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Object: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Funatscharski über die russische Kultur 
bestehende. 
8. TrasLuer. 
Im Verlauf einer Polemik, die gewissermaßen das Präludium 
bildete, fiel die Bemerkung, daß noch nie ein Land ein solches 
Interesse für theoretische Fragen bekundet habe wie Rußland, 
und die Bedeutung der Theorie für den Alltag noch nie so deutlich 
wie dort erkannt worden sei. Man weiß das; aber man ermißt 
bei uns vielleicht doch nicht ganz, was die ständige Konfrontation 
von Theorie und Praxis für jede einzelne Lebensäußerung bedeutet. 
Auch die scheinbar indifferente wird dazu gezwungen, Farbe zu 
bekennen und ihren sozialen und politischen Gehalt Zu enthüllen. 
Ein Kontrollverfahren, durch das die Russen jedenfalls die Ver 
wirklichung der von ihnen gewollten Ordnung noch auf den ab 
gelegensten Gebieten erreichen und die Einschmuggelung von 
Konterbande verhindern. Ob man nun die faktische Handhabung 
dieses Verfahrens anerkennt oder nicht: als heuristisches Prinzip 
stiftet es zweifellos überall Nutzen. Immer wieder begegnet man 
bei uns wissenschaftlichen oder literarischen Meinungen, die sich 
fü" unpolitisch halten, ja ganze Abteilungen des Daseins werden 
von ihren Hütern künstlich neutralisiert. Aber in Wahrheit 
sind sie gar nicht neutral, sondern enthalten Voraussetzungen oder 
Konsequenzen durchaus politischer Art. Es wäre für das geistige 
Leben in Deutschland ein Gewinn, wenn sich alle Formulierungen 
und Leistungen mit den sozialen und politischen Tatsachen aus- 
einandersetzten, statt sich wie so oft hinter einer vermeintlichen 
Neutralität zu verschanzen. 
Das Tatsachenmaterial, das Lunatscharski unterbreitet, bezieht 
sich auf die Bekämpfung des Analphabetentums, aufs niedere und 
höhere Schulwesen, auf die kulturellen Organisationen der Partei 
und die planmäßige Pflege der Künste. Imposante Zahlen be 
kunden eine Ehrfurcht vor der Statistik, die auch durch das 
summarische Wesen gewisser inhaltlicher Angaben belegt wird So 
heißt es etwa, daß der Verbrauch an Druckpapier im Vergleich mit 
der Vorkriegszeit um das Vierfache gestiegen sei. Nicht so, als ob 
die Quantität entschiede; aber das Meß- und Bezifferbare drängt 
sich doch aus begreiflichen Gründen einstweilen stark vor. Vielleicht 
hängt der ihm erteilte Rang auch mit der beinahe mystischen Wert 
schätzung zusammen, die zur Zeit in Rußland die Wiss enschaft, 
vor allem die Naturwiffenschaft, genießt. Mir brauchen die Wissen 
schaft wie die Lust zum Leben": ein solcher Satz ist 19. Jahr 
hundert und Zugleich etwas ganz anderes. Er wiederholt nämlich 
nur äußerlich eine historische Phase unseres Denkens; in Wirklich 
keit entstammt er einer neuen Situation. Der Situation eines 
Volkes, das sich geistige Besitztümer und Verfahrungsweisen, die 
auf einem fremden Boden gewachsen sind, zu Zwecken aneignet, Zu 
denen sie bisher nicht gebraucht wurden. Es ließe sich daher durch 
aus denken, daß die Flachheit, mit der Lunatscharski von den Fort 
schritten des Konsums an Kulturgütern Rechenschaft ablegte, nicht 
ganz so flach wäre, wie sie uns erscheint. Mitunter kleiden sich un 
gewohnte Sachen in die Sprache von gestern. 
seinem Vortrag. 
Umstanden Generationen der Zukunft zum Opfer gebracht werden 
müssen, die dem vollendeten Sozialismus gehöre. Diese durch 
und durch dynamische Lebensauffassung wird entschieden gegen 
jede statische ausgespielt, nach der das menschliche Dasein 
darum einen unvergleichlichen Wert hat, weil es sich auf Gehalte 
bezieht, die über die Entwicklung in der Zeit hinausweisen. Ja 
nicht einmal die immerwährende Dialektik zwischen den statischen 
und den dynamischen Sachverhalten gibt Lunatscharski zu. Um 
seinen Standpunkt zu verdeutlichen, gebraucht er ein merkwürdiges 
Bild. Er vergleicht den Sozialismus in der Periode des Ausbaus 
mit der ecclesia militans; woraus bereits von selber folgt, daß 
die ecclesiL triuroxkanZ mit dem vollendeten Sozialismus gleich 
gesetzt wird. Unverkennbar verrät dieses Bild, bis zu welchem 
Grade der russische Kommunismus eine säkularisierte Heilslehre 
ist. (Unser N. L.-Mitarbeiter hat erst jüngst in einem seiner vor 
züglichen Rußland-Aufsätze ähnliche Beobachtungen gemacht.) Und 
noch eine andere Einsicht entspringt dem Vergleich. Sich an Lenin 
anlehnend, schildert Lunatscharski den vollerrdeten Sozialismus 
als das Reich des Friedens und der Freiheit, als einen kampf 
losen Zustand, der keine Entwicklung mehr kennt. Er ist das 
Paradies selber, das irdische Jenseits der Zeit. Die extrem-dyna 
mische Haltung, die der Zukunft die ganze Gegenwart darbringt, 
ist so genötigt, das von ihr restlos verdrängte statische Prinzip 
am Ende der Entwicklung restlos aufleben zu lassen. Ob aber auch 
nur theoretisch angenommen werden darf, daß seine Herrschaft den 
dynamischen Prozeß aözulösen vermag, der es radikal tilgen will, 
ist zum mindesten fraglich. 
Lunatscharski unterscheidet in Rußland zwischen der politischen, 
der wirtschaftlichen und kulturellen Revolution und ist im Gegen 
satz zu manchen seiner Mitkämpfer der Ansicht, daß die kulturelle 
von der gleichen Dringlichkeit sei wie die eigentlich 
materiellen. Aus folgenden Gründen: des Bedarfs an Fach 
arbeitern wegen; im Interesse der Hebung des Lebensstandards; 
um der Aufzucht „kommunistisch enthusiasmierter" Massen willen. 
Diese schematichen Distinktionen, die überdies den Begriff der 
Kultur allzu weit spannen, sind insofern lehrreich, als sie erken 
nen lassen, Laß die russische Praxis das „Kulturelle" dem „Mate 
riellen" nicht nächstem, sondern neöenzuordnen sucht. Das wirk 
liche Verhältnis zwischen beiden Ordnungen: der materiellen und 
jener, die wir die geistige heißen, kann sich erst in einem vorge 
rückten Stadium des Experimentes ergeben. Inzwischen ist es 
methodisch beachtenswert, daß man sich schon während seiner An- 
sangsphase um ihr Jneinandergreifen bemüht. 
ch 
Die russische Gegenwart ist nach Lunatscharski die Zeit des 
streitenden Sozialismus, eine heroische Epoche, in der unter 
In einigen Bemerkungen, die ohne Zweifel der offiziellen 
Meinung von heute entsprechen, grenzt sich Lunatscharski von ge 
wissen ultralinken Anschauungen ab. So stellt er fest, daß 
man in der Architektur nicht mehr allein die reine Zweckmäßigkeit 
erstrebe, sondern die Darstellung eines „harmonischen Selbstgefühls" 
verlange. Eine etwas undurchsichtige Aussage, die jedoch darauf zu 
schließen erlaubt, daß der extreme Materialismus sich selber ein zu 
schränken beginnt. In derselben Richtung bewegt sich die ausdrück 
liche Erklärung, daß man in Rußland keineswegs die Entwicklung 
der Individualität hemmen wolle, da sie sich mit der sozialen 
Entwicklung grundsätzlich durchaus vertrage. Wie schwierig immer 
diese Erklärung zu bewahrheiten sein mag, sie sollte allen jenen 
Intellektuellen zu denken geben, die bei uns einen u«realisierbaren, 
völlig abstrakten Kollektivismus vertreten. Statt eine bessere Wirk 
lichkeit zu erzeugen, stärken solche leblosen Konstruktionen nur die 
Bemerkungen Zu 
Berlin, Anfang November. 
Der Vortrag Lunatscharski über den Kultur-Aufbau in 
Sowjetrußland, zu dem die Gesellschaft der Freunde des neuen 
Rußland in Deutschland eingeladen hatte, war außerordentlich 
stark besucht. Akademiker, Politiker, Intellektuelle der verschiedensten 
Berufe, Anhänger und wohl auch Gegner des russischen Systems 
drängten sich im Saal der Singakademie Zusammen, und ich nehme 
an, daß sie nicht nur aus politischer Leidenschaft, sondern auch aus 
dem Wunsche kamen, wirklich authentische Nachrichten über die 
kulturellen Ereignisse in Rußland zu erhalten. Keine Neugierde 
ist berechtigter als diese, deren Befriedigung erst eine Stellung 
nahme ermöglicht. 
Lunatscharski, der in physiognomischer Hinsicht an einen Arzt 
erinnert, ist nicht eigentlich ein Redner. Er liest in der Hauptsache 
ab, er arbeitet kaum je mit rhetorischen Mitteln. Dennoch erzielte er 
Wirkungen, die sich nicht allein auf den Inhalt seines Vortrags grün 
deten. Sie waren zweifellos der dem Publikum bewußten Tat 
sache zu danken, daß hier nicht wie sonst gewöhnlich ein bloßer 
Betrachter sprach, sondern ein Mann, der kraft seiner Machtstel 
lung die von ihm berührten Gegenstände selber angerührt hat. 
Jedes Wort der Macht erregt durch seine Verbindlichkeit. 
Ich erblicke meine Aufgabe darin, aus den Darlegungen Lunat- 
scharskis einige Punkte Herauszugreifen, die für die öffentliche 
Diskussion in Deutschland wichtig sind.
	        
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