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Full text: Rilke, Rainer Maria: Notizbuch T35 [Verschiedenes]

eingehender berichten. 
raca. 
Ben Hur in Frankfurt. 
Vorbericht. 
In ben Ufa-Lichtspielen wurde gestern abend zum 
ersten Mal der Ben Hu r-Film gezeigt. Er ist in der Tat ein 
Mönstrefilmwerk, in dem durch Regiekunst, unerhörtes Diassen- 
aufgebot, Großbauten und Hintergründe die *Handlung des be 
kannten Romans nicht ohne Großartigkeit vergegenwärtigt wir'ö. 
Das Wagenrennen, eine technisch außerordentliche Leistung, wurde 
spontari beklatscht. Andere Szenen auch gelangen dank ihrer Di 
mensionen zu reiner FilmwirLung. Das Hineinspielen der H-eils- 
geschichte bleibt ein Uebel, das die Farbenphotographie nicht auf- 
zuheben- vermag. — Wir werden über den Film, der außer in den 
Ufa-Lichtspielen auch in den Nationaltheatern — Hohen- 
zollern- und Skalalichtspiele — vorgeführt wird, noch 
Wen Kur. 
Zur Aufführung in Frankfurt. 
IS'O Ooo Personen arbeiteten am Ben Hur-Film mit. 
4 000 000 Dollar kostete die Herstellung des Films. 
160 000 Meter Stoffbahnen wurden in Berlin für 
8000 Kostüme,- Mängel, Requisiten usw. zugeschnitten. 
22 000 Kilo Messing und Eisenblech wurden zu 
60M vollständigen Römerrüstungen verwendet. 
9000 Pfund Leder verwandelten sich in Schuhe und Lederzeug. 
100 seetüchtige, in Livorno gebaute antike Kriegsschiffe lagen 
im Kamps miteinander. 
48 Kameras nahmen gleichzeitig die Seeschlacht auf. 
12 Wagenlenker von 
12 verschiedenen Nationen lenkten' 
48 feurige Rosse. Beim Rennen wurde ein Trabrekord von 
375^5 Sekunden für ^3 englische Meile erzielt. 
Die Masse tut es. Was ist mit ihr erreicht? Was nicht? Einzel 
heiten aus der Werkstatt sind wichtig. Vor allem die Jnter- 
nationalität des Films. Die Kriegsschauplätze seiner Auf 
nahmen waren Kalifornien und Italien. Der Darsteller des Ben 
Hur, Ramon Novarro, der so schön wie Valentins ist, ver 
körpert einen amerikanisch-spanisch-mexikanischen Typus. Garmet 
Myers ist die Tochter eines aus Rußland gebürtigen und in Eng 
land erzogenen Rabbiners. Nur in den Gassen des Marstillec 
Hafenviertels findet sich eine so verschiedenartig zusammengesetzte 
Bevölkerung wie die der Statisten. Die historische Echtheit der Bauten, 
Hintergründe, Gewänder ist durch ausgedehnte Studien verbürgt» 
Niemand wird merken, daß der Riesenzirkus des antiken An- 
tiochiLu bei der kalifornischen Stadt Culver steht. Das neu er 
richtete Jerusalem ist das alte. Für die SeeschlachFzenen Hütte 
man sich große Scharen von Original-Seeleuten aus Rom und 
Livorno als Römer und Piraten verschrieben. 
* 
Drei Jahre regierte Fred Niblo, der Regisseur, sein. gewal 
tiges Reich. Er hat an Massenorganisation Großes ge 
leistet. Das Wagenrennen, zu dem ganz Hollywood herbeigeeilt 
war, lenkte er von einem 30 Meter hohen Kommaudoturm mit 
Der Roman, der den Anstoß zu den MafsenbMern gab. gehört 
zu jenen mittelmäßigen Werken, die durch ihr stark aufgelegtes 
Kolorit breite Schichten bewegen. Gerade noch durch den Aufwand 
mochte es gelingen, die Handlung für den Film zu retten. Eine 
geringere Quantität der Mittel, und man hätte eine der üblichen 
historischen Verfilmungen erhalten, die irgend ein gleichgültiges 
Einzelschicksal in veralteten Trachten aufrollen. Durch den Zahlen- 
rekord ist immerhin eine Prunkoper entstanden, die der Schaulust 
Genüge tut. Die Unzulänglichkeit des Gehalts legt einen Abgrund 
zwischen „Ben Hur" und den Potemkin-Film. Hier geht es um 
die Wirklichkeit, die im ästhetischen Medium des Films getroffen 
wird, dock ist auf dem Grund eines welthistorischen Stoffes eine 
kleine Privatangelegenheit groß gemalt. 
* 
Anstößig, schlechterdings anstößig ist hier die Darstellung 
der Heilsgeschichte im Film. Noch dazu mir 
der (technisch unvollkommenen) Farbenphotographie, die, so 
scheint es, das Harmonium ersetzen soll. In Szenen, die 
zum Teil nach berühmten Bildern gestellt sind, wird das 
Evanaelium gemimt und Choralgesang begleitet eine Strecke 
weit die religiöse Farbenpracht. Amerikanischer Naivetät mag eine 
selche Vorführung bekömmlicher dünken als dem deutschen Publi 
kum. Man hat sich etwas auf den Takt Zugute getan, mit dem man 
niemals die Person Christi selber austreten läßt, sondern lediglich 
die.segnende Hand zeigt. Diese dezente Zurückhaltung indessen ver 
größert das Uebel, denn durch Me eingelegte Probe aufdringlichen 
Geschmacks wird der Uugeschmack im Großen nur fühlbarer. 
ES-, 
Hilfe von Lautsprechern, Signalwinkern und 120 Fernsprech- 
stellen. Zur Beobachtung der Seeschlacht entbot er 48 Kameras 
auf eine schwimmende Plattform. Uneingeschränkte Bewunderung 
verdient der filmmäßige Aufbau der bewegten Massenszenen 
Nrblo At richtig erkannt, daß nur der äußerste Realismus den 
historischen Auftritten zur Wirkung im Film verhelfen kann weil 
dieser auf die Wiedergabe der Wirklichkeit angewiesen ist und'dann 
allein zu seinem Eigenleben gelangt, wenn er wie hier Themen ab- 
wandelt, die auf dem Theater nicht darstellbar sind. Der Realis 
mus aber wäre belanglos, entbehrte die' Bilderfolge der Gestaltung. 
Sie ist an den Höhepunkten Zur Form gediehen, entwickelt sich in 
einem Rhythmus, der sie des planen Naturalismus enthebt Das 
Wagen rennen steigert sich von Anfang bis zu Ende, ein ein 
heitliches Ereignis großen Formats. Seine umfassende künstlerische 
Bewältigung ist der Art zu danken, in der die Gesamtübersichten 
mit aufblitzenden Einzelheiten — so den Köpfen der jagenden 
Schimmel — jeweils wechseln. Lanzenspitzen, die in unabsehbarer 
Reihe an jüdischen Volkshaufen vorüberziehen, vergegenwärtigen 
schlagend das Faktum der römischen Macht. Das Gewoge der Be- 
völkexung schwillt linienhast an und verebbt in gewollten Ueber- 
gängen, 
* 
Aer andere Bismarck. 
Vortrag Emil Ludwigs. 
Emil Ludwig, dessen Buch über Wilhelm II. den Deutschen 
ihren früheren Kaiser zeigte, bewährt auch als Redner die Gaben, 
die ihn zu einem vielgelesenen Schriftsteller gernacht haben. Er 
plaudert, der gestrige Frankfurter Vortrag bewies es, mit 
weltmännischer Gelassenheit über sein Tatsachenmaterial, hinter 
dem er zurücktritt, nicht ohne es vorher für seine Zwecke angeordnet 
zu haben. Die in nervös abgewogenen Perioden eingefangenen 
Stoffmassen scheinen sich von selber zum Bild zu fügen. Doch der 
nahezu unsichtbare Dirigent hält den Stab fest in Handen, und 
als Zeichen seiner Gegenwart leuchtet aus den Nebensätzen mit 
unter ein stilistisch gepflegter-Sarkasmus hervor. 
Ludwig ist ein Republikaner, der durch sein neuerliches 
Wirken eine wichtige Mission erfüllt. Er stellt die Heroen der Vor 
kriegszeit in einer Weise richtig, die auch dem renitenten Teil des 
gebildeten Bürgertums, an das er sich vornehmlich wendet, all 
mählich die Augen öffnen muß. Das Mosaik der Fakten, das er 
Zusammenstückt, ist unwiderleglich; die kultivierte Form, in der 
er es darbietet, läßt blinde Ablehnung nicht zu. Die Republik hat 
an Ludwig einen klugen Werber. Man wünschte Schullestöücher 
von ihm geschrieben. 
' Sem Bismarckporträt ist L-n der ausdrücklichen Absicht ent 
worfen, das von den Völkischen verehrte Götzenbild des eisernen 
Kanzlers abzutragen und einen bisher verdeckten anderen B i s- 
marck heraufzubeschwören, der das Gesicht dem neuen Deutschland 
zuk-ehrt. Es gibt einen solchen Bismarck. Ludwig stellt ihn nicht 
dar, sondern läßt ihn selber sich darstellen. Die Wünschelrute, mit 
der er das Gelände der Geschichte absucht, schlägt- stets wieder 
aus. 
Der Versenkung entsteigt ein Bismarck, der sich eines hockst 
glücklichen Mangels an Ideologien erfreut. Er spricht 
von dem „Souveränitätsschwindel" der deutschen Fürsten, die er 
später zu Versailles en canaille behandelt, und richtet, ohne von 
dem deutschen Erbübel des Dogmatismus befallen zu sein, die 
Bündnisse nach der Temperatur des Kontinents ein. Brüchig wie 
die ihm nachgesagte konservative Gesinnung Ist auch sein Royalis- 
mus. Mit einer durchaus uneisernen Elastizität lenkt der eisern 
Genannte die Figuren auf dem europäischen Schachbrett. Ludwig 
gräbt den Menschenkenner aus, der Napoleon jahrelang 
hinhält und verführt, der K)nig Wilhelm gegen seinen Willen 
wieder und wieder nachschleist. Nicht minder wird durch Zitate 
belegt, daß der Mann, dem die Nationalisten eine unaufhörlich 
gepanzerte Faust zuschreiben, sehr wohl auch Glacehandschuhe zu 
tragen versteht. Er verschmäht den vulgären Patriotismus, paktiert 
rnit den Feinden von gestern, nennt sich einen Europäer und 
die Kriegszeit ernst, nrcht groß. Mut verbindet sich bei ihm mit 
berechnender Mäßigung. 
Der Schwächen und Fehler ist nicht vergessen. Seine Gering 
schätzung des Geistigen läßt Bisnmrck die Tragweite der vatikani 
schen und sozialistischen Bewegung verkennen. Despot, der er ist, 
unterdrückt er die Volksvertretung und damit die Entwicklung des 
polnischen Denkens. An tum Königstum, das er gestückt hat, gcht 
er, eine, mythologische Gestalt, tragisch Zu Grunde. Der Gestürzte 
deutet in hellsichtigen Aussprachen auf die kommende deutsche 
RepubliE vor. 
" ,Das Bild des anderen Bismarck sollte in unseren Schultest- 
buchern den Popanz des eisernen Kanzlers verdrängen. Xr.
	        
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