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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.11/Klebemappe 1932 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

WoLögrapßiertes Merlin. 
- BerM, Mitte. DezsMeL. . 
Im - Zichthof des Kunstgewerbemuseums, werden 
100 0 Berliner Ansichten gezeigt» dis von A. Ven n e - 
wann phötograpW sind. Sie kleben auf LrEm wM 
Kartons'und veranschaulichen alle möglichen Einzelheiten des 
Berliner Lebens, Las der Oeffentlichkeit zugewaM ist. Daß sie 
ein wenig starr wirken, so, als seien sie stehen geblieben, sMart 
sich Zweifellos au^ durch den Film veränderten Art unseres 
Sehens. Der Film hat uns daran gewöhnt, die Gegenstände nicht 
mehr von einem festen Standort aus Zu betrachten, sondern sie zu 
umgleiten und unsere Perspektiven frei zu wählen. Mas er tzer- 
mag: Die Fixierung von Dingen in der Bewegung, ist der Wsts- 
graphie versagt. Daher erscheint sie dort, wo sie noch Selbständig- 
keiü beansprucht, als eine Form, die historisch zu werden beginnt. 
Sie löst-sich langsam aus der Gegenwart und nimmt schon ein 
altmodisches Wsen an Hierin gleicht sie der Eisenbahn, die 
sich zum Flugzeug wie die Photographie Zum Filmstreifen verhalt. 
Eisenbahn und Photographie: beide sind Zeitgenossen und ein« 
ander darin verwandt, daß sich ihre Gestalten vollendet haben und 
langst die Vorstufe neuer Gestalten bilden. Wir haben uns heute 
von den Schienen nicht anders abgelost wie von der einst für dis 
Kamera unerläßlichen Ruhelage. Und gehört auch die Photo 
graphie noch durchaus dem Heute au, so fallen doch bereits 
Schatten auf sie, die alle fertigen Besitztümer umhüllen. 
Ausgenommen sind fast lauter Objekte, die man vom Alltag Her 
kennt. Altbsrliner Häuser, Schlösser und Paläste, Straßen und 
noch einmal Straßen, spielende Kinder, Restaurants, Werktätige 
der verschiedensten Berufs, Passanten, Weekend-Ausflügler, Parks 
anlagen 'und schone Punkte der Umgebung, Bahnhöfe, Industrie 
werke und moderne Geschaftsbauten — das Inventar könnte 
schwerlich vollständiger sein. Diese vielen Bilder sprechen vor allem 
zur Erinnerung. Sie beschwören Eindrücke herauf, die wir gehabt 
haben, ohne uns Rechenschaft über sie abZulLgen, sie bannen Alt 
vertrautes, das die ganze Zeit über mit uns gegangen ist. Die 
Lichtreklamen sind unsere. AbendgesM 
schon manchmal der spülende der die Ritzen 
Mischen den Pflastersteinen auskratzü Sämtliche Photographien 
rufen eigentlich nur d i s optischen Bestände ms Gedächtnis zurück^ 
die unserem Dasein einverleibi sirK. Nichts aber ist mehr in Ord 
nung, als daß sie gerade jene Welt vergegenwärtigen, die wir be 
sitzen. Denn sie und nicht die neue, erst Zu erobernde Welt ist der 
rechtmäßige Gegenstand der Photographie. Tatsächlich vermag ein 
Photo graphisches Bild keinen vollen Begriff von irgendeinem Ding 
zu verschaffen, das der Betrachter des Bildes noch nicht gesehen 
. haü Da- Original' einer Aufnahme laßt sich aus dieser niemals 
erschließen, und die zahllosem ReproduktionM W 
Kunstwerken verbreiten, nicht etwa die Kenntnis der Werke, sondern 
beweisen' nur, Laß' die''reproduzierte KunstHm /eingrM 
Wirkung verloren hat. Eine unzulänglich^ M bis 
man von einer Reise m'ckLringL, exM dis dem Lichtbild M 
kommende Funktion besser als eine Prachtphotogmphie unhereW 
Gegenden. Es wäre nützlich, einmal genauer zu untersuchen, M 
Zu welchem Grade die m dm Illustrierten angeschwemmten Anst 
nahmen W Ausnahmefähigkeit des Publikums für die sichtbare 
Welt ersticken. Die PHotographis gibt ja nicht die Bedeutungen 
mit, die erfahren sein müssen, um ein Objekt zu unsere 
machen sie spiegelt nur das aus allen Erfahrungszusammem 
hängen gerissene Objekt wider. Nicht das Aeußere des Objekts- 
sondern eine unverbindliche Abstraktion von ihm geht ins Photo- 
graphische Bild ein. Statt also, einm Gegenstand vorzustellm, ist 
die Photographie auf den bereits voegestelltm Gegenstand ange 
wiesen, um ihn überhaupt darbieten zu können. Ihr Hauptfeld ist 
das versunkene Bekannte. In der Ausstellung dient sie auch wirk 
lich als'Führ-Zr durchdie'Erinnerung.'Indem sie uns 
aber zu einer erstaunlichen Fülle von Mederbegegnungen verhaft- 
erteilt sie uns endlich d'e Verfügungsgewalt über die Sachen uB 
Figuren- mit denen wir unbewußt IMm. 
Besonders gelungen sind einige Bilder aus dm 
garten. Eis -ringen da- LMHafte,MrschMens hes TrexWrtMB 
dadurch heraus, daß Aß kaum höher als bis Zum Ansatz dßZ ÄMK 
dringen und den Himmel ganz unterschlagen. So w'rd die freie 
Natur draußen ferrMtzMm und dsr WnnmchamMx des künst 
lichen Parks Monü WMchnürü vM der KßMwM, WW er 
schon ins Vergangene Mger« zu smm Er wirkt ww MUMM 
der Photograph Wer, und viMcht folgt ihm diese -Mum ss 
mWlos nach, weil auch sitz an der MwM des ZestßM wM. 
^8, LrK6SUSN- 
Straße oöne Erinnerung. 
Von S. Kracmrer. 
Berlin, im Dezember. 
Scheinen manche SLraßenzüge für die Ewigkeit geschaffen zu 
sein, so ist der heutige Kurfürstendamm die Verkörperung der leer 
hinfließenden Zeit, in der nichts zu dauern vermag. Am deut 
lichsten bin ich mir dieser Tatsache durch zwei Ereignisse bewußt 
geworden, die ungefähr ein Jahr auseinanderliegen und in sich 
Zusammenhängen. Das erste: Ich will vor Antritt einer Reise noch 
rasch eine mir altvertraute Teestube aufsuchen, um dort eine 
Kleinigkeit zu Mittag zu essen. Die Teestube gehört so durchaus 
zu meinem Stammbesitz an Lokalen, daß ich, ohne mich weiter 
um zusehen, automatisch das Vorgärtchen passiere und die Tür 
klinke niederdrücke. Die Tür ist verschlossen. Erschrocken blicke ich 
auf und erkenne durch die Spiegelscheiben, daß das Innere ge 
räumt ist. Es muß über Nacht geräumt worden sein, denn am 
Abend vorher war die Teestube noch erleuchtet gewesen. Oder 
tausche ich mich? Während ich mir den gestrigen Abend zu ver 
gegenwärtigen suche, bemerke ich unmittelbar vor mir ein Schild 
an der Tür, auf dem erklärt wird, daß der Eigentümer des Lokals 
dreses bald an einer anderen Stelle aufzumachen gedenke. Da ich 
nicht so lange warten kann, kehre ich traurig um und besuche ein 
mir bisher unbekanntes Cafe an dsr nächsten Kurfürstendammecks. 
Das zweite Ereignis, das sich, wie gesagt, ein Jahr später 
zugetragen hat, betrifft eben dieses Cafe. Vorauszuschicken ist, daß 
mein erster Aufenthalt in ihm zugleich mein letzter war. Der 
Glanz seiner Architektur erschien mir als übertrieben und steigerte 
noch dazu die Empfindlichkeit gegen den schlechten Geschmack seiner 
Getränke. Dennoch zählte das Cafe zu meinen bleibenden Straßen 
eindrücken. Ich kam hier fast jeden Abend vorbei, und mochte ich 
auch gerade zerstreut oder in ein Gespräch vertieft sein, so rech 
nete ich doch an diesem Punkt meines Weges fest mit den Licht 
effekten, die das Lokal in verschwenderischer Fülle entsandte. Je 
Heller die Lichter, desto trüber das Publikum. Eines Abends über- 
fällt mich plötzlich eine Art Heimweh nach dem Cafe. Man hat 
selche Tage, an denen man vor der Gewohnheit ausrückt und die 
gemiedenen Orten begehrt. Schon bin ich bei der bewußten Ecke, 
aber wo ist ihr Glanz? Die Ecke leuchtet nicht mehr, und an Stelle 
des Cafes tut sich ein verglaster Abgrund auf, in den ich langsam 
hineingezögen werde. Er ist per sofort zu vermieten. Ich ent 
schließe, mich nur zögernd zu einem neu gegründeten Lokal, das 
zwischen dieser und der folgenden Straßenkreuzung liegt. 
Nicht so, als ob ich bezweifelte, daß der Kurfürstendamm ein 
paar Läden und Betriebe enthält, die zur Seßhaftigkeit neigen: 
sie verschwinden jedoch in der Menge der übrigen, die wie eine 
Hafendevölkerung kommen und gehen. Der Zeitpunkt, zu dem 
diese Lokalitäten jeweils auf der Bildfläche erscheinen, ist grund 
sätzlich nicht zu ermitteln. Genug, daß sie von irgendeinem Termin 
an vorhanden sind, aus dem Nichts entstandene Restaurants, 
Cafes, Barinterieurs, Pensionen und Geschäfte, die sich durchweg 
so gebärden, als existierten sie wirklich. Dabei können sie nur durch 
Hexerei hergeweht worden sein. Ein leichtes Spiel für solche un 
heimlichen Winde sind vor allem die zahllosen Lädchen, die sich ab 
sichtlich klein machen, um nicht zu viel Platz einzunehmen. Man 
hätte sonst Schwierigkeiten bei ihrem Transport- Sie bieten 
Spezialitäten wie Parfüms, Täschchen und Leckereien an, die sich 
durch eine besondere Winzigkeit auszeichnen. und befassen sich 
überhaupt vorwiegend mit dem Vertrieb von Gegenständen, denen 
selber ein Hang zur Ortsveränderung innewohnü Was bewegte 
sich zum Beispiel freudiger als ein schönes Abendkleid? Hinter 
jedem neuen Schaufenster beinahe erwarten uns neue Toiletten. 
Obwohl die Auslage schmal ist, treten sie doch mit dem Anspruch 
von Modeschöpfungen auf und wahren einen so aristokratischen 
Äbstand voneinander, daß man ihnen die billigen Preise nicht 
glaubt, die vielleicht gar nicht so billig sind. Mit diesen Kreationen 
aus zweiter Hand wetteifern die Möbel, die heute vom reinsten 
Wandertrieb besessen zu sein scheinen. Alter Hausrat, der Jahr 
zehnte lang vor denselben Tapeten stand, hat seine Quartiere 
verlassen und blickt jetzt aus fremden Fenstern auf die Straße 
hinaus. Gleichen die Magazine, die ihn beherbergen, Asylen für 
Obdachlose, so sind die modernen Einrichtungsgeschäfte in der 
Nachbarschaft als Hotelhallen ausgebildet. Unabsehbare Schrank- 
flächen blinken wie der Meeresspiegel, stählerne Tischbeine fahren 
unbeschwert durch die Lust. Ihre Wurzellosigkeit ist zum Vorbild 
aller dieser Geschäfte selber geworden. Viele von ihnen geben sich 
nicht einmal mehr die Mühe, wie ein festgegründetes Unterneh-
	        
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