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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.08/Klebemappe 1929 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

bleibt um der Gestaltung willen von der photographierbaren! 
WirNichFeit nichts mehr bestehen. So scheinen die marschierenden! 
weißen Truppen wie Puppenreihen an den Häuserfronten vorbei-^ 
gezogen Zu werden — ein glänzender Regieeinfall, der die Leere 
des bloßen D;illZ verdeutlicht. Das Sturmfinale ist eine sehr 
kunstvoll gesteigerte freie Komposition, der es allerdings an der 
letzten visionären Kraft gebricht. An etlichen Stellen fehlt übrigens 
dem Gewebe der Bilderzählung auch die Dichte. Die Kampf 
szenen hätten sich auf einen Hinweis beschränken sollen, und ebenso 
wären bei der Flucht des Jägers Striche wohl möglich gewesen. 
Vielleicht hat die außerkünstlerische Lust an der Schilderung des 
exotischen Milieus Zu überflüssiger Breite verlockt. 
Die blonde Komteß. Wieder einmal ein Film, der nach 
einer Operette gemacht worden ist. So groß ist die Leere, daß die 
gestorbensten Operetten herbsigoholt werden müssen, um sie zu 
Wem Reden wir nicht über den angeblichen Inhalt des Films. 
Seine Hauptperson ist Dina Gralla, eine begabte Grotesk- 
komikerin, die hier sogar ausnahmsweise einmal an der richtigen 
Stelle eingesetzt wird. Sie istaus lustige Art doof, mit ihren 
mechanisch kullernden Augen. Ihre Stärke ist die seelenlose Puppe, 
die als Amüsterinstrument ihren Daseinszweck hat. Werner 
Fütterer hat sich in der Rolle des jugendlichen Liebhabers 
bereits abgenutzt Immer nur schön zu sein, Liebesblicke zu werfen 
und Besitz zu ergreifen, ist freilich auf die Dauer ermüdend. 
Ralph Arthur Roberts verkörpert einen impotenten Trottel, 
der entzückend blödsinnig grimassiert. Der Film läuft in den 
Alemannia-Lichtspielen- Laca. 
Mit dem „Sturm über Asien" tritt Pudowkin noch auf der 
Stelle. Wann wird er sich in Marsch setzen? Wann sich der offi 
Ziellen Kategorien entledigen, die historisch geworden sind? Wann 
von den RevoluLionsweihfM ablassen und endlich sich dem 
stabilisierten NachEriegZeuro ist reif dazu, von ihm 
durchschaut, in seine Elemente zerlegt und neu montiert zu werden. 
(Der Film wird demnächst im Frankfurter Gloria-Palast 
gezeigt.) 
S. Kracauer. 
Auch dieser Film ist gleich so manchen anderen Russenfilmen 
ein durch und durch episches Werk. Der große Zug russischer 
ProM kehrt in den Bildschöpfungen wieder, die sich nicht ängst 
lich zuspitzen, sondern eine Welt mitnehmen möchten. Von der 
mongolischen Landschaft mit ihren Wüsten, Bergen und Tieren 
dringt Pudowkin zu einem einzelnen Jäger vor und von jedem 
Detail ins allgemeine Leben zurück. Die Stoffmassen werden von 
ihm nicht nur angeschwemmt, sondern nach jenen Prinzipien be 
wältigt, die er selbst in seinem Buch: Filmregie und Film 
manuskript" entwickelt hat. Je nach dem Sinn des Austritts 
wechselt die Forch der Montage. In den einleitenden Bildern 
zum Beispiel sind zahlreiche Beobachtungen über Kreuz so an 
einandergestiftet, daß sie sich unmeMch an die Hauptperson- 
hevanpirschm. Eine mächtige fugenartige Wirkung erzielen dank^ 
der hier stattfindenden Parteiführungen die Tcmpelszenen. Wäh- i 
rend der russische Kommandeur und seine Frau sich zum Fest 
schmücken, wird auch der Tempel gefegt, und die Feier selber, die 
als Demonstration guter Beziehungen zwischen den Mongolen und 
den Usurpatoren dient, ist fortwährend von brutalen Aus 
schreitungen gegen die Bevölkerung unterbrochen. Mit rein 
filmischen Mitteln werden so ideelle A-ehnlichEeiten und Kontraste 
ohne Da^wischenkunft des Textes schlagend vergegenwärtigt. Oft! 
Am meisten bewährt sich Pudowkin in den Einzelzügen, die fast 
durchweg Lief und richtig erfahren sind. Zum Glück scheut er 
diesesmal vor Vergleichen von der Art jenes allzu sinnfälligen 
zurück, den er einst Zwischen der Reiterfigur und dem Industriellen 
auskonstruiert hatte. (Nur in einem Falle verfährt er plump: dort ! 
nämlich, wo er neben dem gefangenen Jäger ein Aquarium er-- 
scheinen laßt, in dem gefangene Fische sich an den Wänden stoßen.) 
Das Gesicht der herrschenden Klaffe wird von innen zu erfassen 
gesucht. Statt die Pelzhändler Zu Karikaturen zu verzerren, zeichnet 
er sie als dreidimensionale Menschen, die durch ihre Position zu 
Bedrückern werden, und erschließt aus kleinen Gesten' ibre Ver 
härtung. Wunderbar ist die Armut des Volkes veranschaulicht: in 
der Hoffnung auf ein gutes Essen verklären sich alle Gesichter so 
selig, als läge das Paradies vor ihnen offen. Die meisterhafte 
Analyse des Vorgangs der Erschießung erinnert an die besten 
russischen Prosastücke. Wie der mit der Hinrichtung beauftragte 
Gefreite sich die Pfeife anzündet! Wie er. auf dem Heimweg durch 
die vorher ängstlich umgangene^ Pfütze tappt! Daß die vielen un 
gelernten Darsteller, an ihrer Spitze der den HAden.verkörpernde 
Mongole Jnkischin off, mit großer Sicherheit eingesetzt sind, 
versteht sich von selbst. Auch die Räume erlangen wieder AusdruLs- 
gewalt. Der von oben überblickte Tempelvorhof etwa wird zum 
Ort schlechter Macht. 
In einigen Teilen ist der Film beinahe so etwas wie ein 
Kulturfilm. Pudowkin hat von seiner Expedition Szenen 
heimgebracht, die bisher noch niemals gekurbelt worden sind: 
betende Mönche, einen pompösen Zug buddhistis^ 
und kultische MaskentänZe. Er behandelt die Sitten , ußd Gebräuche 
mit einer Ausführlichkeit, die zwar der Konsistenz des Films Ab 
bruch tut, aber doch nirgends ins bloß Stoffliche entgleitet. Was 
die Organisation des Materials betrifft, so könnten unsere Kultur 
filmfabrikanten hier samt und sonders in die Schule gehen. Ent 
weder stellen sie ihre Gegenstände gedankenlos nebeneinander oder 
verbinden sie durch ein läppisches Faöelfragment, das auch keine 
Einheit schafft. Von Pudowkin (und seinem. Kameramann 
Golownja) wird ihnen vor gemacht, wie man die UnwirtlichkeiL 
ein^r Steppe d nstellt, ein Heiligtum durchwandert, das Ineinander 
von Musikanten und Tanzenden herausholt und Straßen- 
physiogonmien Zur Aussage zwingt- Freilich, er weiß, was er will, 
und alle von ihm getroffenen Dinge haben für ihn einen gesellschaft 
lichen Sinn, der die Art ihrer Darbietung bestimmt. Daher der 
innere Zusammenhang seiner Beschreibungen; während unsers 
Kulturfilme konfuse Mixturen sind, die nach nichts schmecken. (Zu 
den wenigen Ausnahmen gehört der neue Pariser Kulturfilm 
„I/tzs ÄEonm'ers", eine bedeutende soziale Bildreportage.) 
Siwm über Asten. 
Zu dem Film von Pudowkin. 
AuffLand der Unterdrückten ist wieder das Thema des neuen 
Pudowkin-Films. Das Kollektivum handelt und nicht der 
Einzelne. Das heißt, er gilt wohl, aber nur insoweit, als das 
Kollektivum sich in ihm darstellt. Bewegt werden darum wie in 
den früheren RussenftLmen vorwiegend Typen, die Ausdruck ihrer 
Gruppe sind. 
Die Szene ist nach der Mongolei verlegt, die von weißer russi 
scher Garde besetzt gehalten wird. Gegen das GewaltregimmL der 
Eindringlinge erheben sich Freischärlerbanden der ausgepowerten 
mongolischen Bevölkerung und revolutionäre Russen. Die Figur 
eines einfachen Jägers, der mit seinem Volk leidet und kämpft, 
erhält stellvertretende Bedeutung. Der Jäger wird von Petz 
händlern üöervorteilt, ersticht einen der Betrüger, muß fliehen, 
schließt sich seinen LanWleuten an, wird gefangen und erschossen. 
Er stirbt nicht, und die Weißen Pflegen ihn sogar wieder gesund, 
weil sie ihn für einen Nachkommen des Dschingis-Khan halten. 
Wenn sie den Träger dieses Namens zum Herrscher ausrufen,^ 
meinen sie mit seiner Hilfe endlich Besitz von dem aufrührerischen 
Land ergreifen Zu können. In einem Zustand von Betäubung 
läßt der Jäger alles mit sich geschehen. Zuletzt erwacht er aber, 
schlägt sich durch die Russen durch und führt die Volksgenossen 
Zum Kampf. Sturm über Asien. 
H 
Das Schema der Handlung, das trotz der veränderten Umwelt 
dieser Film mit seinen Vorgängern teilt, ist nachgerade erstarrt. 
Auf der einen Seite die Machthaber, auf der anderen die Aus 
gebeuteten Jene versinken am Ende, und diese beginnen zu 
triumphieren. So gewiß es keinen der Darstellung würdigeren 
Gegenstand als eben diese Auseinandersetzung gibt, so wenig ist 
ihr Ablauf in der traditionellen russischen Manier noch aktuell. 
Aus dem bolschewistischen Rußland ist das heutige Rußland ge 
worden, und auch sonst sind wir über die glorreichen Anfänge 
hinaus. Statt die Partie weiter zu spielen, verweilt Pudowkin 
Wie ehedem bei der Eröffnung des Angriffs. Mit jener derv zu- 
packendrn aufklärerischen Gesinnung, die den ersten Zügen der 
revolutionären Aktion legitim zugeordnet ist, später aber nicht 
mehr allein voran trägt, Zeigt er von neuem die Jntereffengleich- 
heit von weltlicher Gewalt r rd Priesterherrschast; deckt Analogien 
aus, die schon längst aufgedeckt und mittlerweile im den Hinter 
grund gerückt sind. Die Primitivität seiner Argumente ist von der 
Geschichte der letzten Jahre überholt. Es wäre an der Zeit, daß 
die russische Filmkunst der Wirklichkeit nacheilte. Deren bedenk 
liche Konsolidierung wird durch die stete Auffrischung der Prä 
ludien drastisch erhärtet. 
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