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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.04/Klebemappe 1924 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

unter dem Namen „Amerikanismus" zusammenzutassen und ab- 
Zuurtellen pflegt, und -eine Gemeinsamkeit der Menschen, die 
sie ihrer Totalität nach einbegreift. 
* 
Einer Grmemfchastsgier, die sich übersteigert und nur noch 
zur Weißglut erhitzte Zwischenmenschliche Beziehungen gelten 
lassen will, wird der Kölner PrivatdoZent Dr. Hetmuth Pleß- 
ncr in seiner Schrift: „Grenzen der Gemeinschaft" 
(Friedrich Cohen, Bonn) zum Warner. Er erhellt seine 
Stimme gegen „romantische ZrvilisatwnW und 
gegen alle radikalen Utopien, die eine gewaltig Einigung der 
Menschen und eine distamlose Lebensgemeinschaft proklamie 
ren. Ertrügt die Seele überhaupt solche Direktheit? so fragt 
er, und seine Antwort lautet: das GesellschafLZwesen 
! mit seiner Kühle und seinem System der Vermittlungen ist 
als Sicherheitsfaktor menschlicher Würde unerläßlich. Nicht 
nur erscheint jede existentielle Gemeinschaft eingebettet in eine z 
„Öffentlichkeit", die man, da sie nun einmal den notwendigen 
Rahmen der Gemeinschaft selber bildet, keineswegs einfache 
aufsaugen darf — schwände sie hin, so versänke nrit ihr die von 
ihr umgrenzte Gemeinschaft diese Oeffentlichkeit vielmehr 
wird auch aus positiven Gründen von der gleichen Seele ge 
fordert, die über sie hinauszuwachsen und mit den anderen 
Seelen eine Symbiose einzugehen drängt. In einer Betrach 
tung über die Dynamik des Psychischen such nachzuwei- 
sen, daß das Seelische seinem Wesen nach Mischen Eröffnung 
und Verhaüenheit, Zwischen Kundgabe, die es entblößt, und 
Einhüllung, die seine Innerlichkeit vor der Fixierung behütet, 
dauernd umgetrieben werde. Ein dialektischer Prozeß, der 
von sich aus den Bestand gesellschaftlicher Verk^ be ¬ 
gehrt, die der Seele als Bekleidung dienen und ihr die nötige 
Verborgenheit gewähren. So rechtfertigen sich gegenüber den 
einseitigen Ansprüchen derer, die ausschließlich Gemein 
schaft fordern, alle die zivilisatorischen Fakten, die dem Ein 
zelnen den Rückzug in seine eigenste Privatsphäre gestatten: 
das Zeremoniell, das ihm Würde verleiht, ohne daß er 
sein Selbst freizulegen brauchte, und das Presti ge, das ihn 
unangreifbar macht. Der Kern des Wesens ist von tiefer Emp 
findlichkeit, und auch das Herz verlangt Distanz. Darum er 
heischt das Innere, soll es erhalten bleiben und stch auswirken 
können, Takt, Zartheit rmd bergende Schale. Keine andere 
Bestimmung aber haben die Formen und Beziehungen in dem 
Bereich der Öffentlichkeit: sie verhelfen Zur Maske, ste sind 
Spielregeln, die auf den Einsatz des realen Ichs verzichten 
und jedem Spielenden zunächst Ächtung zusichern. Seinem 
wfenhaften Sinn nach ist mithin das Zivilisatorische eine Art 
von „Hygiene fystew der Seele", und gerade die auf 
Gemeinschaft Bedachten müßten es mit aufnehmen, statt durch 
seine maßlose und krampfhafte Abweisung die eigenen Forde- 
rangen um ihre Wirklichkeit zu bringen. 
Diese „Kritik des sozialen Radikalismus" verdient Zur Stunde 
ernste Beachtung, da sie sich wider weit verbreitete Stimmungen 
wendet und bloße Schwärmerei an Besinnung gemahnen 
möchte. Ihr Hauptwerk ist gewiß ein praktischer: daß sie 
die vorbehaltlosen Gemeinscha fts fanatik er in dem 
Glauben erschüttert, die Erscheinungen des gesellschaftlichen 
Lebens seien lediglich Symptome des Verfalls, und Zivili 
sation müsse unter allen Umständen getilgt werden, wenn 
Gemeinschaft heraufwachsen solle. Indem ste die positive Be 
deutung äußerer Formalien und öffentlichen Beieinander^ 
für die Bewahrung existentiellen Seins hervorhebt, verhält sie 
sich ungleich wirklicher als jene Unentwegten, die auf das 
rein Geflnnungsmäßige das menschliche Zusammenleben zu 
gründen suchen, und wie sie etwa „Kultur" hart gegen „Zivils 
Wtion" setzen mögen, so auch „Gemeinschaft" zum prin 
zipiellen Widerspiel der „Gesellschaft" machen, die sie nun in 
Bausch und Bogen verdammen. Pleßner leitet seine Ge 
danken über die seelische Dynamik vorwiegend auf empirisch 
psychologischem Wege ab, statt ste in einem entscheidenderen j 
metaM zu unterbauen; indessen tritt darum 
seine Haltung doch hinreichend begründet hervor. Zu wün 
schen wäre eine stärkere Betonung der Aussage gewesen, daß 
die Sphäre der Gesellschaft nur dann zu Recht besteht, wenn 
eine wirkliche Gemeinschaft sie aus sich hervortreibt, daß sie 
aber die GemeinM erstickt, wenn sie. Selbständigkeit 
sich anmaßt und keine Grenzen mehr findet. 
Von den Begriffen „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" 
rammt auch der katholische Theoretiker der Sozialpolitik Karl 
Tunk Mann in dem Werk: „Die Kritik der sozialen 
Vernunft" (Trowitzsch u. Sohn, Berlin) seinen Ausgang. 
Än Tönnies und die Ethik Schleiermachers anknüpfend, ent 
wirft er ein System, das die bisherige „mdivivualiftisch- 
idealistische Geisteskultur" durch eine „sozial-idealistische" zu er 
setzen sucht. Seine Bemühungen' gelten dem Nachweis/ daß 
die menschlichen Beziehungen in gemeinschaftlich-uM 
und gesellschaft^ zerfallen —° beide Arten der Br- 
Ziehungen bestehen Lei ihm wie bei Pleßner immer zusammen 
— und alle Aeußerungen unseres Denkens, Fühlens, Handelns 
entweder auf die soziale Grundform der Gemeinschaft oder 
die der GesM Zurückzusühren sind. Wie jene zum sozio 
logischen Fundament der Religion und der Kunst werde, so 
fei diese die Voraussetzung für Wirtschaft, Recht und Wissen 
schaft. Die Theorie, die derart sämtliche objektiven Geistes 
befunde und subjektiven Verhältungsweisen M Phänomene 
zweier verschieden struktuierter, freilich unzertrennlich zu- 
sammengehöriM Beziehungswelten auffaßt, empfängt ihre 
Besonderheit dadurch, daß sie die Gemeinschaft als solche zur 
letzten metaphysischen Entität erhöht. Tugenden und Laster 
lassen sich nach ihr nur inbezug auf das „Mysterium" des Ge 
meinschaftsganzen unterscheiden, das Zur Quelle aller Wirk 
lichkeiten wird. Religion ist auf Grund dieser Theorie 
nicht die Bildnerin der Gemeinschaft, sondern lediglich ihre 
Funktion, ein soziales Phänomen, dessen Entfaltung durchaus 
abhangt von der Vorgegebenheit der GM selber 
als unableitbar hingenommen werden muß. Einer solchen das 
Gemeinschaftsganze verabsolutierenden Lehre entfließt, natur 
gemäß die praktische Forderung, daß man die Fülle der 
LebenserschNnungen in den vorhandenen konkreten Gemein 
schaften verankere, aus denen auch die rein gesellM 
Bildungen zuletzt ihre Legitimität beziehen. D'e religiösen 
Vereinigungen also sind nach- Dunkmanns (gegen den Pro 
testantismus ausfälliger) Formulierung „um des Volkes 
willen da" und nicht das Volk um ihretwillen, die deutschen 
Volrsstämme haben ein Recht auf gemeinschaftliche Selbständige 
keit, wie überhaupt das Ideal des RechLM 
staat ist, und auch die Koalition der Arbeitnehmer wird sich 
Zur Vermeidung utopischer Zielsetzungen den Volksaemein- 
schaften eingliedern müssen, statt wie bisher allein dem gesell 
schaftlichen Prinzip des Internationalismus zu huldigen. 
Verteidigt Pleßner in aktueller Stellungnahme d'e gesell 
schaftlichen Außenforts des sozialen Verbands, so verlegt 
Tunkmärm in defintim abschlußhafter Weise das meta 
physische Schwergewicht auf die Gemeinschaft schlechthin, der 
er den Charakter der Uebedingtheit erteilt. Insoweit er die 
der soziologischen Betrachtung gesteckten Grenzen nicht über 
schreitet, wird man fein Verfahren nur billigen können, Es 
läßt sich in der Tat nicht wohl leugnen, daß die geM GÄ 
bilde und individuellen Haltungen bis zu einem gewissen 
Grade davon abhängen, ob die Menschen in dem 60U8SQ8U8 
der Gemeinschaft leben oder nur in Meckrationalen Formen 
miteinander verkehren. Mit der Art ihrer Verbundenheit 
mag sich auch in mancher Hinsicht die Verfassung ihres Geistes 
wandeln, und Dunkmann ist durchaus im Recht, wenn er, dem 
Beispiele bedeutender Vorgänger folgend, die Rückbeziehung 
aller Denkergebnifse auf das soziale Ganze fordert, von dessen 
Beschaffenheit die ihre noch zeugen mag. Diese Ableitung hat 
darum ihren guten Sinn, weil das Geistige nicht im Leeren 
wurzelt, sondern stets in irgend einem Zusammenhang mit den 
besonderen sozialen Verhältnissen steht, die es aus sich enLZ 
lassen. 
Aber es ist ein anderes, ob man solche Beziehungen berück 
sichtigt, ohne den: Geiste und den Ereignissen des wirklichen 
Lebens die Selbständigkeit Zu rauben, oder ob man die Ge 
meinschaft an sich zur AbsoluLheit erhebt, und ausschließZ 
lich in ihr sämtliche geistigen Gebilde und Vorkommnisse 
gründen zu können wähnt. Indem Dunkmann die soziale 
Kategorie der Gemeinschaft mit der höchsten metaphysischen 
Würde bekleidet, verleiht er dem soziologischen Aspekt eine Be^ 
deutung, die ihm nie und nimmer eignet. Statt sich bei der 
von der Soziologie rechtmäßig zu leistenden Erkenntnis zu be 
scheiden, daß ein jedes Phänomen auch seine soziale Kom 
ponente Habs, macht er das Soziale zum alleinigen Er 
klärungsgrund der Phänomene und erzielt so ein geschlossenes 
Weltbild, dessen Geschlossenheit aber gerade sein Mangel ist. 
Am krassesten uä adsuräuru geführt wird dieser sozialogische 
Naturalismus durch den hoffnungslosen Versuch einer Fnu- 
Vierung des Religiösen in dem Zum „Mysterium" empor^ 
gesteigerten Gemeinschaftsganzen. Während in Wirklichkeit das 
Religiöse sein Recht aus sich selber hat und viel eher die 
Gemeinschaft sanktioniert, als aus einer vorausgesetzten Ge 
meinschaft erst entsteht, erniedrigt Dunkmann es Zum Derivat 
des sozialen Organismus, der von stch aus als Norm und 
.Wertmesser gar nicht zu dienen vermag. Kaum könnte die 
Soziologie- ihre Grenze schlimmer verletzen als hier. An 
einigen der Folgerungen, so der eindeutigen Zuordnung der 
Religion zur Vollsgesamtheit, erkennt man denn auch spür 
bar den verhängnisvollen Ansatz des Systems. 
Am Schlüsse ein kurzer Hinweis auf das kleine, aristreichs 
Buch Hans Pichlers: „Zur Logik der Gcmein- 
schaft" (I. C. V. Mohr, Tübingen). Es erstrebt die Kenn 
zeichnung des Jdeakgefüges einer Welt, in der die Sätze der 
formalen Logik sich vollkommen zu erfüllen vermögen. "Nach 
Pichler fordern sie zu ihrer Sättigung entweder das anarchische 
Gemenge beziehungsloser Elemente, über d'e das Logische 
despoiisch, verfügen kann, oder die harmonische Gemeinschaft, 
deren Glieder zu dem Ganzen in Beziehung sieden und dank 
ihres Sinngehaltes die Ansprüche d-r Logik gleichsam von sich 
aus befriedigen. D'e Untersuchungen gewähren Einblick in 
die logisch« Struktur verschiedener Sozialgebilde, ohne daß 
damit ihre rein theoretische 2lbsicht ins SosiÄoa^che umgebogen 
würde. Immerhin bezeugen ste, wie wesentlich die Kategorie 
der Gemeinschaft für das heutige Denken ist.
	        
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