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fullscreen: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Im 
die 
und 
trotz ihrer Größe so zierlich wirken, als seien sie perspektivisch ver 
kürzt. Sie sind in maurischen Formen gehalten, nach Art eng 
lischer Landschlösser ausgebildet, oder auch von vornherein im 
bürgerlichen Geschmack errichtet, mit symmetrischen Erkervorbauten, 
zwischen denen spindeldünne Eisensäulchen das Verandadach tragen. 
Gediegene, zuverlässige Besitztümer, die an Stahlstiche gemahnen 
und verschollenen Familienromanen entstammen. Die Familien 
müssen sehr zahlreich sein, denn die Bauten folgen einander ununter 
brochen, ohne sich je gegenseitig zu bedrängen. Schweigend umhegen 
sie ihre Bewohner und harren, jeder für sich, in ihren Gärten und 
in der Vergangenheit, deren Größe sie spiegeln. Aber prallt auch 
die Musik an ihnen ab, die vom Uhlenhorster Fährhaus blechern 
übers Bassin ertönt, so dringen doch schon Signale des Untergangs 
bedrohlich in ihre Nähe. Ein Tennisklub hat sich auf privatem 
Grund eingemietet, und mehr als ein Gebäude ist zum Verkauf 
ausgeboten. Vorerst handelt es sich um leise Warnungszeichen, 
um ein fernes Grollen, das die Abgeschiedenheit dieser Zufluchts 
orte nicht ernstlich stört. Und dennoch ist deutlich zu spüren, daß sie, 
bevor noch der äußere Druck wirklich eingesetzt hat, gleichsam frei 
willig abzutreten beginnen. Sie sind zur Trennung gerüstet, und 
je dichter der Hafen heranrückt, desto mehr werden sie verblassen. 
Die Reeperbahn ist, wie ich meinem Reiseführer entnehme, 
„weltbekannt durch die zum größten Teil urwüchsigen Ver 
gnügungslokale, die sich in fast ununterbrochener Reihe zu beiden 
Seiten hinziehen". Daß nicht nur ihre Vergnügungslokale ur 
wüchsig sind, habe ich an einem Hellen Nachmittag selber erfahren. 
Auf einer minderen Cafe-Terrasse sitzt ein Mann mit einer Frau 
und genießt die Schönheiten der Reeperbahn. Von der Straße her 
naht ein anderer Mann, bittet offenbar, an dem Tisch Platz 
nehmen zu dürfen, und wird abgewiesen. Alle anderen Tische sind 
unbesetzt. Kaum habe ich mir Rechenschaft darüber abgelegt, daß 
das Kinn des Ankömmlings ein Brecheisen ist, als er auch schon 
jenen ersten Mann aus den Stühlen.herausprügelt und ihn mit 
Hilfe eines plötzlich erschienenen Dritten auf dem Pflaster draußen 
fertig macht. Der Geschlagene entfernt sich, blutend mit seiner 
Mittelstandsstraßen dazwischen liegen, ist doch hier, in der Domäne 
der Großbourgeoisie, jede Spur von ihr radikal ausgetilgt. Ins 
Prado des südlicheren Marseille spritzt immerhin gelegentlich Hafen 
elend herein; der Harvestehuder Weg dagegen kennt keine Verbin 
dung mit dem Mischmasch baumloser Gassen und helldunkler Grün 
flächen, auf denen die Leute lang dahingestreckt dösen. Vielmehr 
erscheint von ihm aus diese Welt, wenn sie überhaupt aussteigen 
kann, als ein beklemmendes Spiel unreiner Formen, wie es durch 
Angstträume wallt. Ohnmächtig weicht der Spuk vor dem Gottes 
frieden des englischen Rasens Zurück, der sich im ruhigen Licht 
makellos dehnt ^m Hintergrund der Anlagen leuchten, halb durch 
den alten Erstand verdeckt, gepflegte weiße Herrenhäuser, die 
Zur Hafenrundfahrt gehört auch ein Führer, der die gerade 
anwesenden Ozeandampfer erklärt. So überzeugt ich davon bin, 
daß er die lautere Wahrheit spricht, ich lausche ihm nicht anders 
wie einem geborenen Märchenerzähler. „Dieses Schiff", erzählt 
er den Hörern, die ihn gespannt umstehen, „ist gestern aus der 
Karibischen See eingetroffen und jenes fahrt noch heute nach 
Südamerika." Es ist so, es wird unter allen Umstanden so sein. 
Und doch glaube ich seinen Angaben nicht, wie man beliebige 
Tatsachen glaubt, sondern bringe ihnen jenen Glauben entgegen, 
kraft dessen die Märchen Wirklichkeit werden. Wieviele wunder 
bare Geschichten haben sich nicht zu meiner Knabenzeit in der 
Karibischen See abgespielt. Während der Führer den altvertrauten 
Namen nennt, bin ich wieder, als sei kein Tag inzwischen ver 
strichen, mitten unter den Seeräubern und Wilden und befreie 
selber die hellblonde Braut. Daher also sollte dieser Dampfer 
gekommen sein? Er liegt breit und sicher am Kai und läßt sich 
entladen. Aber obwohl ich weiß, daß er schlechterdings nicht weg- 
zuleugnen ist, kann ich mir nicht vorstellen, daß derselbe Dampfer, 
den ich mit meinen eigenen Augen jetzt sehe, vor wenigen Wochen 
die Karibische See befahren hat. Sie mag wie Südamerika in der 
Geographie enthalten sein, und gewiß widerspricht es nicht der 
Erfahrung, daß ein Schiff die Strecke von dort nach Hamburg 
allmählich zurücklegt. In Wahrheit jedoch liegt sie so weit außer 
halb oder auch so nahe, daß man schon in ihr angelangt sein 
müßte, um sie überhaupt zu erreichen. Der Märchenerzähler 
spricht fort. Heiß brütet die Luft über dem Wasser, und im Nu 
sind wir an die Bestimmungsziele der hohen Schiffsrümpfe ver 
setzt, zwischen denen wir durch alle die vergessenen Gegenden von 
damals treiben, die ich kenne wie meine Tasche. Arbeiter, die an 
Seilen herabhängen, überholen mit langen Stangen die Wand 
eines Dampfers. Sämtliche Zuhörer machen Kindergesichter. 
entlohnt den Händler und schimmert frisch wie die Blumen. 
Käfig vorm Fenster zwitschert ein Kanarienvogel Trübsal. 
Wer vermöchte sich im Gebiet der Außenalster noch an 
Hafengegend zu erinnern? Obwohl nur ein paar Geschäfts- 
Die Speicher im Freihafen sind nicht etwa gewöhnliche Lager 
häuser, sondern stolze Backsteinfestungen, die den Eindruck der 
Uneinnehmbarkeit erwecken. In wilhelminischer Zeit erbaut, 
scheinen sie mit ihren Zinnen, Brücken und Türmchen nach unbe 
kannten Hohkönigsburgen rekonstruiert worden zu sein. Sie haben 
Oeffnungen, die wie Pechnasen anmuten, und ein Trutzmauer 
werk von brennender Röte, das in endlosem Zug sanfte Wasser 
läufe umsäumt, denen fte wie venezianische Paläste entsteigen. 
Vor ihren Portalen könnten gepanzerte Schildwachen, auf ihren 
Altanen Jungfrauen stehen. Wer sie in dieser Erwartung betritt, 
wird allerdings zunächst eine Enttäuschung erleben. Statt der 
Ritter, die durch die magische Gewalt der Architektur herauf 
beschworen werden sollten, trifft er nur unbewafsnete Lagerhalter 
an, die über Kisten und Ballen gebieten. Die Güter, die hier, auf 
exterritorialem Gebiet, einmagaziniert sind, genießen das Vor 
recht, nicht verzollt werden zu müssen. Durch die mit ihnen ge 
füllten Stockwerke zu lustwandeln, ist ein außerordentliches Ver 
gnügen. Zwischen hochgeschichteten Säcken ziehen sich enge Passagen 
hin, Schleichwege, die mitten ins Kaffeezentrum sich an Tabaken 
vorbeiwinden, oder ein Konzentrationslager von Sardinen er 
schließen. Tropische Düfte erfüllen den Raum, einer schadhaft 
gewordenen Packung entquellen die Feigen, und man ist beinahe 
schon im Schlaraffenland selber. Das sind nicht mehr die wohl 
bekannten Lebensmittel, die man in irgendeiner Kolonialwaren- 
handlung ersteht; das sind unersetzliche Kostbarkeiten, die wie ein 
Augapfel beschützt zu werden verlangen. Der äußere Feind ist 
mächtig geworden, und ich wage daher nicht Zu entscheiden, ob 
zu ihrer Unterbringung auch einfachere, weniger gewalttätige 
Häuser genügt hätten. Vielleicht bedarf es wirklich aus Gründen 
der Verteidigung dieser Bastionen, die einer jahrelangen Belage 
rung standhalten können, und am Ende sind die Zinnen und 
Wachttürmchen unerläßlich, um die Ruhe der Datteln zu sichern. 
An einem Vormittag bin ich Zeuge einer kleinen stummen Szene 
gewesen. Oder vielmehr nicht einmal einer Szene, sondern nur 
eines lebenden Bildes. Es hat sich mir in einem jener Gänge dar 
gestellt, die sich wie ein geheimes Kanalney durch die Häuserblocks 
der Hamburger Altstadt ziehen. Unauffällig wie ein Hausflur 
zweigen sie von der Straße ab und scheinen im nächsten Hinterhof 
zu versacken. Aber in Wirklichkeit sind sie Psade, die durch den 
Häuserbusch kriechen, manchmal zu einem lichtscheuen Platz aus 
buchten, sich mit anderen Pfaden kreuzen und schließlich wieder 
in eine Straße einmünden. Die Giebel berühren sich fast, und die 
gebleichten Fachwerkwände halten die Außenwelt fern. Kein Laut 
von ihr bricht in die Gänge, und der Eindringling hört nur ab 
und zu schleichende Tritte oder das elektrische Klavier aus einer 
Destillation. Als seien sie von der Stille ausgebrütet, so reglos 
stehen vereinzelte Mädchen herum. Blonde, goldgelb Gefärbte, Dicke 
mit Fettwülsten und ausgemergelte Strünke: wie traurige Tulpen 
ragen sie im Pflasterbeet hoch und warten, ob einer sie ausrupsen 
will. Sie lesen Romane, stieren vor sich hin und langweilen sich. 
Mitunter, wenn sich gerade ein Luftzug in die Enge verirrt, wehen 
ihre kümmerlichen Fähnchen vor dem Verputz, und ein Kimono 
bläht sich pompös. An jenem Vormittag bin ich durch ihre Reihe 
wie durch eine Flüsteralles gegangen. Der blaue,Himmel ist weit 
weg. und ein Mädchen nach dem andern möchte mich bannen. Da 
taucht ein Blumenhändler vor mir aus, ein richtiger, unverfälschter 
Blumenhändler, der ebenso gut auf dem Jungfernstieg seine Dahlien 
und Rosen fetlbieten könnte. Ja, er wäre dort sicherlich besser am 
Platz, und ich wundere mich eigentlich über seine zwecklose An 
wesenheit im Gang. Doch meine Bedenken werden auf eins wunder 
bare Weise zerstreut. Ein Fenster öffnet sich, und eine Hand streckt 
sich heraus. Die Hand gehört einem üppigen Mädchen in ärmellosem 
blauem Kleid. Der Händler entnimmt seinem Korb einen Präch 
tigen Strauß und reicht ihn der. Dirne, als sei sie eine vornehme 
Dame. Und wirklich, das Mädcken wird durch die Zeremonie der 
Uebergabe geadelt. Lächelnd prüft es die Komposition des Buketts, 
sind oder schon Feierabend haben, angestrengt obliegen. Zwar, die 
Hafenarbeiter, die in Jollen aus den Wersten zurückbefördert wor 
den sind, stapfen fest und unaufhaltsam gradaus, aber es ist, als ob 
sie nicht nach Hause gingen, sondern über ihr Zuhause hinweg- 
marschierten, immer weiter, in langen Kolonnen. 
Graue, alte, ärmliche Hafenstraßen: in ihnen sind Herrlichkeiten 
vorwsggenommen, die wir, wer weiß, wann gereinigt aufchauen 
dürfen. *
	        
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