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Metadata: H:Kracauer, Siegfried/01.04/Klebemappe 1924 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

den Sinn für die Heimat und die 
rLQ. 
Njm Im Schumann - T'h eurer wird der Film 
„Nju" gezeigt, eine dreisAZ« Geschichte mit schlechtem Ausgang 
nach einem Roman von OM Dymow. Nju, die „unvsrsiaiweue 
Krau*, ein undefinierbares Genusch aus Heüda, Nora und Lulu, 
erblickt „ihn" zufällig auf der Straße, liebt ihn aus diesen Blick 
hin aus Langeweile, verläßt ihren Gatten, wird auch von jenem 
anderen Verlassen und ertränk sich zum Schluß. Votta! Die Ge- 
jchrchte ist ein wenig zu konsistent für den Film, aber Regie und 
Technik übersetzen das Epische in die Bildsolge und geben die 
Zwischentöne, soweit eS nur irgend geht. Der Schwerpunkt rühr 
auf den darstellerischen Leistungen. Conrad Veidt als Verführer 
kehrt den blasierten Weltmann heraus, den man mehr ihm glaubt 
als den- Dichter- Die Nju Elisabeth Bergners mit ihren ge 
schwungenen Augenbrauen und der beredten Rückenlinie ist das 
Weib, das weder Dauer noch Treue erfragt, sondern in der gegen 
wärtigen Leidenschaft allein die Erfüllung findet. Erschütternd 
Iannings als Ehegatte: M Beginn naiv besitzend, gut, aber 
etwas zu sehr tölpelhaft und behaglich dann stutzig und daS Un- 
bcgrMiche kaum erlassend, besinnungslos um sich schlagend spater 
und für Augenblicke Barbar und zuletzt, wenn das Innere dürch» 
brickt, Liebe nur, Mitleid, das nicht versteht, und verzweifelte 
Preisgabe seiner selbst angesichts des Unabänderlichen. —- In 
einem Ekctsch: „Der Befehl" stellt sich dann Conrad VeLdr 
als junger Elregatt^ persönlich dem Publikum vor. Schreckliches 
geschieht mir ihm. Er wird von einem rachsüchtigen Arzt in Hyp 
nose versetzt und muß seine eigene Frau mir dem Papicrmcffer er 
dolchen- weil diese den Arzt verschmäh!, ffntz Odemar gibt sich 
das unheimliche Aussehen des Hypnotiseurs und Krl. O»erhoff 
weiß Würde, Liebe und Angst zu vereinen. Conrad Veldt schickt 
sich in das Unvermeidliche und spielt eS ss glaubhaft wie möglich 
Das Publikum hielt mit Beifall nickt Zurück. rac. 
Wohlauf, nsck getrunken ... In den l! k a - L i ch t s p i e 
len zeigt sick ein Film: „Wein, Weib, Gesang", mit dem 
man aber nicht die ein wenig liederlichen Vorstellungen verbinde, 
der Dreiklang gewöhnlich auTZulösen pflegt. Vielmehr: der 
Film beansprucht die Würde eines deutschen Kulturfilms 
und entrollt mit der ganzen Ack^bmckkit und Gemessenheit dieser 
Gattung. Der vsrm» geschickt- historische Teil mginm wir rs Uch 
ur eine gründliche Darstellung der Geichrchre des Weinbaus 
ziemt, bei Nsah und läßt unter anderem einen wenig dionysischen 
Bacchuszug vor der Kopie eines griechischen Tempels cmsnurr* 
schieren. Der Hauptteil verbreitet stch über den deutschen 
Weinbau in allen seinen Zweigen. Theoretisch ZuMchst: man 
beobachtet die Winzer bst der Arbeit, lernt die Reblaus in Groß- 
ausnahme kennen, studiert die Abwehrmittel gegen die Lchadunge 
ulw. 'Geographisch-kulturell sodann: man durchwanden dre 
schönen Weingegenden Deutschlands, erlabt sich, an Würzburg 
schlendert im MoselLaft folgt dem Nheinlauf und mischt stch überall 
geruhsam unter öie Bevölkerung, die ihre Landessitten enualteü 
Da-MBen eingestreut Erinnerungen, die stch an gewisse Orte und 
Weine knüpfen: Du siehst Schiller leibhaftig und begeistert dich 
ten. belauschst den in einer poetischen Laube sitzenden Scheflel bei 
der Abchi una eines Zeckerliedes und nimmst teil *an jenem ge 
waltigen Truu? des Nothenüurger Bürgermeisters Wusch, der die 
Prominenten der Stadt vor dem Todesurteil durch Tillh errettete. 
Kurzum: ein Schweifen durch Zeit und Raum- ein üppiges Ran. 
kenwerk um das Faktum der Reben. Dazu erschallt, von einem 
unsichtbaren Chor vorgetragen, ein alles Volkslied umZ 
andere, kodaß man in eine rechte Trinkstimmung gerät und Meu- 
ni-ni in das nächste Wirlshaiiz enischlüpfen mochte. Im Enrste 
vcivroüorn: es erscheint fraglich, ob der Film ferne Vestrmmung, 
den Sinn für die Heimat und die Freud? an ihren schönen Gaben 
und Gebräuchen zu erwecken, auch wirMch «Ern lärme. Am 
ehesten dam angeian sind die guten Landmasts- und Stadte- 
bilder und die obM-be Auskünfte über die Tatsachen der Wem- 
ft'ltnr, di- eingedickten unterhaltenden Szenen dagegen erscheinen 
manchmal zu abüchtlich und gestellt. Immerhin mag die Kom 
position ihres sachlichen Gehalts wegen zumal den schulen emp 
fohlen werden. 
Wom Wamne des Bösen". 
Ein ftanzöstscher Autor, Marcel Berg er, gleich aner-» 
kannt als Schriftsteller und als Sportsmann — seine epische 
und seine dramatische Produktion sind der Auszeichnung 
ebenso wert erachtet worden wie seine Leistungen auf dem 
Gebiet des Tennisspielens. der Schwimm- und Boxkunst 
hat diesen Nachkriegsroman: „VomBaumedeS Bösen" 
(übersetzt von Hans Adler, Verlag Carl Schusdek, Wien und 
Leipzig) geschrieben, in dem die Geister der Hölle auf die 
Kriegsschuldigen losgelassen werden. Das Buch tragt im 
Original den Titel: 61<zux trsnidleul"; und in der 
Tat: die Götter der bürgerlichen Gesellschaft stehen hier vor 
einem Gericht, dessen Spruch sie erzittern macht, ehe er stch 
an ihnen vollstreckt. 
Auf dem Loersberg in der Schweiz, einem unzugänglichen 
Felsen von 2000 Meter Höhe, dessen Gipfel nur durch eine 
Drahtseilbahn erreichbar ist, erhebt stch eine Burg aus der 
Feudalzeit, die man während des Kriegs restauriert und in 
ein Luxushotel umgewandelt hat. Ein exponierter Vorposten 
der Zivilisation, der im Sommer 1919 erlesenen Besuch aus 
nahezu allen Ländern Europas ernpfängt: den franzö 
sischen Abgeordneten Marius Dartigues, den deutschen 
v. Weißweiler, den österreichischen Diplomaten Baron Ho!« 
beck, den rumänischen Dichterhelden Titto Vertescu, der mit 
Vornamen auch Gabriele heißen und Italien besingen könnte, 
den englischen Minister Sir Cecil Harbour und andere 
Prominente mehr — niemand ist ausgenommen, weder 
Amerika noch die neutrale Schweiz. Man hat den Krieg im 
Rücken, der Groll von gestern beginnt zu weichen, und das 
unverwüstliche Leben regt sich harmlos und leicht. Marius 
flirtet, Titto rauscht auf prangenden Phrasen dahin, der 
amerikanische Oberst unterhandelt wegen Eisenbahnkonzessio 
nen und ein junges französisches Ehepaar freut sich des siche 
ren Glücks- Lultzuts aorttiulo ein.rs vergeßlichen Geschlechts, 
das der anoerichteten Zerstörungen kaum mehr gedenkt und 
nur leben will, leben. 
Einer aber ist, der nicht vergessen kann, weil keine Zukunft 
seiner wartet: Philipp von La Tour-Ahmon, ein Sterbender, 
dem nicht mehr als zwei.Wochen noch öeschieden sind. Vom 
Tod ereilt, blickt er mit einer von der Angst des Wahnsinns 
übersteigerten Hellsichtigkeit nach rückwärts und in die 
Tiefs, durchdringt die Scheinhaftigkeit des um ihn aufflaUern- 
den Lebens und möchte das entschlüpfende, über ihn himveg-i 
drängende seschalten bei der Erkenntnis, daß es gefrevelt habe 
und nicht davonjagen dürfe, als ob die Welt in ihrer Ordnung 
sei. Evelyns, Titto, Marius, der Großfürst und die andern 
alle.: wie kann diese illustre Gesellschaft, die an dem Unter 
gang der Millionen schuldig ist, wie kann ste, so fragt er v.ev- 
Alveifelt im Angesicht des Todes, Lustbarkeiten jetern hier, das 
Dasein uybedenKich auskosden, weiter zeugen, weiter planen, 
ohne von Entsetzen LNgepackt zu sein über stch selber, ohne im 
VerwesurrMestank zu vergehen, der den Schlachtfeldern wieder 
und wieder entsteigt? „Ist nicht unsere ganze bürgerliche Ge 
sellschaft am Rande eines Abgrundes aufgebaut?" Ist ste nicht 
reif für die Vernichtung? 
Die Frage findet ihre Antwort durch ein Geschehen, das 
kolporbagehast wäre, wenn es nicht ein Künstler gestaltet hätte. 
Philipp bewirtet an einem von dem Hotelier verunstalteten Feste 
die Gäste und das Personal mit Chartreuse, der ein Gift bei 
gemischt ist, das die Menschen zum Auspumdern ihrer ver 
borgenen Gedanken zwingt, bevor es ste in die Qualen des 
gewissen Todes schiL Allmählich erst — niemand ahnt noch 
Aas Verhängnis — wird die Convention verlassen und die 
Orgie des Bekennens hebt an. Der Wahnsinnige schreitet von 
Gruppe zu Gruppe, er befragt jeden einzelnen um seinen. An 
teil an der Schuld, und jeder einzelne entlarvt sich ohne Rück 
halt, o^ne Scham, gesteht, als sei es selbstverständlich so, feine 
Mittäterschaft an dem Verbrechen der vergangenen Jahre: 
Li'to mit Rhetorik, der Großfürst im Suff, der Arzt als Mann 
der Wissenschaft, der Dankes sachlich und schnöd. 
Unaufhaltsam enttollt sich nun das Todesbacchanal, kunst 
reich cwsgenmlt wie der Höllensturz eines Rubensschen Kolm- 
salg -mäldes. D^.s w-^nki du ch die Korridore, wühlt sich durch alte 
Fel enaänge vergeblich in die Tiefe, sucht letzte Liebeswonne 
und erlahm^ vor der Umarmung, geifert einander an, läßt sich 
mitleidlos im Stich und verendet je nach individueller Anlage: 
erbärmlich wie Marius, mtt schöner Gebärde wie der große Poet 
oder mit versöhnendem Heroismus wU der alte französische 
General. Der Schrecken wird gemehrt von dem meuternden 
Personal, das wie ein Spuk auT der Unterwelt die Prunk 
gemächer durchfegt. Niemand entrinnt- LeichenknäueL sind 
der Rest. 
Ein Äuch det Panikstimmung und des Hasses — eines 
Hasses, der rnchr beinahe als gegen die Schuld am Kriege gegen 
Schuld der Vergeßlichkeit stch wendet und ein Leben der- 
Sammt, das dE Tods entläuft. Diese Gesellschaft, die durch
	        
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