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fullscreen: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Begriff der Masse. „Wir denken nicht... in Massen, sondern 
in Menschen und Völkern..." Was es mit den Menschen für 
eine Bewandtnis hat, wird man noch hören. 
Die große Rolle, die der Begriff Raum spielt, ist Lei! 
diesem Ansatz nicht verwunderlich. Im Raum stellt das Volk 
sich leiblich dar. Daher die kaum verhohlene Befriedigung, mit 
der bemerkt wird, daß sich „heute der Zerfall der Welt in 
einzelne geschlossene nationale Räume" vollziehe; daher die 
programmatische Forderung der Autarkie. Der Raumgedanke 
beherrscht die „Tat" so ganz, daß Zehrer den Gesamtraum 
des Volks noch in Unterabteilungen zerlegt, denen er wie 
Nadler eine bildende Macht zuspricht. Er erklärt: „Die Land 
schaft wird als in sich geschlossener, ein ganz besonderes Eigen 
leben besitzender, blut-, boden- und schicksalshaft verbundener 
Raum bejaht." Kleinste geographische Zelle ist zweifellos das 
Familienheim. Jedenfalls drückt sich auch im Begriff des 
Raumes ein Wille zum Organischen aus, der sich unmittelbar 
gegen die Atomisierungstendenzen des Liberalismus und die 
Art seiner Jnternationalität kehrt. 
Zeitlich behauptet sich! das Volk als Staat. Er tritt, ähn 
lich wie bei-Hegel, als „totaler Staat" auf — ein von Carl 
Schmitt übernommener Begriff, der sein Pathos spürbar aus 
der Verwerfung des „Nachtwächter-Staates" schöpft. Das 
Volk und seine Organisationen sind, so lautet die Forderung 
der „Tat", in diesen totalen Staat „hineinzuintegrieren". 
Fried formuliert: es geht um „den Wechsel vom Primat der 
Wirtschaft zum Primat des Staates". Anderswo heißt es vom 
Beruf: „Für uns ist der Beruf Lebensaufgabe, die im über 
schaubaren Raum ... die Verwobenheit des Einzelnen in den 
Staat in sich enthält". Und nicht anders erfüllt sich das 
föderalistische Prinzip nur dann, „wenn die Einzelstaatlichkeit 
echtes Jntegrationsmittel des Ganzen ist..." Alle diese Be 
stimmungen setzen den Jdealstaat nicht als eine konstruktive, 
rationale Einheit, sondern als eine irrationale, lebendige, 
deren Teile sich gewissermaßen von selber zu ihm zusammen 
fügen. Eine romantische Staatsauffassung, die das organische 
Element stark unterstreicht. 
Erstrebt wird also eine Ordnung, die ungefähr das Gegen 
teil der von der Aufklärung geforderten ist. Zum mindesten ist 
sie extrem antiliberal. Wer wie der Tat-Kreis schon einen 
„Tropfen Liberalismus im Blut" für „unselig" hält, muß 
natürlich dem Intellekt, den man auch je nach Bedarf mit der 
Vernunft identifiziert, feindlich gesinnt sein. Er gilt als die 
Hauptwaffe des Liberalismus, und da die „Tat" nicht ohne 
Grund schlecht abzuschneiden fürchtet, wenn sie diesen mit seinen 
eigenen Waffen bekämpft, zieht sie es vor, andere, handgreif 
lichere zu wählen. „Gegen diese Vernunft", schreibt Zehrer, 
„... kann man zunächst nur einen neuen Glauben setzen, und 
ein Glaube kann sich nie dialektisch mit dem Gegner ausein 
andersetzen; folgt er ihm auf sein Gebiet, so wird er stets der 
Unterlegene sein." Aber wie setzt sich ein Glaube, der sich nicht 
erklären will, in der Wirklichkeit durch? Die primitive Antwort 
Zehrers lautet: „Das Schwert ist das einzige Argument, das 
nicht in den Rahmen d-s liberalistischen Systems der Vernunft 
und der Diskussion paßt. Das Schwert und die Faust!" 
Kurzum, die Täter der „Tat" panzern sich gegen die Vernunft, 
lassen das Visier herunter, um nur ja keines ihrer Argumente 
zu erblicken, und suchen das Heil in der Barbarei. Wobei es 
ihnen geschieht, daß sie die Vernunft blindwütig für Ereignisse 
verantwortlich machen, an denen sie wahrhaftig unschuldig ist. 
„Vernunft!", ruft Zehrer aus. „Nun, im Zeichen dieser Ver 
nunft sind Millionen von Menschen gefallen." Eine genauere 
Untersuchung ergäbe vermutlich, daß es gerade die von ihm 
beschworenen Kräfte der Unvernunft gewesen sind, die den 
Weltkrieg entfesselt haben. 
Immerhin, kämpft die „Tat" auch nicht im Zeichen der 
Vernunft, so folgt sie doch einem anderen Leitstern. Zehrer be- 
stinnnt: „Ein neuer Glaube, ein neuer Mythos lösen das 
System des Liberalismus ab." Der Begriff des Mythos, der in 
den Veröffentlichungen des Tat-Kreises so stark akzentuiert wird 
wie der Gedanke der Planwirtschaft, steigt aus den Gewässern 
der Lebensphilosophie empor und ist im Anschluß an Sorel 
geprägt. Er verdankt die große, ihm beigemessene Bedeutung 
ersichtlich dem Umstand, daß man nicht mehr den bändigenden 
Wirkungen rationaler Erkenntnis vertraut, sondern an ihre 
Stelle entflammte Bilder setzen zu müssen glaubt, zu denen sich 
die irrationalen Kräfte auf irgendeine geheimnisvolle Weise 
verdichten. Statt nun das eine oder andere dieser Bilder zu 
enthüllen, beschränkt sich Zehrer leider darauf, sie einfach zu for 
dern. Und fest steht eigentlich nur soviel, daß er in den Mittel 
schichten hervoragende Träger des von ihm proklamierten 
Mythos erblickt. „Diese Schichten können ihre Zusammenge 
hörigkeit mit der großen Gemeinschaft, mit dem Volk und der 
Nation, nicht in einer Gewerkschaft, einem Verband, einer 
Klasse oder einer sonstigen Organisation erleben, sie können- es 
nur im Ideal, im Mythos." Allenfalls wäre noch die Aussage 
Aufruhr der Mittelschichten. 
Eine Aus e i n a n d er stz u n g mit dem „T at"- K rdts. 
Von S. Kracauer. 
I. 
Die Zeitschrift: „Die Tat" hat heute gerade unter den 
Intellektuellen der Mittelschichten einen starken Anhang. Er 
erklärt sich nicht nur daraus, daß der Tat-Kreis bewußt für 
die praktischen und ideologischen Interessen dieser Schichten 
eintritt, sondern auch aus seiner Kampfweise selber. Sie ist 
von einem Format, dessen die deutsche Intelligenz ent 
wöhnt war. , 
„Horcht hinein in die Jugend, die heute der den National 
sozialisten oder den Kommunisten ist. Es ist das beste Menschen 
material, über das Deutschland je verfügte." Eine Aussage 
wie diese beweist, daß die Veröffentlichungen der „Tat" bei 
einer echten und breiten Erfahrung anheben: der von der Ver 
bundenheit des notleidenden deutschen Volkes. Sie unter 
scheiden sich darin von zahlreichen anderen Zeitanalhsen, in 
denen bald parteimäßige Fixierungen und- Jnteressentenwünsche! 
überwiegen, bald theoretische Konstruktionen vorherrschen, die 
keine Rücksicht auf bestimmte Daseinsbindungen nehmen. Von 
ihrer Grunderfahrung, ausgehend, bemühen sich ferner die Mit 
arbeiter der „Tat" darum, der konkreten Situation konkret inne 
zu werden. Und wie fragwürdig immer die ökonomischen Dar 
legungen Frieds seien, sie sind eine gesunde Hausmannskost im 
Vergleich mit den idealistischen Windbeuteleien, die der Jugend 
in Büchern und Hörsälen immer noch vorgesetzt werden, obwohl 
sie nicht den geringsten Nährwert enthalten. Der Wille, dem 
Idealismus abzusagen und sich mit den Sachen selber emzu- 
lassen, zeitigt schließlich Lösungsversuche, die sich nicht m der 
Behandlung taktischer Probleme erschöpfen, sondern auf Grund 
einer Gesamthaltung die Situation gleichsam strategisch auf 
rollen möchten. Es wird sich noch zeigen, ob diese Lösungen 
wirklich Lösungen sind. Aber gewiß ist, daß sehr viele Menschen, 
'die den materiellen und ideellen Untergang vor Augen seyen, an 
den aktuellen Betrachtungen der „Tat" sich aufrichten zu können 
glauben. , .. 
Um ihres Ernstes und ihrer Wirkungen willen rst dre 
Auseinandersetzung mit dieser Zeitschrift doppelt geboten; 
sowohl im Interesse der Leserfchaft wie in dem des Autoren 
Sreises. Ich verzichte von vornherein daraus, die ökonomischen 
Positionen Frieds und das spezielle Programm in die Mitte 
zu rücken, Las, wie man weiß, für Deutschland unter anderem 
eine bestimmte Form der Planwirtschaft, die Autarkie, dre 
Orientierung nach Südosteuropa und die Anlehnung an Sow 
jetrußland fordert. (Arthur Feiler hat soeben in einer ber 
uns erschienenen Artikelserie zu dem Programm Stellung ge 
nommen.) Entscheidender ist die Analyse der Haltung, der 
die einzelnen Gedanken und Vorschläge entwachsen; denn an 
ihre Stimmigkeit ist die aller Ergebnisse geknüpft. „Es gab, 
keine neue Bewegung," sagt Zehrer in einem seiner Aufsätze, 
„die in ihren Anfängen nicht von der scheinbaren Vernunft 
einer alten, den konservativen und traditionellen Mächten die 
nenden Sprache uä ud8ur6uiu geführt worden wäre!" Diese 
Bemerkung ist durchaus am Platz, wenn sie Einwände ab 
wehren soll, die eine Bewegung durch die Kritik ihres begriff 
lichen Ausdrucks im Kern zu treffen meinen. Nur darf sie 
nicht zur Entlastung der „Tat"-Sprache selber benutzt wer 
den, deren gewandte Formulierungen alles andere eher als 
das hilflose Gestammel sind, das nach Zehrer angeblich zu 
jeder neuen Bewegung gehört. Man wird also dieser Sprache 
wohl oder übel einiges Gewicht Leimessen müssen-.. Ebenso 
wenig läßt sich leider die Konfrontation der durch sie ver 
tretenen Anschauungen mit der Vernunft vermeiden, auf die 
der Tat-Kreis bekanntlich nicht gut zu sprechen ist. Ich glaube 
aber, daß man sich der mit ihrem Gebrauch verbundenen Ge 
fahr ruhig aussetzen darf. Einmal darum, weil eine Argu 
mentation nur unter der Bedingung möglich ist, daß die 
Rechte der Vernunft anerkannt werden; zum andern darum, 
weil auch die „Tat", gleichviel, ob mit oder ohne Willen, gar 
nicht so selten die von ihr verpönte Vernunft ins Treffen 
führt, ja nachdrücklich an sie appelliert. 
Einige Hauptfolgerungen aus der hier angestellten Ana 
lyse — sie bezieht sich auf die Hefte des letzten Jahrganges 
— seien vorweggenommen: die Leitgedanken des Tat-Kreises 
sind das genaue Spiegelbild der schwierigen Situation des 
Mittelstandes. Sie weisen auf eine Haltung zurück, die in 
einem wesentlichen Sinne irreal und widerspruchsvoll ist. 
Einen Ausweg eröffnen diese Gedanken ihrer unfruchtbaren 
Verwirrung wegen nicht. 
II. 
Die Erfahrung liefert der „Tat" den Begriff Volk. Sie 
postuliert ihn als einen unzerlegbaren Grundbegriff. Bald 
geht die Rede vom „völkischen Gesamtheitsgedanken", bald 
werden die öffentlichen Einrichtungen auf ihre „Volksnahe" 
geprüft. Der romantisch gebrauchte Begriff meint ersichtlich 
das Polk als etwas Gewachsenes und richtet sich sowohl wider 
alle im weitesten Sinne liberalen Theorien, die den Einzelnen 
^r Gemeinschaft zugrunde lMn, wie gegen den modernen
	        
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