Paris ist groß.
Die Kugel ist klein. Vielleicht, daß sie sich weitet, wen-
man in sie eingedrungen ist, daß sie sich als eine Kristallin-^
mit vielen Strahlenbrechungen erweist. In - M:m In r
wird die Angemessenheft sämtlicher Gebilde an die mensch-
Eine geschlossene Kugel.
Me Tradition bewahrt nicht Museumsstücks,, sondern
erhält das ererbte Besitztum lebendig. (Wenn in Deutschland
manches nicht zerfallen ist, was in Frankreich weiterbrsteht, so
darum nur, weil es bei uns niemals bestanden hat; etwa eine
Gesellschaft.) Immer noch gönnen die Restaurants nur von
12 bis 2 und von 7 bis 9 Uhr den Gästen das Essen. Ein
Philosoph, der es wissen muß, erklärte mir: „Die französische
Sprache ist beständig von Ewigkeit zu Ewigkeit. Ihre Pflege
nimmt die halbe Schulzeit ein, und der schlechteste Schüler ist
gerettet, wenn man von ihm sagen kann: inuls U 6erLt dien;
wie in Deutschland der begabte Turner." Ein junger Kauf
mann studiert die Schriftsteller des 16. Jahrhunderts, um ihneh
irgend eine feine Redeweise zu rauben, und Gelehrte, die sich >
anderswo um Prosa nicht kümmern, streiten stundenlang über'
eine sprachliche Wendung. Der Philosoph, ein älterer Herr,
ist in Berlin zur Schule gegangen. Er wird es mir nicht als
Indiskretion anrechnsn, wenn ich verrate, daß er dort einen
Kameraden hatte, der seiner Völligkeit wegen der „dicke Müller"
hieß. Der Junge schrieb Klassenaufsätze, in denen die Phra
sen wie die Trompeten von Kriegervereinen schmetterten. Als
später die ersten Reden des jungen Kaisers erschienen, mußte
der Philosoph immer wieder feststellen: „Aber das hat ja schon
der dicke Müller gesagt!" . . . Ein anderer Franzose, dem ich
von der gesellschaftlichen Libertinage in Berlin berichtete,
schüttelte begriffsstutzig den Kopf. Noch gilt sich die Bourgeoisie
zu viel, als daß sie durch die Praktizierung eines mißverstan
denen Bohsmetums ihre Unbürgerlichkeit (die sie erst recht
bürgerlich macht) vor aller Welt bekunden möchte. Paris ist
eine der dezentesten Weltstädte. Der Amant einer verheirateten
Frau hält ihr strenger die Treue als ihr Ehemann, und die
läßlicheren Beziehungen sind nicht ohne Verpflichtung. Eine
ontologisch fixierte Ordnung, von der noch die Gleichgültigkeit
gegen Bahnhofsgebäude zeugt, denen man nur den Rang einer
dekorativ zu vernachlässigenden Durchgangshalle zugesteht. Die
deutschen Großstationen werden als Krematorien empfunden,
in denen sakraler Verbrennungspomp sich entfaltet. Auch die
Universitätsbeamten, die Wissenschafter und die Denkdozenten
schweben noch unbeschädigt über dem Volk. Einer fragte mich,
warum in Deutschland diese oberen Menschenkategorien neuer
dings aus der Stille der Hörsäle und Studierstuben heraus-
brächen und dem Geschmack der Menge sich anzupassen suchten.
Ich erwiderte ihm, daß, von den Naturwissenschastern ab
gesehen, die sich industriell verwerten ließen, sämtliche Gelehrte
Lei uns von der Angst besessen seien, man könne sie eines
Tages vergessen. Im übrigen gelänge es ihnen nicht einmal,
sich zu der Menge herniederzulassen; was ihn beruhigte. Er
selber mit seinen Kollegen ist frei von dieser Nervosität. Ja,
so sicher thront das gelchrte Leben, daß es die Popularität ver
Fariser AeobachLungen.
Von Dr. S. Kraeauer.
Von Berlin aus gesehen.
Der Deutsche aus Berlin, der mit seinen Problemen bepackt
nach Paris kommt, glaubt sich in eine riesige Provinzstadt
versetzt. Gewiß, da sind die beiden Louvre Gebäude (von denen
ihm die Gemäldegalerie mehr imponiert als das Warenhaus, das
er besser fertig bringt), da sind Plätze, Schlösser, Attraktio
nen auf dem Montmartre, Modehäuser und andere Häuser, die
in Deutschland aufgehoben sind — aber das Leben, die Gesell
schaft? Leben und Gesellschaft scheinen ihm wie vor hundert
Fahren. Seine Promptheit fühlt sich durch das
sein hygienischer Sinn durch die zu geringe Verwendung des
Vakuumreinigers verletzt. Das Telephonieren ist eine Qual,
in den Cafes immer die Brioches, die Wasserhähnchen funktio
nieren nicht recht. Schweigen wir von den Aborten. Warum
wird nicht zugegriffen; hier und dort nur ein neues Gebende,
viele neue Gebäude sind alt. Der Deutsche, der mit seiner
Zeit lebt, findet die Vergangenheit wieder. Neben Salon
stücken und abgelegten Operetten begegnet er Schauspielen, die
sich über die Frauenemanzipation dramatisch erstaunen, oder
einen jungen Offizier, dem die konventionelle Schlamperei zu
Hause nicht mehr behagt, sanft zurückleiten zu den überlieferten
bürgerlichen Tugenden. Es darf vorausgesetzt werden, daß
auch der deutsche Reisende ein tugendhafter Bürger ist. Aber er
ist doch ein aufgeregter Bürger, der verlorene Krieg und die
Jnflationsjahre haben ihn um die Gewißheit seines Wertes
gebracht, er zweifelt, er zweifelt sogar an der Erhabenheit des
Eigentums, er hat die Revolution als Demokrat oder als ihr
Gegner erlebt, und Ankerika ist sein drittes Wort. Selbst wenn
er frisch aus England kommt, wie ein junger Deutscher, den
ich bei einem Jour kennen lernte, eigentlich kein junger Deut
scher mehr, sondern nach einem halben Jahr England bereits
ganz der englische GroMufmann:, selbst als apathischer, gar
nicht aufgeregter Gentleman noch wird er die moderne Welt in
Paris vermissen. Die Gesellschaft dauert fort als habe sie den
Krieg wirklich gewonnen, man spricht über Kunst und Literatur
wie in verfallenen Jahrzehnten, Besitz und Mitgift stehen im
Geruch der Heiligkeit, und ihre Generale sind echte Generale.
Vergeblich packt der Deutsche seine Probleme aus; noch ehe er sie
ausgepackt hat, sind sie schon aus dem Wege geräumt. Er denkt:
diese Weltstadt ist aus der Gegenwart. Entspannt wandelt er
in ihren wohlerzogenen Parks umher, freut sich ihrer Kultur
güter, die er nicht besitzt, rafft mit beiden Händen charmant
dargebotene Vergnügungen zusammen und kehrt dann nach
Berlin mit dem Bewußtsein zurück, daß er hier wieder die Luft
der rauhen Wirklichkeit atme, wie es heißt.
achtet. Die Damen in seinen Kollegs sind Bergson ver-^
übelt worden^ und der berühmte Lebensphilosoph, so wird be
richtet, hat seine Gattin eigens als Beobachtungsposten in den
Hörsaal beordert, um von ihr einwandfrei feststellen zu lassen,
daß der Damen nicht gar so viele seien. Es soll sich nichts
ändern, und Deutschland ist ihnen im Grunde nur darum
unheimlich, weil es immer wieder Veränderungen hervorrufen
will. Dem Ausländer in Paris muß es scheinen, als dringe
er in eine kleine geschlossene Kugel ein.
Glückliche Natur.
In den Fehler der Vorkriegsjahre verfiele, wer die Stabi
lität des französischen Lebens nur als Erstarrung begriffe. Sie
stammt gewiß zum Teil aus einer glücklich angelegten Natur.
Das Land birgt alle Erderscheinungen in den richtigen Maßen.
Von der gut proportionierten geographischen Fülle haben die
Menschen etwas abbekommen, man könnte sagen, sie seien von
Natur aus katholisch. Ein Intellektueller sprach von ihrem
inneren Gleichgewicht. Sie lieben vielleicht die Natur längst
nicht so wie die Deutschen, aber sie sind eine Darstellung der
Natur; von ihr wird die Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit
getragen, und noch die feinste Spiritualität ist dem natürlichen
Untergrund nicht entfremdet. Diese Natur ist nicht das reine
Binnenland, aus dem nur Bauern wachsen, die beharrlich auf
ihrer Scholle sitzen, sondern, sie wird von Meeren umspült. An
seinen Ufern kommt und geht eine Bevölkerung, die wurzellos
ist. Sie hat sich bis nach Paris heveingezogen, dessen Fau-
bourgs Gassengekröse enthalten, die aus Neapel oder Mar
seille entwendet sind. Eine städtische Unterschicht, die aus
importierten Bauern besteht, verhärtet sich leicht und die dar
über konstruierte Gesellschaft ist dann hoffnungslos abgeschnürt.
Das Hafenvolk hat die Unruhe in sich, die Farbe ist sein
Wesenselement und feine Bildungen zerrieseln unaufhörlich.
Wenn man seine Quartiere und Kneipen durchstöbert, kann
man das Ereignis der französischen Revolution begreifen, deren
Spuren aus dem Bild der höheren Gesellschaft ausgekocht
sind. Zu ihrem "Heil ist sie auf der vulkanischen Lava dieses
zeitlosen, niederen Volkes errichtet, heiß wie vorn Mittelmeer
dringt es von unten herauf, und so vermag sie vorerst noch zu
dauern.
Paris ist klein.
Ein Professor sagte zu mir: „Die Deutschen bauen immer
zu groß, denn sie Lauen für fünf bis sechs Jahre später. Wir
Franzosen bauen immer zu klein, weil wir uns auf die Gegen
wart einrichten." Das bekannte Bonmot eines Engländers hat
ungefähr den gleichen Sinn: Die deutsche Methode ist, bei
großem Umsatz wenig zu verdienen. Die Franzosen ver
dienen bei kleinem Umsatz viel, Wir Engländer halten uns
in der Mitte. — Je mehr der Deutsche aus Berlin stammt,
desto stärker empfindet er die Kleinheit in Par^s. Die
Theater fassen bestimmt keinen Kubikzentimeter zu vi^. die
Restaurants haben Unterabteilungen und bestehen vielfachXaus
Zimmerchen. Wer der Concorde-Platz, der Louvre, die schnür-
graden aufgeklärten Perspektiven? Durch eine Kunst, die an
das Wunderbare grenzt, sind sie trotz ihrer Ausdehnung so
verringert worden, daß man unwillkürlich in die Versuchung
gerät, sie aufzupacken und in den Wüsteneien eines Berliner
Sternplatzes oder Fürstencafes irgendwo abzustellen. Einige
Kandelaber, ein paar fein gegliederte Lisenen, und sie
schrumpfen auf ein Mindestmaß zusammen. Auch den öffent
lichen Peranstaltungen und geschlossenen Cercles fehlt der
Hang Zum Gigantischen. Man liest mitunter in französischen
Zeitungen, daß Paris auf dem Wege sei, sich zu amerika
nisieren. Dem Franzosen mag es so scheinen; auf den Fremden
wirkt das bißchen Amerika erst recht französisch. Aus dem
Charleston haben sie lE Oburleston gemacht, nun ist er
von Maurice Chevalier erfunden, reinstes Pariser Nr-
gewächs, ein elegantes Schlenkern der Beine. Sie fürchten
die Amerikanisterung, wollen sie nicht. „Als einem Agrar
land und dem Lieferanten der Qualitätswaren für die Welt",
äußerte mir ein Herr, der es zwar auch nicht weiß, aber die
landesübliche Meinung wiedergibt, „wird uns Amerika wohl
erspart bleiben." Die Lichtreklame beschreibt gefällige
Schwünge, die Substanzen der Warenhäuser sind bis auf die
Moleküle zerspalten. Niemals verschwindet das einzelne Stück
als Typenprodukt in der großen Masse; aus einer getönten
Hülle von ^Seidenpapier strahlt es dem Beschauer entgegen.
Noch lebt Sardou, in der dichten Atmosphäre gedeihen herr
lich gesponnene Jntrigen, nicht umsonst ist die Diplomaten
sprache französisch. Von Berlin aus gesehen, ist Paris aus
Tüpfeleien zusammengesetzt, wie umgekehrt Berlin von o m
Luxembourg aus zur hingestrichenen Plakatwand wir^ Der
Deutsche mit seinem Tempo durchrast die Miniaturen. urw
datiert sie in frühere Jahrhunderte zurück; da er gewohnt
ist, an Betonklötzen vorbeizusausen, denen eine neue Sach
lichkeit die Ornamente abgeschlagen hat, und da er zuhcusc
alle Bänder rollen läßt, hat er keine rechte Geduld, bei den
Details zu verweilen. Wo er aber etwa dem schnöden MU-
vismus surrealistischer Propaganda begegnet, dort empfinde
er unzweideutig, daß hier kein Frankreich mehr ist.