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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.11/Klebemappe 1932 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Mrietä-Irogramm von yeute 
8. Lrs.es «»r. 
i . lf - M«' 4L -1 <? äL 
Mema: Arbeit^ 
Berlin, Anfang März. 
Der Film: „Drei von der S tempelst: ll e" (Manu 
skript: Bunger, Waren, Reicher; Regie: Eugen Thiele), der vor 
ein paar Tagen im Marmorhaus uraufgeM wurde, st e*ne ver 
hältnismäßig angenehme Ueberraschung. Sein Titel klingt nur da 
rum an den des Films: „Drei von der Tankstelle", an, um diesen 
Zu desavouieren. In Wahrheit ist er weder eine jener blödsinnigen 
Opereiten- deren Produktion gar nicht äufhören will, noch eines 
der neubürgerlichen Filmindustriespiele, in denen es Unentwegt 
heiter, herrschaM und verlogen zugeht. Er bemüht sich vielmehr, 
ein Stück Wirklichkeit zu zeigen, und das ist heute schon viel. 
Man sieht in dem Film Arbeitsämter, wie sie sind, Straßen, 
wie sie sind, und sogar einige Zustände, wie sie sind. Die Handlung 
ergibt sich ungezwungen aus der Arbeitssuche. Drei Erwerbslose 
verschiedener Schichten, die bei einer Witwe Unterkunft gefunden 
habcn, machen vergebliche Anstrengungen, wieder eine Stellung 
zu bekommen, und entschließen sich nach zahlreichen Fiaskos am 
Ende dazu, Siedler zu werden. Darüber später. Ich finde es an 
erkennenswert, daß der Film verschiedenen Lustspielmöglichkeiten 
ausweicht und einige instruktive Einblicke in die Lage der Arbeits 
losen gewährt. Wie leicht wäre e^ gewesen, die drei Helden an 
irgendeinem Punkt aus dem allgemeinen Elend herauszuheben und 
ihnen die große Chance zu geben! Es. geschieht aber, nicht. Die drei 
bleiben in der Masse stecken, zu der sie gehören, werden abgewiesen 
wie die andern, suchen Gelegenheitsarbeit, machen Projekte, die 
sich Zerschlagen usw. In Zwei, drei Szenen verdichtet sich dieses 
typische Dasein zu typischen Situationen. So brüllt einmal einer 
der Arbeitslosen die kleinbürgerliche Witwe an und protestiert da 
gegen, wie ein Deklassierter behandelt Zu werden; so verhöhnt eine 
Arbeitslosenversammlung einen Redner, der über die guten Ab- 
sichtm der Regierenden 
Diese Vorzüge des Films werden allerdings durch seine 
Schwächen und Fehler teilweise zunichte gemacht. Eine Schwäche 
ist zum Beispiel der unwiderstehliche Hang zum Idyll. Immer 
wieder entsaftet sich ein behaglicher Humor, der offenbar die Härte 
des Stoffes mildern soll und nur ungenügend von einem grim 
migen Sprechchor eingegrenzt wird. Es gibt solche Oasen der Ge 
mütlichkeit, gewiß; aber sie dürfen den Situationsbericht nicht ver 
fälschen. Wahrscheinlich haben die Hersteller geglaubt, das Thema 
Wsrn; mit ausdrücklicher Genehmigung ihrer Intendanz, wie es 
auf der Vorankündigung heißt. WaS grWHt hier? Wahrschein 
lich nicht viel anderes, als daß die Kunst nach Brot geht. Die 
Konzertsale fmd schwer M Men, die Theater noch schwer« zu 
finanzieren, «M> dir WforptivnsfWgkeit des Films ist schließlich 
nicht unbegrenzt. So wir» das Variete zur AufnahmeMung 
mancher Solisten. Und es zieht sie anscheinend nicht ungern zu 
sich heran. Denn durch die Krise ist eS genötigt, die Anreize zu 
vermehren und unter anderem den Eensationswert au^unützen, 
den künstlerische Leistungen inmitten artistischer erhalten. 
Die Kunst selber verändert sich ebenfalls auf dem Wege Ssm 
Konzertsaalpodium zum Variete. Sie wird zerschlagen, in Stücke 
und Stückchen zerhackt. Kann man im VarietS die ganze Harfner 
Serenade von Mozart bringen? Die Serenade wäre für eine 
Nummer zu lang. Also wird nur das Rondo gespielt, das gerade 
die passende Nummergröße hat. An diesem kleinen Beispiel Le- 
stätigt sich wieder einmal, daß wirtschaftliche Wandlungen un 
weigerlich solche des Bewußtseins hervorrufen. Da die ausübenden 
Künstler durch die Produktion von Nummern existieren müssen, 
beginnt die Totalität des Kunstwerks ihre Existenz aufzugeben. 
Die Kunstwerke sind nicht mehr ihrem ganzen Umfang nach los 
zuschlagen wie irgendeine Herrenzimmer-Einrichtung, sie gehen 
nur noch in Teile« ab. Diese Art ihres Ausverkaufs zu beklagen, 
wäre um so müßiger, als sie genau unserer Situation entspricht, 
in der faktisch nichts Ganzes gilt. Der Abtransport der Kunst 
nummern ins Barietä ist kein isolierter Vorgang, sonder» die 
möglichst mundgerecht servieren zu müssen. Sie hätten besser auf 
diese Kompromisse verzichtet. 
Zu den Fehlern rechne ich die Art und Weise, in der die 
Kündigung der Tochter der Witwe motiviert wird.,Sie ist in einem 
Putzfalon angestellt und verliert ihren Posten, weil sie als an 
ständiges Mädchen sich den unsittlichen Bewerbungen des'Chefs 
entzieht. Dergleichen kommt zweifellos vor, reicht jedoch als Motiv 
in einem Arheitslosenfilm nicht hin. Es ist ein individuelles Motiv 
und nicht eines, das der Wirtschaftskrise entspringt. Auch in jenen 
Filmen, die sich, wahrhaftig um die Krise nicht kümmern, er 
eignen sich mitunter aus gleichen Gründen die M 
Ueberhaupt vermeidet der Film — das ist sein Hauptfehler alle 
Erklärungen^ dre über die Wichergabe der Stimmung, hinaus 
führen. Er unterläßt sie nicht nur, er sabotiert sie au^ 
Einer der Arbeitslosen, ein entlassener Buchhalter, versucht sich un 
aufhörlich Rechenschaft darüber abzulegen, warum so viele Mil 
lionen Menschen von dem Schicksal der Arbeitslosigkeit betrog 
sind und wie man dieses Schicksal etwa aufheben könnte. Seine 
törichten Auskünfte werden von den Kameraden verlacht und 
reizen niemanden zum Nachdenken. Mit anderen Worten: der Film 
versandet mach einem guten Ansatz in der Reportage, die sich zu 
schildern begnügt und das Schicksal für Schicksal nimmt. Richtiger 
wäre es gewesen, die Denkbemühungen des. Arbeitslosen zu' Dis 
kussionen auszubauen, die wirklich Aufklärung verschaffen. Dem 
vorzeitigen Halt, das geboten wird, entspricht au^d 
der beinahe eine Propaganda für den Siedlungsgedanken M 
Sonne geht über den Wäldern auf, sobald die zukünftigen Siedler 
aus der Stadt fahren. Ich fürchte, sie geht rasch wieder unter; 
denn das Sledlungsunternetzmen in seiner jetzigen Form weist viel 
zu viele Unvollkommenheiten auf, als daß es optimistisch zu 
stimmen vermöchte. / 
Während der Premiere wurde die Vorführung des FM 
von der P a n z e r - F i lmp r o d u k L i o n G. m: b. H. hergestellt 
wurde) immer wieder durch Beifall und Zurufe unterbrochen, die 
von der leidenschaftlichen Anteilnahme des Publikums zeugten. 
Damit ist bewiesen, was ich schon häufig sagte: daß das Publikum 
Filme verlangt, die nicht in einem anderen Erdteil oder in einer 
imaginären Gesellschaft spielen, sondern seine eigene Wirklichkeit 
demonstrieren. Es läge im.Interesse der Filmindustrie, daß sie sich 
endlich danach richtete. Oder vielleicht doch nicht in ihrem Interesse? 
L. LrLLLüem 
«er««, Ende FeLnmr. 
Ichen geMe BerLiLerimgen vor -ch. «MMch 
sich dM wie isweer in der Hauptsache Arteten, und 
aerads das Februar-PrograMM der Ecsla brirrgt eine ganz 
große NumWer: den merikanischen DrahtjeMüllstler Con Colleano, 
der M dem Seil nicht nur bezaubernd Tango tanzt, sondern 
sogar den Salto nach vorwärts macht, ohne Hinterher seme Posi 
tion auf der schwankenden Grundlinie Preisgeben zu muffen. Aber 
Mischen den eigentlichen «rüsten tauchen neuerdings wieder und 
wieder Künstler auf, denen es nicht vorbesÜMMt war, als Tarletz- 
Attrattion zu glänzen. Sie kommen aus den Theatern und 
Konzertsälen und reihen sich jetzt unter die Jongleure, Akrobaten 
und Exzentrils ein. 
We Geigerin Edith Lorand zum Beispiel bWNjprmht mit 
Hrem Kammerorchester einen breiten Kaum im augenblicklichen 
Scala-Programm. Man Hat sich angestrengt, dieses Ensemble 
möglichst varietLgerecht aufWputzen und weder an Scheinwerfern 
noch an stimmungsvollen Hintergrundspanoramen gespart. Da 
die Künstlerin unter dem Zwang des Milieus fast lauter Liev- 
Nngs- und Bravourstückchen zum besten gibt, wäre die Musik 
welt, der sie entstammt, kaum zu merken, spielte sie nicht einmal 
etwas von Mozart. Wahrhaftig, sie spielt ein Mozart-Rondo, 
und das Publikum ist so mäuschenstill wie beim Höhepunkt eweS 
Trapezaktes. Gefahr und Kunst scheinen dies gemeinsam zu Haben: 
datz sie den Menschen den Wem verschlagen. 
Im nächsten Monat wird Vera Schwarz Frau Lorand ab- Folge eines durchgreifenden Prozesses.
	        
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