Skip to main content

Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

h 6/ »0- 
Kheintand Konjunktur. 
Berlin, Anfang Mai 
Las Rheinland wird demnächst befreit sein; Grund genug, sich 
an seiner Popularität emp^ und einen Tonfilm vom 
deutschen Rhein zu drehen, den sie nicht haben sollen mit seinen 
fröhlichen Weinbergen, seinem Karneval und seiner Schwerindustrie. 
,M h e i nlandm ü d ch e n" nennt sich das Machwerk, das mit den: 
Rhein sem machen will. Ich mein, was es bedeuten soll, 
daß ich so traurig bin, denn der Rhein fließet hier nicht ruhig, 
sondern ist ein Schmutzwasser, in dessen Trübe eifrig gefischt wird. 
An-der Angel bleibt alles hängen, was noch aus der Vorkriegszeit 
Lm Strom mitschwimmt: die Saufgelage und Schmisse desStudenten- 
Wens, die Burgen und die Dampfer der Poesie-Alben und die Lore 
Wr dem Tore.-Krieg/ Rnhrkampf sind spurlos an ihnen 
vörübergegangen. Die Burschen strahlen vor materiell gutfundiertem 
Ingendfrohmut, un jeder Gelegenheit werden Rheinlieder ge- 
sunWn^ -weil ein Tonfilm nun einmal tönen muß. Am lautesten 
simn der Dampfer. 
-'Oder sollte Mses Rheingöldemsemble-die Zeit doch nicht ver 
schlafen haben? Gegen den Schlich hin enthüllt sich, daß es dur^ 
aus anst der Hohe ist. Ein Korpsstudent, der so leer, rein und rosig 
Mär, "daß- ihm selbst der alte SimM 
können, damals, als er noch jung war und grollte — kurz, Werner 
Fütterer liebt seine Lore, die er für das Mitglied seiner Damen- 
kapelle' hält/i Seit die Musiker in den . Kinos nicht mehr soviel ge 
braucht werden, tauchen sie auf der Leinwand immer häufiger auf.) 
Ditz beiden ' küssen sich edel und meterweise wie in gepflegten 
Romanen, aber der Vater des Jünglings ist ein Großindustrieller. 
Früher war er gewöhnlich ein Fürst,, der Unterschied ist nicht groß. 
Er-möchte das Musikmädchen, das ihm zu vulgär für seinen Thron- 
eMnchfi -- es ist auch in der Tat sehr vulgär —, mit einem Scheck 
ahfinden, dex natürlich entrüstet zurückgewiesen wird. Wie wendet 
sich Mguterletzt dennoch alles Zum Besten? Durch ein soziales 
Wunder, das so einfach wie unsozial ist. Der Großindustrielle er 
fährt, daß die Lore gar.nicht vor dem Fore ist, sondern eine 
Studentin, eine Werksingsangstudentin, die abends musiziert, um 
tagsüber chemische Formeln schreiben zu können. Run muß. er nicht 
mehr einer Mesalliance wegen zittern, das Mädchen aus dem Volk 
ist ein Mädchen aus girier Familie, das den Doktor macht, und 
Braut und Bräutigam dürfen sich großindustriell umarmen. 
Die Dummheit, Mit der dieses Ding .gedreht ist, sucht ihres 
gleichen. Erst werden die Unters ,-de unseres gesellschaftlichen Da 
seins mit einem Rheinstrom von Seligkeit überflutet und dann 
werden sie aus purer Fahrlässigkeit wieder trocken gelegt. Man häuft 
Bierleichen und andere Ruinen vor der Wirklichkeit auf, um sie 
unsichtbar Zu machen, und zeigt hinterher ihr kahles Gerippe. 
Ideologien ausstreuen und mit demselben Atemzug auf ihre ökono- 
miMe Basis Hinweisen — das heißt noch sich selber entlarven. 
Aber vielleicht ist die Dummheit doch nicht zu groß, denn das groß 
städtische Publikum, das keineswegs aus lauter Industriellen und 
studierten Töchtern besteht, hat bei der Uraufführung 
applaudiert. Sie lassen^ sich vom rheinischen Gemüt ergreifen und 
merken nicht, daß zu industriellen Zwecken Mißbrauch mit ihm ge 
trieben wird; obwohl der Film in seiner Albernheit die Beziehung 
zwischen Industrie und Gemüt offen preisgibt. 
Das „Rheinlandmädchen" ist im Steglitzer Titania-Palast Zu 
sehen- eMer jener Neuberliner Architekturen aus Licht, Glas, Luft 
und Bet-n, deren Ehrgeiz es ist, ihr eigenes Plakat zu sein. Sie 
sind opt-mistische Verheißungen, die sich nie erfüllen, und sollten 
von rechtswegen als Reklameburgen am Mlmrhein stehen. 
S. Kmeamr, 
Merttner Notizen. 
Walzer und Marseillaise. 
ES lohnt sich nicht, von den meisten Filmen zu sprechen. Sie 
sind Jndustrieprodukte, sie haben ihr Publikum oder haben es nicht 
und damtt Schluß. Auch der jetzt hier uraufgeführte Film: „Walzer 
könig", der schlechter als notwendig ist, wäre keiner Erwähnung 
wert, wenn er nicht mit einer Szene endigte, die den Untergrund 
dieser und anderer scheinbar harmloser Zerstreuungen bloßlegt. Ort 
und Zeit: das revolutionäre Wien 1849. Ein Trupp Aufständischer 
verwechselt Johann Strauß mit einem der verhaßten Aristokraten 
und fordert auf seinen Protest hin, daß er sich durch Geigenspiel 
legitimiere. Walzer. Königlich setzt er den Bogen an und fiedelt zu 
nächst die von den Revolutionären gesungene Marseillaise. Sachte, 
ganz sachte führt er aber dann in den Marschrhythmus, in den 
Walzerrhythmus über und noch ein wenig später das zur Tanz 
melodie abgeschwächte Aufruhrlied in „Die schöne blaue Donau". 
Durch die Macht der Musik werden gleichzeitig die dionysisch blicken 
den Revolutionäre in apollinisch lächelnde Kleinbürger verwandelt. 
Sie legen einer nach dem andern die Karabiner weg und schwingen 
sich zu guter Letzt allesamt selig im Dreivierteltakt. Der Walzer als 
Sieger über die Marseillaise: das Maskenarsenal der politischen 
Reaktion ist schier unerschöpflich, und hat man ihr die eine abge 
rissen, so hält sie zehn neue bereit. 
Lautes Heldentum. 
DaS Amerika der Filme lebt noch mitten im Heroenzeitalter. 
Immer wieder ist der Filmheld ein richtiger Held, irgendein netter 
Boy, der nach unscheinbaren Anfängen große Taten auf der Lein 
wand vollbringt, die dann der ganzen Nation als Beispiel vorleuch 
ten. Den Augiasstall reinigt er freilich nie. Im Gegenteil, er 
avanciert nur zum Recken, damit die Prosperity sich recke und recke. 
So in dem Tonfilm: „Flieger", in dem ein Jüngling dem ameri 
kanischen Fliegerkorps beitritt, das mit seinen Sergeanten und 
Majoren in einem fort fliegt. Die Amerikaner sind ein junges Volk, 
ein naives Volk; da zur Zeit der Pazifismus herrscht, der dem 
Jüngling keine heldischen Gelegenheiten bietet, entfesseln sie einfach 
eine kleine Rebellion in Nicaragua, bei deren Erledigung er Wun 
der an Kühnheit verrichtet. Sie verstehen sich darauf, solche Banden- 
aufstände zu finanzieren, und aus den Kapitalhelden ihrer Filme 
schlagen sie gut verzinsliches Kapital. Am Schluß prangt der neu 
gebackene Nationalfliegerheros als Offizier und Bräutigam — eine 
strahlenoe Widerlegung der oft gehörten Auffassung, nach der sich 
Heldentum und rationelle Wirtschaft nicht miteinander vertragen. 
In Wirklichkeit ist diese auf jenes angewiesen und weiß genau, 
warum sie es züchtet. Die steigende Nachfrage nach Absatzgebieten 
ist dem Wachstum des Heroenkults direkt proportional. Der 
„Flieger"-Film, der im Ufa-Palast am Zoo läuft, ist pompös auf 
gemacht, virtuos geschnitten und reich an glücklichen Bildeinfällen. 
Kurios klingen die deutschen Worte aus amerikanischen Mündern; 
aber das Uebel der fremden Mundform wird durch die Belanglosig 
keit der Gespräche einigermaßen aufgehoben. 
Kurze Kurztonfilme. 
An die Stelle der stummen Kulturfilme kleinen Formats treten 
mehr und mehr die kurzen Kurztonfilme, die das lebende Orchester 
vollends entbehrlich machen und dem Triumphwagen des tönenden 
Hauptschlagers wie arme Verwandte vorgespannt sind. Im 
Marmorhaus werden sie zur Zeit rudelweise gezeigt. Unter ihnen 
sind jene gezeichneten Trickfilme am besten gediehen, die unver 
kennbar vom Kater Felix abstammen. Reizende Potpourris aus 
zerstückelten Figuren, deren Bruchstücke sich zu immer neuen 
Arabesken vereinen. Wenn statt des angelsächsischen Humors sur 
realistischer Ingrimm das Kaleidoskop in Umlauf brächte, wäre 
unsere scheinbar so festgefügte Anschauungswelt bald auseinander 
gesprengt. — In einer Sonderschau wurden dieser Tage Mario- 
netten-Tonfilme der Pinschewer-Filw A.-G. vorgeführt. Pu- 
honnys Marionettentheater ist hübsch, und ein Kurztonfilm kann 
Hübsch sein. Aber ein Kurztonfilm, in dem ein Marionettentheater 
erscheint, — das ist, wie wenn einer ein Tischdeckchen noch ein 
mal mit einem Tischdeckchen bedeckt. S. Krakauer.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.