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Object: H:Kracauer, Siegfried/01.11/Klebemappe 1932 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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Ich frage:, hat man in diesen zweitausend Fällen ebenfalls 
herzigkeit 
8. Lraoausr. 
achten. Diese ihrerseits erblicken in den Passanten nur Käufer 
oder mildtätige Spender. Der weiße Bäcker scheucht die Kinder 
fort, die sich an seinen Brezeln vergreifen wollen. Der Zieh 
Harmonika-Bettler wärmt sich an seiner Musik. Der murmelnde 
Bettler verwechselt vielleicht in halbem Irrsinn die Menschen mit 
Steinen und Stützen. Und ein aus der Mauer gequollenes 
Mütterchen, das am Boden hockt, starrt mechanisch auf die vorbei 
ziehenden Hosenbeine, Rocksäume und Schuhe. 
Es ist wohl der Gegensatz zwischen dem geschlossenen, un 
erschütterlichen Konstruktionssystem urck dem zerrinnenden mensch 
lichen Durcheinander, der das Grauen erzeugt. Auf der einen 
Seite die Unterführung: eine vorbedachte, stabile Einheit, in der 
jeder Nagel, jeder Backstein an seiner Stelle sitzt und dem Ganzen 
hilft. Aus der anderen Seite die Menschen: auseinandergesprengte 
Teile und Teilchen, unzusammenhängend Splitter eines Gänzen, 
das nicht vorhanden ist. Sie können aus Mauern, Trägern und 
Stützen einen Verband schaffen, aber sie sind unfähig dazu, sich 
selber zu einer Gesellschaft zu organisieren. Kratz und schrecklich 
wird durch das vollkommene System toter Stosse die Unvoll- 
kommenheit des lebendigen Chaos enthüllt. Der Bäcker steht un 
nütz herum, während die Eisenstützen, die ihn umrahmen, eine 
Funktion haben, und zum Unterschied von den Wänden, die tragen 
dürfen, sind die Bettler Ballast. Unmenschlich ist aber nicht nur 
die Planlosigkeit, mit der die Menschen dahintreiSen, sondern auch 
planmäßige Konstruktion der Passage. Wie sollte es anders 
sein, da sie von Menschen erbaut ist? Diese Stützen sehen wie 
Feinde aus, diese Mauern erinnern an Zuchthäusler, und diese 
Deckenträger summieren sich zu einem einzigen Alpdruck. Ein 
System, das so undurchdrungen und verlassen ist wie das 
anarchische Gemisch der Paffanten und Bettler. 
Immer wieder packt mich dasselbe Grauen, wenn ich durch die 
Unterführung gehe. Und ich denke mir manchmal wie zum Trost 
bessere, schönere Konstruktionen aus. Solche, deren Baumaterialien 
nicht nur aus Eisen und Backsteinen, sondern gewissermaßen auch 
aus Menschen bestünden. Dann brauchten sich die Passanten 
nicht so zu beeilen, und die Musik wäre kein Wink für die Barm- 
i Wrdjngs wird durch eine--statistische 
AnMeAbgestöppt, die wie aus Gersehen in einem der Kindes- 
fluß dieser Nachrichten entnehmen läßt ist unstreitig, die: daß um 
der Rettung des entführten Kindes willen, das in einer der Mel- 
Berlin, im März. 
Dicht beim Bahnhof Eharlottenburg zieht sich unter den Gleisen 
eine schnurgerade Straße hin, die ich oft passiere, weil an ihr 
jenseits des Bahndamms der Bahnhosseingang liegt. Ich gestehe, 
daß ich diese Unterführung nie ohne ein Gefühl des Grauens 
durchmesse. Es könnte von ihrer Konstruktion herrühren, aber ich 
glaube nicht einmal, daß sie allein das Grauen verursacht; obwohl 
sie von einer finsteren Strenge ist, der jede Heiterkeit fehlt. Back 
steinmauern grenzen die Unterführung ein, verrußte Mauern, die 
mit zwei Reihen eiserner Stützen zusammen die niedere Decke 
tragen. Diese Decke besteht aus zahllosen Eisenträgern, die einander 
in winzigen Abständen folgen und mit unendlich vielen Nietnageln 
versehen sind. Zwischen ihnen sitzt eine graue Betonmasse, die nicht 
minder massiv wirkt wie die Träger selber. In der Dämmerung 
scheint die Unterführung nicht aufhören zu wollen. Die Mauern 
zu beiden Seiten dehnen sich bis zum Fluchtpunkt, die eisernen 
Stützen, die an den Rändern der Fußgängersteige eingerammt 
sind, vermehren sich und werden bedrohlich, und die Decke senkt 
sich allmählich immer tiefer herab. Eine klirrende Höllerrpaffage, 
ein düsterer Zusammenhang von Backsteinen, Eisen und Beton, 
der für alle Zeiten gefügt ist. 
Viele Menschen eilen durch diese Unterführung. Ich sage eilen, 
und meine es wörtlich. Denn sei es, daß die Paffanten nach Hause 
oder zum Zug müssen, sei es, daß ihnen das kellerartige Wegstück 
Unbehagen einflößt: sie blicken nicht nach rechts oder links, sie 
machen so rasch, als sehnten sie sich danach, wieder an die Ober 
fläche zu kommen. Trotz ihrer Hast, die genau so wenig einladend 
ist wie das durch die Resonanz verstärkte Gepolter der Lastwagen, 
haben sich in der Unterführung verschiedene Stammgäste an 
gesiedelt, die hier offenbar Zuflucht vor Kälte und Regen suchen. 
Zwei eiserne Stützen nahe beim Ausgang umrahmen einen weiß 
gekleideten Bäcker, der Salzbrezeln feilbietet, die niemand kauft. 
Tiefer im Innern halten sich mehrere Bettler auf, die von der 
Backsteinmauer, an der sie stehen und kauern, kaum noch zu 
unterscheiden sind. Alte, längst verwelkte Mauerblümchen, be 
schäftigen sie sich damit, irgendeinen Schlager zu dudeln, dem 
nur die Nietnägel lauschen, oder murmelnd auf eine Gabe warten. 
Was in mir jenes Grauen hervorruft, ist aber auch nicht 
eigentlich die entsetzliche Unverbundheit aller der genannten Per- 
wert. Hier gilt das Menschenleben noch etwas, hier ist die Ent- 
fsihrung Mss wMzigen Babys Grund genug, um zahllose Land- ' 
straßen abzusperren, den Küstenschutz zu mobilisieren und die 
Telegraphen-spielen Zu lassen. Die gesamte Apparamr eines 
mn — ächtigen Landes rm Dienste » der R ^ e u ttnungg: i « ch y w -ä ü u ßgt l e n M ic M h I t , , wi , e 
die Mgrate, deren viele sonst den Zweck der Zerstörung haben, 
" nützlicher, angewandt werden könnten, und finde, daß der Ge- 
" brauch, - - rr - in - di - es - em - Falle von ihnen gemacht wird, beinahe; schon- 
quf das-goldene Zeitalter hindeutet, in dem die Maschinen den 
Menschen Untertan sein werden, statt sie nur auszubeuten und zu 
yergiMaltig.en. ' - 
dungdn äucy einmal das „populärste Baby der Vereinigten Staa 
ten" heißt,.Diele private und sämtliche behördlichen Organisationen. 
in Bewegung gefetzt worden sM. Hunderttausend Beamte per 
folgen hunderttausend Spuren; die Seelsorger der verschiedensten " 
Konfessionen beten von der Kanzel herab für die Wiederkehr des. 
KindÄ;.. die .Amerikanische. Legion, .die Pfadfinder usw. wollen 
mit suchen helfen;. die Sender und Zeitungen Amerikas geben 
in einem Aufruf die Diät und die Medizin bekannt, die .das 
augenblicklich erkältete Baby nötig hat. 
Me WnlerMrung. 
fönen. Ich weiß natürlich, daß sie vorhanden ist. Von den schnellen 
Passanten hat jeder seine Privatangelegenheiten im Kopf, die ihn 
daran verhindern, auf die Dauerbewohner der Unterführung zu 
. Berlin, Anfang März. raub-Berichte stecken geblieben ist. Oder richtiger: nicht .aus Ver- 
i Der Linderraub im Hause Linübergh scheint zur Zeit die sehen. Denn der Berichterstatter hat sicher die betreffende Mit- 
Kmerikanische Oesfeutlichkeit mehr zu erregen als der chinMch-s teilung.nur im Jnteresie einer planmäßigen Steigerung des Sen- 
japLnische Krieg-, oder die' Wirtschaftskrise. Auch die Berliner fationsmertes der ganzen Meldung hinzugefügt. Die Angabe 
Blätter melden ausführlich, was drüben alle - -Blätter- er- lautet, daß in den,leWn.cheiden Jahren nicht weniger als. 
füllt. „Warnung vor Polizeihilfe" — „Wichtige Finger- 2 0 0 t) K i n d e r. in Amerika entführt worden seien 
abdrücke gefunden" — „Geheimnisvoller Hinweis" — „Ueber Ich frage:, hat man in diesen zweitausend Fällen ebenfalls 
hunderttausend Beamte helfen ihm" - „Er will S0 000 die Machtmittel der Bereinigten Staaten ihrem vollen Umfana 
Dollar Lösegeld zahlen": so lauten einige Untertitel der "ach ansgeboten, um die notwendige Hilfe zu leisten? Sind zwei- 
täglichen Bulletins. Die wichtigste Tatsache, die sich dem Ueber- tausendmal Extrablätter der Zeitungen erschienen? Zweitausend 
mal den Verbrechern nachgeschickt worden? 
Zweitausendmal die Wirkungen von KanzelgebLtett in Kraft ge 
treten? Man hat nichts davon gehört, also wird es auch nicht ge- 
VBen sein. Und doch handelte es sich zweitausendmal um das- 
/^e. Um entführte Babys, die möglicherweise ebenfalls an Er- 
U^üng litten und gewiß ihren Eltern so lieb, und teuer waren 
wie das LindberH-Baby den seinen. 
Die mangelnde Anteilnahme der Oesfeutlichkeit an den statt-, 
seM'^stellten zweitausend Mllen ist schuld daran, daß'die" 
^lenaktionen für die Bergung dieses A»1. Kindes einen sehr ge» 
mischten Eindruck hinterlassen. Sie gelten weniger irgendeinem in 
Dieser Einsatz einer Millionenbevölkerung eines einzelnen einem beson^ 
KindeL wegen. ist, rein für sich betrachtet, jeder Bewunderung 2;^ Soüdarttatsbewnßtsems, das für alle 
wert. Hier gilt das Menschenleben noch etwas, hier ist die Ent- Verantwortung empfin ¬ 
det, ' sonder " n eine Huldigung für den Nattonalhelden, für einen 
Auserwählten unter Millionen. Sie Leweisens nicht, daß das 
Menschenleben in Amerika eine hohe Achtung genießt, sie per- 
E die «nvoch-Waren Proportionen des mit dem Ozean- 
edelmütigen 
^u Me Natron, fähig ist, aber diese 
megung regt sich hier im Gefolge von Reichtum und Ruhm. 
' Ztt den amerikanischen Filmen spielen Kinder seine gewaltige 
Rolle,Man HM sich an- ihrer Süßigkeit wie an tzuckerstangen, 
man macht sie zum Mgenstand sämtlicher höhereü Gefühle, So 
lange aber diese Gefühle nur bei Gelegenheit exzeptioneller Ba 
bys m die Wirklichkeit eingreifen, ist die Wirklichkeit noch starker 
Veränderungen bedürftig. ' L Lrae^
	        
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