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Object: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Was ist zu tun? Aber diese Frage kann, wie er nachdrücklich 
unterstrich, nicht von der anderen abgelöst werden, was die 
Franzosen tun. An einer entscheidenden Stelle wandte sich! 
der Dichter seinen französischen Freunden zu und forderte auch 
von ihnert Besinnung. Er bat sie zu bedenken, daß die beste Sicher 
heit Frankreichs die Gesundheit des deutschen Volkes sei. Eine 
auch rhetorisch stark herausgehobene Erkenntnis, der er die Mahnung 
anschloß, daß die Franzosen im Dienst der deutsch-französischen Ver 
ständigung über die unerträglichen Punkte des Versailler Ver 
trags mit sich reden lassen möchten. 
Noch einmal: was soll das deutsche Bürgertum tun? Aus dem 
Bescheid, den Herr Mann erteilte, ging hervor, daß die Ereignisse 
der letzten Jahre sein Denken tief beeinflußt haben. Gewiß ist er 
noch an manche Anschauungen gebunden, die in der Vorkriegszeit 
zu den Fermenten deutscher Bildung gehörten und in ihrer alten 
Gestalt zweifellos nicht mehr Lragfähig sind —aber er setzt sich doA 
auch als ein Lernender über diese verständlichen Bindungen hin 
weg. Mit einem Ernst, wie ihn nur die eigene Erfahrung gebiert, 
empfahl er den Bürgerlichen, sich nicht länger an jenem Wort zu 
stoßen, das ihre politische Orientierung verhindere: am Wort 
Marxismus. Trotz seines Bemühens, das ominöse Wort zu 
entgiften, bleibt allerdings zu befürchten, daß das von ihm an 
gesprochene Bürgertum es bis auf weiteres nicht schlucken wird; 
weniger aus chtonischen als aus machtpolitischen Interessen. 
Gleichviel: es ist geistesgeschichtlich und biographisch denkwürdig, 
daß dieses späte Selbstgespräch, das Stresemann nicht zu feiern 
vergaß, zu bekunden wagte, der Platz des deutschen Bürgertums sei 
an der Seite der großen deutschen Arbeiterpartei, 
Das Publikum jubelte dem Dichter am Schluß mit einer Be 
geisterung zu, die geradezu chronisch genannt werden durfte. Sie - 
war nicht zuletzt ein Protest gegen die vielen Zwischenrufes 
Wortrag mtt Zwischenrufen. 
Lr Berlin, im Oktober. 
Thomas Mann ksm in einer aufgeregten Zeit nach Berlin. 
Die Stürme im Reichstag, das SteinbomLardement und die Schüsse 
auf den Straßen — war zu erwarten, daß es bei seiner „Deut 
schen Ansprache" so ruhig zugehen werde wie bei einer 
Sonntagspredigt? Es ging nicht ruhig zu, und Herr Mann war 
sich wohl auch dessen bewußt, daß sein öffentlich geführtes „Selbst 
gespräch" auf laute Gegnerschaft stoßen müsse. Vor allem, wenn man 
es mit solchen Gegnern zu tun hat. 
* 
„Ich bin ein Kind des Bürgertums," sagte der Dichter 
zu Beginn, „und habe nie meine Herkunft verleugnet". In der 
Tat, er verfocht auf der Tribüne die Sache eines Bürgertums, 
von dem nur zu wünschen wäre, daß es unter uns lebte. Verfocht sie 
mit einem Verantwortungsgefühl, das jeder, auf welcher Seite 
immer er stehe, zu achten hat. Schon dies: daß er aus der Abge 
schlossenheit der schriftstellerischen Privatwelt heraustrat, um ein 
politisches Glaubensbekenntnis abzulegen, mochte für ihn, der nach 
seinem eigenen Geständnis alles andere eher als ein unerbit^cher 
Aktivist ist, keine Kleinigkeit sein. Und kuragiert wie der EntjcyLuß 
zur Ansprache war ihre Haltung. Sie wurzelte in den guten 
Traditionen jenes Humanismus, der sich mit der Aufklärung 
freundschaftlich Zusammenfindet; und sie bewies, daß die alten 
Traditionen noch einigermaßen elastisch sind. Die Frage ist nur, ob 
das Bürgertum sie im Sinne seines Fürsprechs zu wahren und 
zeitgemäß zu verändern bereit ist. Vorderhand sieht es nicht danach 
aus. Man hat vielmehr den Eindruck, als seien gerade die Gruppen 
in Wirtschaft und Politik, die sich mit Vorliebe bürgerlich nennen, 
unendlich weit von dem Bürgertum entfernt, das Herr Mann meinte. 
* 
Ihre Verblendung dürfte ihn selber am allerwenigsten ver 
wundern. Erklärte er sich doch das Wahlergebnis des 14. September 
unter anderem aus der Heraufkunft chtonischer, geistfeindlicher 
Kräfte, deren Erwachen er wiederum auf den Niedergang der 
Mittelklassen. und die damit zusammenhängende allgemeine 
Empfindung einer Zeitwende zurückführte. In beherzt ziselierten 
Wendungen, die von den Nationalsozialisten vermutlich 
nicht begriffen werden, suchte er ihre ihm (und uns) unbegreifliche 
„exzentrische Barbarei" Zu begreifen. Er sprach von der Natur 
religiosität des Neosozialismus, von seiner orgiastischen Unter 
strömung, von dem Einschlag der Germanistenromantik aus akade 
mischen Sphären. Ist das deutsch? Keineswegs, sagte Herr Mann, 
und überdies läßt sich in einem vielerfahrenen Geschichtsvolk wie 
dem deutschen die ersehnte blutreine, blauäugige Primitivität gar 
nicht verwirklichen. Solchen Wunschbildern stellte er als deutsch 
gegenüber: Würde, die auf Besinnung beruht und den Fanatismus 
von sich weist. 
die den Vortrag fortwährend unterbrachen. In der Hauptsache 
rührten sie von nationalsozialistischer Seite her, und man wird sich 
unschwer denken können, wann, wie und warum sie einsetzten. Mit 
unter kam es zu Tumultszenen wie in einer Volksversammlung, 
und Herr Mann mußte sich darauf beschränken, als politisch 
unpolitischer Betrachter auf den Lärm unter ihm schweigend herab 
zublicken. Da man sich nicht anders zu helfen wußte, wurde die 
Schupo geholt, die einige der Hauptstörer aus dem Saal eskortierte. 
Unter ihnen Herrn ArnolL Bronnen. 
Herr Bronnen versteht sich auf solche Attacken. In seinem, 
dieser Tage erschienenen Buch „Roßba ch", einem Doku 
ment jenes von Thomas Mann gegeißelten deutschen Un 
geistes, heißt es dort, wo die ersprießliche Tätigkeit des Freikorps 
Roßbach im kommunistischen Essen geschildert wird; „Langsam 
kehrte, in den ersten Tagen des April, die Ordnung zurück. Hier 
bewährten sich die Roßbacher nicht nur als Krieger, sondern auch 
als Erzieher. Da trat in der Hauptstraße Essens ein Mann an 
einen Freikorps Posten heran und bemängelte ironisch dessen aller 
dings nicht gerade überzeugend republikanische Uniform. Der Roß 
bacher, der einen feinen Unterschied zwischen Soldaten und Zivi 
listen zu machen verstand, knallte dem Ironiker eine in die 
Fresse..." Das ist das „grelle Licht des Nationalsozialismus", 
von dem Herr Bronnen spricht; das sind die Argumente, mit denen 
seinesgleichen knallt. Der Mann, dem in die Fresse geschlagen 
wurde, war der Korrespondent des „Manchester Guardian". Wie 
das Wort „Freikorps Posten" sind, nebenbei bemerkt, in diesem 
Machwerk alle Verbindungsworte getrennt; offenbar um anzu- 
deuten, daß man die Elemente, die von Rechts wegen Zusammen 
gehören, unter keinen Umständen miteinander verbinden will. 
Werden die mutigen Worte Manns von denen vernommen 
werden, an die sie gerichtet sind? Oder geht die Geschichte Wer sie 
hinweg? An der Einsicht des deutschen Bürgertums ist viel gelegen.
	        
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