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Ich frage:, hat man in diesen zweitausend Fällen ebenfalls
herzigkeit
8. Lraoausr.
achten. Diese ihrerseits erblicken in den Passanten nur Käufer
oder mildtätige Spender. Der weiße Bäcker scheucht die Kinder
fort, die sich an seinen Brezeln vergreifen wollen. Der Zieh
Harmonika-Bettler wärmt sich an seiner Musik. Der murmelnde
Bettler verwechselt vielleicht in halbem Irrsinn die Menschen mit
Steinen und Stützen. Und ein aus der Mauer gequollenes
Mütterchen, das am Boden hockt, starrt mechanisch auf die vorbei
ziehenden Hosenbeine, Rocksäume und Schuhe.
Es ist wohl der Gegensatz zwischen dem geschlossenen, un
erschütterlichen Konstruktionssystem urck dem zerrinnenden mensch
lichen Durcheinander, der das Grauen erzeugt. Auf der einen
Seite die Unterführung: eine vorbedachte, stabile Einheit, in der
jeder Nagel, jeder Backstein an seiner Stelle sitzt und dem Ganzen
hilft. Aus der anderen Seite die Menschen: auseinandergesprengte
Teile und Teilchen, unzusammenhängend Splitter eines Gänzen,
das nicht vorhanden ist. Sie können aus Mauern, Trägern und
Stützen einen Verband schaffen, aber sie sind unfähig dazu, sich
selber zu einer Gesellschaft zu organisieren. Kratz und schrecklich
wird durch das vollkommene System toter Stosse die Unvoll-
kommenheit des lebendigen Chaos enthüllt. Der Bäcker steht un
nütz herum, während die Eisenstützen, die ihn umrahmen, eine
Funktion haben, und zum Unterschied von den Wänden, die tragen
dürfen, sind die Bettler Ballast. Unmenschlich ist aber nicht nur
die Planlosigkeit, mit der die Menschen dahintreiSen, sondern auch
planmäßige Konstruktion der Passage. Wie sollte es anders
sein, da sie von Menschen erbaut ist? Diese Stützen sehen wie
Feinde aus, diese Mauern erinnern an Zuchthäusler, und diese
Deckenträger summieren sich zu einem einzigen Alpdruck. Ein
System, das so undurchdrungen und verlassen ist wie das
anarchische Gemisch der Paffanten und Bettler.
Immer wieder packt mich dasselbe Grauen, wenn ich durch die
Unterführung gehe. Und ich denke mir manchmal wie zum Trost
bessere, schönere Konstruktionen aus. Solche, deren Baumaterialien
nicht nur aus Eisen und Backsteinen, sondern gewissermaßen auch
aus Menschen bestünden. Dann brauchten sich die Passanten
nicht so zu beeilen, und die Musik wäre kein Wink für die Barm-
i Wrdjngs wird durch eine--statistische
AnMeAbgestöppt, die wie aus Gersehen in einem der Kindes-
fluß dieser Nachrichten entnehmen läßt ist unstreitig, die: daß um
der Rettung des entführten Kindes willen, das in einer der Mel-
Berlin, im März.
Dicht beim Bahnhof Eharlottenburg zieht sich unter den Gleisen
eine schnurgerade Straße hin, die ich oft passiere, weil an ihr
jenseits des Bahndamms der Bahnhosseingang liegt. Ich gestehe,
daß ich diese Unterführung nie ohne ein Gefühl des Grauens
durchmesse. Es könnte von ihrer Konstruktion herrühren, aber ich
glaube nicht einmal, daß sie allein das Grauen verursacht; obwohl
sie von einer finsteren Strenge ist, der jede Heiterkeit fehlt. Back
steinmauern grenzen die Unterführung ein, verrußte Mauern, die
mit zwei Reihen eiserner Stützen zusammen die niedere Decke
tragen. Diese Decke besteht aus zahllosen Eisenträgern, die einander
in winzigen Abständen folgen und mit unendlich vielen Nietnageln
versehen sind. Zwischen ihnen sitzt eine graue Betonmasse, die nicht
minder massiv wirkt wie die Träger selber. In der Dämmerung
scheint die Unterführung nicht aufhören zu wollen. Die Mauern
zu beiden Seiten dehnen sich bis zum Fluchtpunkt, die eisernen
Stützen, die an den Rändern der Fußgängersteige eingerammt
sind, vermehren sich und werden bedrohlich, und die Decke senkt
sich allmählich immer tiefer herab. Eine klirrende Höllerrpaffage,
ein düsterer Zusammenhang von Backsteinen, Eisen und Beton,
der für alle Zeiten gefügt ist.
Viele Menschen eilen durch diese Unterführung. Ich sage eilen,
und meine es wörtlich. Denn sei es, daß die Paffanten nach Hause
oder zum Zug müssen, sei es, daß ihnen das kellerartige Wegstück
Unbehagen einflößt: sie blicken nicht nach rechts oder links, sie
machen so rasch, als sehnten sie sich danach, wieder an die Ober
fläche zu kommen. Trotz ihrer Hast, die genau so wenig einladend
ist wie das durch die Resonanz verstärkte Gepolter der Lastwagen,
haben sich in der Unterführung verschiedene Stammgäste an
gesiedelt, die hier offenbar Zuflucht vor Kälte und Regen suchen.
Zwei eiserne Stützen nahe beim Ausgang umrahmen einen weiß
gekleideten Bäcker, der Salzbrezeln feilbietet, die niemand kauft.
Tiefer im Innern halten sich mehrere Bettler auf, die von der
Backsteinmauer, an der sie stehen und kauern, kaum noch zu
unterscheiden sind. Alte, längst verwelkte Mauerblümchen, be
schäftigen sie sich damit, irgendeinen Schlager zu dudeln, dem
nur die Nietnägel lauschen, oder murmelnd auf eine Gabe warten.
Was in mir jenes Grauen hervorruft, ist aber auch nicht
eigentlich die entsetzliche Unverbundheit aller der genannten Per-
wert. Hier gilt das Menschenleben noch etwas, hier ist die Ent-
fsihrung Mss wMzigen Babys Grund genug, um zahllose Land- '
straßen abzusperren, den Küstenschutz zu mobilisieren und die
Telegraphen-spielen Zu lassen. Die gesamte Apparamr eines
mn — ächtigen Landes rm Dienste » der R ^ e u ttnungg: i « ch y w -ä ü u ßgt l e n M ic M h I t , , wi , e
die Mgrate, deren viele sonst den Zweck der Zerstörung haben,
" nützlicher, angewandt werden könnten, und finde, daß der Ge-
" brauch, - - rr - in - di - es - em - Falle von ihnen gemacht wird, beinahe; schon-
quf das-goldene Zeitalter hindeutet, in dem die Maschinen den
Menschen Untertan sein werden, statt sie nur auszubeuten und zu
yergiMaltig.en. ' -
dungdn äucy einmal das „populärste Baby der Vereinigten Staa
ten" heißt,.Diele private und sämtliche behördlichen Organisationen.
in Bewegung gefetzt worden sM. Hunderttausend Beamte per
folgen hunderttausend Spuren; die Seelsorger der verschiedensten "
Konfessionen beten von der Kanzel herab für die Wiederkehr des.
KindÄ;.. die .Amerikanische. Legion, .die Pfadfinder usw. wollen
mit suchen helfen;. die Sender und Zeitungen Amerikas geben
in einem Aufruf die Diät und die Medizin bekannt, die .das
augenblicklich erkältete Baby nötig hat.
Me WnlerMrung.
fönen. Ich weiß natürlich, daß sie vorhanden ist. Von den schnellen
Passanten hat jeder seine Privatangelegenheiten im Kopf, die ihn
daran verhindern, auf die Dauerbewohner der Unterführung zu
. Berlin, Anfang März. raub-Berichte stecken geblieben ist. Oder richtiger: nicht .aus Ver-
i Der Linderraub im Hause Linübergh scheint zur Zeit die sehen. Denn der Berichterstatter hat sicher die betreffende Mit-
Kmerikanische Oesfeutlichkeit mehr zu erregen als der chinMch-s teilung.nur im Jnteresie einer planmäßigen Steigerung des Sen-
japLnische Krieg-, oder die' Wirtschaftskrise. Auch die Berliner fationsmertes der ganzen Meldung hinzugefügt. Die Angabe
Blätter melden ausführlich, was drüben alle - -Blätter- er- lautet, daß in den,leWn.cheiden Jahren nicht weniger als.
füllt. „Warnung vor Polizeihilfe" — „Wichtige Finger- 2 0 0 t) K i n d e r. in Amerika entführt worden seien
abdrücke gefunden" — „Geheimnisvoller Hinweis" — „Ueber Ich frage:, hat man in diesen zweitausend Fällen ebenfalls
hunderttausend Beamte helfen ihm" - „Er will S0 000 die Machtmittel der Bereinigten Staaten ihrem vollen Umfana
Dollar Lösegeld zahlen": so lauten einige Untertitel der "ach ansgeboten, um die notwendige Hilfe zu leisten? Sind zwei-
täglichen Bulletins. Die wichtigste Tatsache, die sich dem Ueber- tausendmal Extrablätter der Zeitungen erschienen? Zweitausend
mal den Verbrechern nachgeschickt worden?
Zweitausendmal die Wirkungen von KanzelgebLtett in Kraft ge
treten? Man hat nichts davon gehört, also wird es auch nicht ge-
VBen sein. Und doch handelte es sich zweitausendmal um das-
/^e. Um entführte Babys, die möglicherweise ebenfalls an Er-
U^üng litten und gewiß ihren Eltern so lieb, und teuer waren
wie das LindberH-Baby den seinen.
Die mangelnde Anteilnahme der Oesfeutlichkeit an den statt-,
seM'^stellten zweitausend Mllen ist schuld daran, daß'die"
^lenaktionen für die Bergung dieses A»1. Kindes einen sehr ge»
mischten Eindruck hinterlassen. Sie gelten weniger irgendeinem in
Dieser Einsatz einer Millionenbevölkerung eines einzelnen einem beson^
KindeL wegen. ist, rein für sich betrachtet, jeder Bewunderung 2;^ Soüdarttatsbewnßtsems, das für alle
wert. Hier gilt das Menschenleben noch etwas, hier ist die Ent- Verantwortung empfin ¬
det, ' sonder " n eine Huldigung für den Nattonalhelden, für einen
Auserwählten unter Millionen. Sie Leweisens nicht, daß das
Menschenleben in Amerika eine hohe Achtung genießt, sie per-
E die «nvoch-Waren Proportionen des mit dem Ozean-
edelmütigen
^u Me Natron, fähig ist, aber diese
megung regt sich hier im Gefolge von Reichtum und Ruhm.
' Ztt den amerikanischen Filmen spielen Kinder seine gewaltige
Rolle,Man HM sich an- ihrer Süßigkeit wie an tzuckerstangen,
man macht sie zum Mgenstand sämtlicher höhereü Gefühle, So
lange aber diese Gefühle nur bei Gelegenheit exzeptioneller Ba
bys m die Wirklichkeit eingreifen, ist die Wirklichkeit noch starker
Veränderungen bedürftig. ' L Lrae^