoritativen Aufsasfung. 
Sicherlich verdient ein nur durch äußeren, mechanischen Zwang 
zusammengehaltenes SLaatswesen sittlich geörcmdrMrft Zu 
werden, ja, man müßte es vernichten, wum es sich nicht am 
Ende selber .vernichtete. Aber die individualistischen Träger 
des neuen „Gemeinschaftse«^ vergessen ganz — und 
hierin liegt eine tragische Schuld — daß eine Gemeinschaft sich 
sogar dann nicht rein auf das inwendige Sein ihrer Angehöri 
gen stützen kann, wenn diese seelisch bereits vorgesormt sind, 
o h. wmn ihr Wesen feine Prägung erfahren hat durch einen 
sie alle überwölbenden Si^ zum unantastbaren 
Dogma, zur unbezwüselbaren inneren Autorität wüd, und Zu 
dem genug bestimmte Inhalt» aufwnst, um ihnen die Entfal 
tung in einer eindeutig bestimmten Richtung vorzuschreiLen 
Auch dann noch nämlich bedarf es, aus httr nicht Zu erörtern 
den wLsenZnotMLndigen soziologischen Gründen, stets der 
-äußeren Autorität, die aber nun nicht wehr im Leeren schwebt, 
sondern dem geglaubten Sinn entquillt, was sie rechtfertigt und 
verchrungswürdig. macht. „Kein soziologischer Zusammen 
hang", bemerkt T r o e l t s H einmal (in feinen ^Soz'allehrcH 
der chnstliRsn Kirchen"), Rann dauernd ohne Zwangsmittel 
eristieren. Das ist eine Toi lache des Lebens, und aller Glaube 
an eine ausschließliche Macht der reinen Idee gehört nurwnter 
die spmLualisttschen Illusionen, nicht in das Reich der Wirk 
lichkeit." Was aber selbst für eine einhoitlich fühlende, weil 
an einen bestimmten mc-trrinlLN Sinn gebundene Gemeinschaft 
Z-utrisst, gilt erst recht für ein innerlich zerrissenes Volk, Witz, 
das unfrige es ist. Drß in ihm sämtliche Glieder sich ohm 
autoritativen Zwang freiwillig und reibungslos ineinander 
fügten, wäre möglich nur unter der Voraussetzung einer Präfix 
'bitterten Harmonie, welche die Leibnizsche noch übertrumpfte; 
d h. es ist in Wahrheit unmöglich und auch durch eine indivi 
dualistische Erziehung zur Gemeinschaft nicht zu bewirken.
	        
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