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Object: H:Kracauer, Siegfried/01.06/Klebemappe 1927 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Stern; aber der Stern leuchtet nicht und die Beine der Tillcr- 
girls sind die abstrakte Bezeichnung der Leiber. Wo die Ver 
nunft den organischen Zusammenhang zerfällt und die wie 
immer kultivierte natürliche Oberfläche aufrecht, dort redet 
sie, dort zerlegt sie nur die menschliche Gestalt, damit die un 
verstellte Wahrheit von sich aus den Menschen neu modelliere. 
In dem Massenornament ist sie nicht durchgedrungen, seine 
Muster sind stum m. Die Ratio, die es hervorbringt, ist groß 
genug, um die Masse aufzurufen und aus den Figuren das 
Leben zu streichen. Sie ist zu gering, um in der Masse die 
Menschen zu finden und die Figuren durchscheinend gegen Er 
kenntnisse zu machen. Da sie vor der Vernunft ins Abstrakte 
flieht, wächst die unkontrollierte Natur unter dem Deckmantel 
der rationalen Ausdrucksweise gewaltig herauf und benutzt 
die abstrakten Zeichen zur Darbietung ihrer selbst. Sie kann 
sich nicht mehr wie bei den primitiven Völkern und in den 
Zeiten der religiösen Kulte in Gestaltungen umsetzen, die als 
Symbole mächtig sind. Solche Kraft der Zeichenrede ist aus 
dem Massenornament unter dem Einfluß der gleichen Ratio 
nalität gewichen, die das Aufbrechen seiner Stummheit ver 
wehrt. So gibt sich denn die bloße Natur in ihm, die Natur, 
die sich auch wider die Aussage und Fassung ihrer eigenen 
Bedeutung sträubt. Es ist die jedes ausdrücklichen Sinnes 
bare rationales eerform des Kultes, die im Masssn- 
ornament sich darstellt. Damit erweist es sich als ein Rückschlag 
in die Mythologie, wie er größer kaum gedacht werden kann — 
als ein Rückschlag, der seinerseits wieder die Abgesperrtheit 
der kapitalistischen Ratio gegen die Vernunft verrät. 
Daß es eine Ausgeburt des bloß Natürlichen ist, wird 
durch die Rolle bestätigt, die es im sozialen Leben spielt. 
Die geistig Gutsituierten, die, ohne es wahr haben zu wollen, 
der Anhang des herrschenden Wirtschaftssystemes sind, haben 
das Massenornament noch nicht einmal als Zeichen dieses 
Systems gesichtet. Sie verleugnen die Erscheinung, um sich 
weiter an Kunstveranstaltungen zu erbauen, die unberührt ge 
blieben sind von der im Ltadionmuster gegenwärtigen Realität. 
Die Masse, bei der es sich spontan durchgesetzt hat, ist seinen 
Verächtern unter den Gebildeten insofern überlegen, als sie im 
Rohen die Fakten unverschleiert anerkennt. Mit derselben 
Rationalität, mit der die Träger der Muster im wirklichen 
Leben gemeistert werden, versinken sie im Körperlichen und ver 
ewigen so die derzeitige Wirklichkeit. Preislieder auf die Körper-' 
kultur werden heute nicht nur von einem Walter Stolzing 
gesungen. Sie sind als Ideologien leicht zu durchschauen, 
mag immerhin der Begriff der Körperkultur zwei ihrem Sinne 
nach zusammengehörige Worte durchaus rechtmäßig miteinan 
der verkoppeln. Die unbegrenzte Bedeutung, die dem Körper 
lichen beigemessen wird, ist aus dem begrenzten Wert, der ihm 
zukommt, nicht abzuleiten. Sie erklärt sich allein aus der 
Bundesgenossenschaft, die das Körperbildungswesen, seinen 
Vorkämpfern teilweise unbewußt, mit dem Bestehenden unter 
hält. Die körperliche Ertüchtigung beschlagnahmt die Kräfte, 
Produktion und gedankenloser Konsum der ornamentalen 
Figuren lenken von der Veränderung der geltenden Ordnung 
ab. Der Vernunft wird der Zutritt erschwert, wenn die 
Massen, in die sie eindringen sollte, den Sensationen sich hin 
geben, die ihnen der götterlose mythologische Kultus gewährt. 
Seine soziale Bedeutung ist nicht zum wenigsten die der > 
römischen ZirkusfPiel e, die von den Machthabern ge 
stiftet worden sind. 
.VI. 
Die Versuchs sind zahlreich, die um der Gewinnung einer 
höheren Sphäre willen die von dem MassenornamenL erreichte 
Rationalität und Wirklichkeitsstufe wieder aufgeben wollen. 
So setzen sich die körperkulLurellen Anstrengungen der rhyth 
mischen Gymnastik über die Privathygiene hinaus das 
Ziel, schmucke Seelengehalte auszudrücken, zu denen von den 
KörpsrkulturdoZenten nicht selten noch Weltanschauungen mit 
geliefert werden. Diese Veranstaltungen, von deren ästheti 
scher Unmöglichkeit ganz abgesehen werden mag, erstreben genau 
das zurück, was das Massenornament glücklich hinter sich ge 
bracht hat: die organische Verbindung der Natur mit etwas, 
das von den allzu bescheidenen Naturen für Seele oder Geist 
gehalten wird; das heißt, die Ueberhöhung des Körperlichen 
mit Bedeutungen, die ihm entstammen und zwar vielleicht 
seelisch sind, aber von Vernunft keine Spur in sich tragen. Das 
Massenornament stellt die stumme Natur ohne jeden Ueberbau 
dar, die rhythmische Gymnastik beschlagnahmt ihrer Ansicht 
nach auch noch die mythologischen Oberschichten und befestigt 
so die Natur nur um so mehr in ihrer Herrschaft. Sie ist ein 
Beispiel für viele andere ebenso hoffnungslose Bemühungen, 
aus dem Massenwesen Zum gehobenen Leben zu gelangen. Von 
ihnen in ihrer Mehrzahl gilt, daß sie echt romantisch auf 
Formen und Gehalte sich besinnen, die der zum Teil berech 
tigten Kritik der kapitalistischen Ratio längst verfallen sind. 
Sie wollen den Menschen wieder fester mit der Natur verketten, 
als er ihr heute angehört, sie finden den Anschluß an das 
Obere nicht durch den Bezug auf die in der Welt noch unver- 
wirklichte Vernunft, sondern durch den Rückzug auf mytholo 
gische Sinngehalte. Ihr Schicksal ist die Irrealität; denn 
wenn an einer Stelle der Welt die Vernunft hindurchschimmert, 
so muß die erhabenste Gestalt vergehen, die gegen sie abblendet. 
Unternehmungen, die unter Nichtachtung unseres geschicht 
lichen Orts eine Staatsform, eine Gemeinschaft, eine künst 
lerische Gestaltungsweise Zu rekonstruieren trachten, deren 
Träger ein von dem gegenwärtigen Denken schon angetasteter 
Mensch ist, ein Mensch, den es von Rechts wegen nicht mehr gibt 
— solche Unternehmungen halten dem Massenornament in 
! seiner Niedrigkeit Nicht stand, und die Hinwendung zu ihnen 
> ist keine Erhebung über seine leere und äußerliche Flachheit, 
sondern eine Flucht vor seiner Realität. Dsr Prozeß führt 
durch das Ornament der Masse mitten hindurch, nicht von ihm 
aus zurück. Er kann nur vorangehen, wenn das Denken die 
Natur einschrankt und den Menschen so herstellt, wie er aus 
der Vernunft ist. Dann wird die Gesellschaft sich ändern 
Dann auch wird das Ornament der Masse hmschwinden und 
j das menschliche Leben selber die Züge jenes Ornaments an 
nehmen, zu dem es in den Märchen angesichts der Wahrheit 
! sich ausprägt. 
— DaH alte Wen. Vor kurzem brächte die „Frankfurter Zeitung" 
einen Aufsatz: „Film-Wien", in dem Klage darüber geführt ward, 
daß das in den Filmen seit einiger Zeit beliebte Men dem heutigen 
Wien gar nicht entspreche. Um eine Komposition aus den Ingre 
dienzien des längst verblichenen Wiens handelt es sich auch bei dem 
Film: „Wien, wie es weint und lacht", den die 
„Bieberbau-L'ichL spiele" zeigen. Bekannte Schauspieler 
erscheinen in altosterreichischen Charaktermasken: der General mit 
dem feschen Schnurrbärt, der Leutnant, das Wiener Mädel, der 
Fiakerbesitzer usw. — alle Typen aus der Anzengruberzeit. sind 
vorhanden. Dazu das Heurigen-Milieu, die Wachcharade, der Ring. 
Zwischen den Figuren entstehen die üblichen Konflikte, die auf die 
übliche Weise aufgelöst werden. Am originellsten die Figur eines 
jungen jähzornigen Mannes, der unter keinen Umständen zum 
Militär will, das fo verlockend gleißt. Der Film ist an sich gut auf 
gemacht und scheint von jener bewährten Mischung, die eine ge 
wiss e Zugkraft immer noch ausübt. Uaca. 
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