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Metadata: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

durft den unbedingten Vorzug. Aber sie ist ihrer Vorläufigkett wegen 
mit Trauer umgeben, und daß in einer ihrem Zugriff entzogenen 
Sphäre individuellere Ansprüche nach wie immer fragwürdigen 
Grundsätzen befriedigt werden dürfen, verleiht ihr mitunter den 
Schein der Inhumanität und mehrt noch die Trauer um sie. Ein 
schlechter Individualismus drückt auf die gute Grobheit, die den 
Einzelnen vernachlässigen muß. Nur mit der Masse selber kann eine 
Gerechtigkeit nach oben steigen, die wirklich gerecht ist. 
„Im Interesse eines reibungslosen Verkehrs ist den Anordnungen 
des Pförtners bedingungslos Folge zu leisten." Dieses Reglement 
am Hofeingang eines Geschaftshauskomplexes ist dem im Hinter 
grund befindlichen Arbeitsnachweise vorangeschickt wie die Ein 
leitung eines Buches seinem eigentlichen Text. Was das auf Massen- 
Wirkung berechnete Schild verheißt, die Plakate im Rauminnern 
führen es weitschweifig aus. Sie beziehen sich auf die elementaren 
Lebensbedürfnisse, die den Massen der Erwerbslosen von rechts 
wegen zukommen. Aus wer weiß wie triftigen baupolizeilichen 
Gründen oder auch solchen des Wohlanstands wird ihnen das Rau 
chen immer wieder verboten, aus noch triftigeren Gründen rauchen 
sie dennoch und aus den triftigsten drückt das Aufstchtspersonal beide 
Augen zu. Neben dem Rauchtrieb gibt es noch Hunger und Liebe 
Jenen können die Metallarbeiter gleich im Arbeitsnachweis selber 
stillen. In der einen Ecke ist eine Kantine aufgebaut^ die als 
Hauptgetränk Milch feilbietet. Milch ist gesund, aber wie genießt 
man sie? „Nie ohne etwas zu essen", verkündet ein sichtbar unge 
ordneter Schriftsatz. „Ein Glas Milch, auf einmal in den leeren 
Magen gebracht, bildet dort einen schwer verdaulichen Käse 
klumpen." Belegte Stullen, die mithin eine Grundvoraussetzung ge 
sunder Milch sind, häufen sich dicht nebenan auf dem Büfett Die Bil 
der von dem Käseklumpen und dem leeren Magen beweisen drastisch, 
daß die Menschen in diesen Räumen so nackt und bloß dastehen wie 
die Wände, ein Objekt der Hygiene, die sich freilich durch ihre 
plumpe Direktheit manche Möglichkeiten verscherzt. Keine Aura hüllt 
gnädig das Körperliche ein, die Körper treten vielmehr ohne Be 
schönigung ins grelle Licht der Öffentlichkeit, und die dazugehöri 
gen Menschen sind nur noch Systeme, die bei Zufuhr von Milch nach 
vorangegangenem Essen schon funktionieren werden. In den Hinter 
häusern der Gesellschaft hängen, Wäschestücken gleich, die mensch 
lichen Eingeweide heraus. Ihnen gelten auch die Plakate, die sich 
über Geschlechtskrankheiten und Geburtenregelung verbreiten. Daß 
die elementaren Lebensereignisse resolut angepackt werden, ist in 
der Ordnung und entspricht durchaus dem Walten der primitiven 
Gerechtigkeit. Aber wie das Warten im Arbeitsnachweis keine Er 
füllung findet, es sei denn durch die blinde Laune des Produk 
tionsprozesses, so ist auch das elementare Dasein hier nicht einges 
baut und umfangen. Es starrt ins Leere, ohne vom Bewußtsein 
ausgenommen zu werden und seinen Platz zu erhalten. Offenbar 
aus dem Bedürfnis heraus, es ein wenig zu besonnen, hat man die 
Mauern ab und zu mit Buntdrucken geschmückt. Unterbrechen Land 
schaften die Oede oder künstlerische Porträts? Ganz und gar nicht, 
sondern Bilder, die der Unfallverhütung gewidmet sind. „Denk an 
deine Mutter", steht unter dem einen, das wie die übrigen vor den 
Gefahren warnt, denen die Arbeiter im Verkehr mit den Maschinen 
ausgesetzt sind. Wunderbar genug: die paar Illustrationen ünfreund- 
licher Vorgänge schimmern freundlich über den Köpfen. Nichts 
kennzeichnet aber die Beschaffenheit des Raumes mehr, als daß in 
ihm sogar Unfallbilder zu Ansichtskartengrüßen aus der glücklichen 
Oberwelt der Tariflöhne werden. Könnten die Erwerbslosen aus 
dem Arbeitsnachweis unmittelbar dorthin gelangen, so erübrigte 
sich vermutlich das Plakat: „Unnötiger Aufenthalt auf den Treppen 
nicht gestattet", das eine Zierde sämtlicher Treppenhäuser ist. Es 
klingt wie ein Nachwort zu der Sammlung von Texten, die durch 
das Schild am Hoseingang eingeleitet 
warten. Vechältn^ damit, zu 
SNcklich vernachlässigt werden da? k der Stellen äugen- 
d zu - rm A Senlbsgtzw L eck t .a u Ic l h k habe beoba»? >, das Warten beinahe 
stumpst, um an ihre Auserwäkltbeit s, Ed zu abge. 
Burschen und ältere Leute i/d cken Klü! J«g 
sie ohne Beschäftigung allaeme?? ? . "nd schützen 
-der den Hut ^gentum. Daß sie die Mütze 
Freiheitswillens sein. Nur im ^waches Zeichen des 
demoralisierend wÄrk Um ganz davon avzuschen, daß ihr in 
diesen Zeiten der Stagnation das Ziel fehlt: es fehlt ihr vor 
allem der Glanz. Weder ist der Empörung gestattet, hier laut zu 
werden, noch erhält der ausgezwungene Müßiggang irgendeine 
andere Weihe. Im Gegenteil, das Nichtstun vollzieht sich durchaus 
im Schatten und muß auf den gesellschaftlichen Adelstitel ver 
zichten, der ihm gebührte. Und doch wäre viel zu überglänzen,! 
denn die Armut ist immerwährend ihrem eigenen Anblick aus 
gesetzt. Bald macht sie sich breit mit sichtbaren Flicken und Lappen,, 
bald zieht sie sich bürgerlich-schamhaft ins Verborgene zurück. Bei 
einem besser gekleideten Schneider etwa hat sie sich als letzten 
Schlupfwinkel die Manschetten des Hemdes ausersehen. Gelingt 
es ihr an der einen Stelle, sich zu bedecken, so schlägt sie an der 
anderen um so sicherer nach außen durch. Die Körper sind häufig 
ungepflegt, und ein stickiger Dunst schwelt in den Sälen. So dem 
unverklärten Beieinander preisgegeben, wird den Leuten das 
Warten zur doppelten Last. Auf jede mögliche Weise suchen sie! 
sich die sinnlose Zeit zu vertreiben, aber wohin sie auch treiben, 
die Sinnlosigkeit folgt ihnen nach. Sie schlüpfen in Gespräche 
hinein, die vom Warten ablenken sollen und vor seinem unend 
lichen Hintergrund zuletzt doch vergehen. Sie spielen Mühle, Schach 
und Karten, lauter Glücksspiele, die nur Spielereien des Unglücks 
sind, weil die hier zum Schicksal emporgesteigerte Not den Durch 
bruch des Glücks verwehrt. Die Aelteren freunden sich vielleicht mit 
dem Warten wie mit einem Genossen anp für die jugendlichen Er 
werbslosen dagegen ist es ein Giftstoff, der sie langsam durch- 
dringt. 
Ich bin Zeuge folgenden Gesprächs. Ein Mann beschwert sich 
Leim Beamten: „Nun bin ich ein Jahr ohne Arbeit und habe die 
Stelle doch nicht bekommen." — „Aber der andere ist schon andert 
halb Jahre arbeitslos," wird ihm erwidert. Ein Bescheid von bün ¬ 
diger Klarheit, der auf Grund der Bestimmung erfolgt, daß sich bei 
gleicher Eignung die Vermittlung nach der Dauer der Arbeitslosig 
keit zu richten habe. StellenanwLrter können in manchen Berufen 
nur berücksichtigt werden, wenn sie über eine gewisse Zeit hinaus 
freigesetzt sind. Die primitive Gerechtigkeit, die in den Nachweisen 
regiert, ist auf Massen gemünzt, und auch der Arbeitslose ist ein 
Partikel der Masse. Daß Massen ein und aus gehen, drückt den 
VermittlungssLlen den Stempel auf. Immer wieder erleben diese 
Wände, diese Tragstützen das Schauspiel, daß sich vor den Schaltern 
endlose Schlangen bilden, daß lose Gruppen zusammenströmen und 
zerrieseln, daß sich um den Mittelpunkt eines Sprechers ein regel 
mäßiger Menschenhaufen kristallisiert. Wo solche Massenmuster sich 
regen, kann die Gerechtigkeit nichts weiter unternehmen, als die 
Massen zu mustern. Sie muß Quantitäten abwägen, Zeit- und 
Raummaße werden ihr zur Richtschnur. So ist es gut, und niemand 
trüge einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge, ware-diese Welt 
der Masse die einzige. Zu ihrem Schaden ist sie es nicht. Man 
erklärt mir im Arbeitsnachweis für Chauffeure: Gewiß, je länger 
einer arbeitslos ist, desto eher wird er vermittelt. Aber die Be 
sitzer wertvoller Autos vertrauen ihre Wagen nicht gern einem 
Chauffeur an, der Monate hindurch gefeiert hat, sondern fordern 
gewöhnlich einen Mann, der möglichst kurze Zeit ohne Tätigkeit 
gewesen ist. Da müssen wir eben nachgeben und gegen unsere Prin 
zipien handeln «« . Die Gerechtigkeit in den Niederungen wird so 
von einem Akt der Willkür durchkreuzt, der freilich alles andere 
eher als pure Willkür ist. Er fährt in die Unterschicht wie ein 
Blitz aus dem heiteren Himmel der oberen Schichten. In ihnen 
! herrscht statt der Masse der Einzelne, und ihm könnte eine Gerechtig 
keit angepatzt sein, die je nach den Umständen sich umständlich ent 
schiede, eine, die genauer wäre als die primitive. Ein jeder weiß, 
daß und warum sie dort oben faktisch nicht in Kraft ist, und im 
Vergleich mit ihrem Zerrbild verdient sicher die barbarische der Not
	        
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