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H:Kracauer, Siegfried/01.03/Klebemappe 1923 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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Bibliographic data

fullscreen: H:Kracauer, Siegfried/01.03/Klebemappe 1923 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Manuscript

Persistent identifier:
BF00043380
Title:
H:Kracauer, Siegfried/01.03/Klebemappe 1923 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]
Shelfmark:
H:Kracauer, Siegfried/01.03/Klebemappe 1923
Document type:
Manuscript
Collection:
Holdings and special collections
Year of publication:
1923
Copyright:
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Full text

Dieselbe geistige Einstellung, der man die Weckung jenes Ge-, 
spenstes und den ganzen an ferne Erscheinung anknüpfenden 
Geschichtstratsch dankt, Zeugt auch die aufgeregten Schwärme 
reien der unentwegt Erneuerungssüchtigen; denn- wer sich in 
strikten Gegensatz Zu einer Position setzt, erhebt sich nicht über! 
die durch sie bestimmte Sphäre. 
Es ist recht eigentlich diese Sphäre welthistorischer Pro- 
phetie und bindungslosen Neuschöpfertums, die verlassen 
werden muß, wenn es sich je mit uns bessern soll. Die Hal 
tung, die wir in ihr einnehmen, ist scheinhaft, und unwirk 
lich alles, was wir in ihr erfahren oder begehren. 
Das gilt zunächst für die Zeichendeuter der Weltgeschichte. 
Indem sie sich vermessen, das historische Universum unbeschränkt 
zu überblicken und objektiv zu erkennen, gedenken sie nicht mehr 
ihrer Gebundenheit an eine ganz bestimmte konkrete Situation; 
der Schauplatz der Weltgeschichte öffnet sich ihnen genau in 
dem Augenblicke, in dem sie von dem Schauplatz ihres wirk 
lichen Lebens abtreten. Da man aber nur solche Dinge kern 
! haft erfaßt, zm denen man in einer wirklichen gesamtmensch- 
! lichen Beziehung steht, sind ihre welthistorischen Konstruktionen 
und Synthesen, die dieser Beziehung gerade nicht entstam 
men, in Wahrheit wesenlos. Es ist schon so unendlich schwer, 
innerhalb des Lebenskreises, den man voll erfüllt, das Rich 
tige zu treffen. Wie sollte es da gelingen, Völker, Kulturen, 
Religionen, die man lediglich von ferne und außen gewahr 
wird, bei ihrem Namen zu nennend Derartige Einsichten 
rühren nur an die Oberfläche des Geschehens, weil man, sie 
zu gewinnen, sein wirklich es Selbst im Stich lassen muß und sie 
täuschen überdies ein Wissen vor, dessen Gott allein fähig wäre. 
Kierkegaard hat das Blendwerk der weltgeschichtlichen 
Spekulationen tief durchschaut. Er bemerkt in seiner Polemik 
gegen Hegel: „...Dagegen ist die Weltgeschichte der könig 
liche Schauplatz für Gott, wo er nicht zufällig, sondern wesent- j 
lich der einzige Zuschauer ist, weil er der einzige ist, der es 
sein kann. Zu diesem Theater steht der Zugang für einen ! 
existierenden Geist nicht offen. Bildet er sich da ein, Zuschauer 
zu sein, dann vergißt er bloß, daß er ja selbst auf dem kleinen 
Theater" — auf dem „Theater" seiner eigenen ethischen Entwick 
lung nämlich — „Schauspieler sein soll, indem er es jenem 
königlichen Zuschauer und Dichter überläßt, wie dieser ihn in dem 
königlichen Drama, dem ärLiuu. ärnrnntiini verwendet." 
Scheinhaft wie das welthistorische Getue sind die mit ihm 
verbündeten Unterg angsphantasteen. Nicht als ob es ganz von 
der Hand zu weisen wäre, daß eines Tages etwa Deutschland 
oder gar das Abendland ins Dunkel versinke — jedoch die 
Frage Mch^ ihrem UntWLML AWwr sie M WMM WhWL- 
diges Geschehen meint, ist falsch gestellt und muß darum ohne 
Antwort bleiben. Sie ist eine echte Zuschauer-Frage im Sinne 
Kierkegaards, die ganz außer Acht läßt, daß wir in das wirk 
liche Leben eingestellt sind, nicht um uns von ihm abzutrennen 
und es dann „objektiv" auf seinen Untergang oder Aufgang 
hin auszuforschen, sondern um als wirkliche Menschen uns in 
ihm zu bewähren und die Aufgaben Zu bewältigen, die von 
Fall zu Fall an uns herantreten., Eine solche Frage entwirk- 
licht uns und die Welt, sie zeigt an, daß wir uns aus der Ver 
bundenheit mit dem Geschehen gelöst haben, und ist gegenstands 
los, weil eine sinnvolle Erkenntnis nur in dieser Verbunden 
heit überhaupt gewonnen werden kann. Befinden wir uns in 
ihr, wie vermöchten wir uns unbeteiligt zu übersehen, wie zu 
erklügeln, wohin der Weg uns führt? Das hieße sich an die 
Stelle des „königlichen Zuschauers und Dichters" setzen und 
sollte uns zuletzt auch nicht kümmern. Alle Gedanken, die sich 
mit dem Untergang befassen, sind darum müßig; mehr noch: 
sie sind verderblich und selber Untergangsshmptom, denn sie 
lenken von dem Hier und' Jetzt ab, das allein uns angeht. 
, Scheinhaft schließlich ist das Trachten der Erneuerungssüch 
tigen aus Ueberschwang. Nicht anders als die theoretischen Un- 
heilsverkünder entziehen auch sie sich der Situation, die ihnen 
als Ort ihres Seins und Wirkens angewiesen ist. Während 
jene sich aber gleichsam selbst ausstreichen, um sich ganz der 
Betrachtung welthistorischer UnLergangsphänE Zu widmen, 
lassen diese nur ihren eigenen urwedingten Willen gelten und 
verkennen das Schwergewicht der Wirklichkeit, in die sie ein 
geflochten sind. So gut es ist, daß sie überhaupt fordern, so 
wenig es etwas gegen ihre Forderung besagt, daß sie 
auf Unerreichbare abzielt, die Abstraktheit und Leerheit ihres 
Rufes nach Erneuerung bezeugt allzu deutlich, daß er, genau 
so wie das Wchgeschrei über den Untergang, außerhalb des Be 
reichs unseres konkreten Lebens hallt und wiederhallt. Heißt 
es aber nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, wenn 
man wider eine angeblich altersmatte Menschheit eine angeblich 
funkelnagelneue plakatiert? Twrt ein Herabstnben aus der 
Wirklichkeit, hier ihr Ueberfliegen. Wo doch viel eher not wäre, 
daß man, Unauswachbares beiseite schiebend, die Bedingtheit 
unseres Wesens und unserer Einrichtungen Augestände und in 
eins wirkliche Beziehung zu den Dingen träte, die uns als An 
griffspunkte gegeben sind. 
Gehorsam gegen die „Forderung des Tages": das 
ist, um es mit einem Worte zu sagen, die alleinige Rettung 
vor der geräuschvollen Scheinhastigkeit der Zeit. Leistet man 
ihn, so stürzen die welthistorischen Kulissen von selber ein, und 
statt dem Untergang oder der Erneuerung nachzufmgen, wird 
. WN liebU WM km K MMen UmMuden 
^2 7^,^) 
e^P SLLtvvi 
Von Dr. G. Kraeaner» "s^WMr^ 
Das Gerede vom Untergang, zu dem Spengler, jener ge 
waltige Oberbefehlshaber der Geschichte, in seinem umschrch- 
tigen Werk den Grund gelegt hat, schwirrt verheerend durchs 
Land. Und freilich: was Deutschland betrifft, scheint es von 
Tag zu Tag sich mehr zu rechtfertigen. Das Hineinträumen 
in die Zukunft ist uns längst verwehrt, gewiß ist nachgerade 
nur die Ungewißheit, und wenn leben heißt: ausgerichtet fern 
auf ein kommendes Heil, so leben wir schon seit unvordenklichen 
Zeiten nicht mehr. Da kein Band uns mit helleren Stunden 
verknüpft, sind wir erschlafft herabgeglitten, Beute der H ofs-^ 
nun gslosig kett, die ihr Werk der Zerstörung M- 
oefchästig an dem Volk vollbringt- Wie gelähmt starren wrr 
auf diesen Vorgang der Vernichtung, er verzaubert uns, reißt, 
uns bedrohlich mit sich fort. 
Begreiflich genug, daß in solcher Lage Nntergangsgeruchte 
Lppig ins Kraut schießen. Sie festigen sich aber um so mehr, 
als sie sich auf die Erkenntnis des gesamten Geschichtsablaufs 
zu stützen behaupten. Ja, es ist keine Frage: wir sind zu 
historischen Alleswissern geworden und betrachten die Ge 
schichte nur noch aus der Vogelschau. Nicht zufrieden damit, 
die Entwicklung, in der wir stehen, mit sorgenden Gedanken 
zu begleiten, lösen wir uns gleichsam aus ihr heraus, ver 
gegenständlichen sie und erforschen — ganz unpersönlich, ver 
steht sich —ihre Bahn und ihren Sinn. Und einmal in dieser 
Richtung unterwegs, dehnen wir die räumlichen und zeitlichen 
Blickfelder gleich ins Unabsehbare aus und tummeln uns 
munter in lauter welthistorischen Perspektiven. Kein Gebiet 
ist zu abgelegen, kein Glaubensbekenntnis zu fremd: wir er 
schauen es, nisten uns in ihm ein und versehen es mit einer 
eigenen Kennmarke. Wir mischen Brlddhismus, Konfuzianis- 
mms und MoharmnedanismuA, wie man Karten mischt, spielen 
Fangball mit Indien, China, Japan, verfügen über Kon 
tinente und Kulturen, daß es nur so eine Art hat, und durch 
messen die Jahrtausende mit Lichtgeschwindigkeit. Welt 
geschichte, immer nur Weltgeschichte, lautet die Losung. In 
ihren dröhnenden Gang werden die Religionen, die politischen 
Strömungen, die Richtungen des Kunst- und Geisteslebens ein 
getan, bis sie ebenfalls dröhnen, und alles Hier und Jetzt 
wird solange aufgeblasen und leergeblasen, bis es sich der 
historischen Betrachtung als würdig erweist. So setzen wir als 
Lhsaterdirektoren die Marionetten in Bewegung und verfolgen 
-SÄ Zuschauer MMierig-gM KW 
Ist das glücklich vollbracht, haben wir das uns Zugefügte 
und von uns Gewirkte in die Oede der allseitig geöffneten 
Horizonte hinausgestoßen, dann nimmt das Orakeln aus dem 
Kaffeesatz der Geschichte seinen Lauf. Eingeweideschauer und 
Astrologen ablösend, nahen sich mit wichtigen Mienen unsere 
modernen Magier und weissagen auf Grukd ihres Einblicks 
in die welthistorischen Konstellationen die Schicksale der 
Volker. Mit ausgezogenen Fernrohren stehen sie umher, er 
rechnen den Aug des Geschehens und treffen geographische, 
politische und kulturelle Dispositionen auf lange Sicht. Dem 
Abendland e geben sie im allgemeinen wenig Hoffnung 
mehr — wie könnten sie auch? Dafür verweisen sie tröstend 
etwa auf Rußland, das jetzt nach geheimnisollem Gesetz seine 
Bahn antvete, oder lassen wohl gar, wenn sie gnädig gestinunt 
sind, aus Amerika ein wenig Sonne scheinen. Die ehrfürchtig 
harrende Menge aber, die vielleicht irrtümlich meint, sie habe 
bei ihrem eigenen Untergang auch ein Wort mitzureden, wird 
durch jene prophetischen Bulletins in wahre Abgründe der 
Verzweiflung gestürzt. Und, von welthistorischem Schauer 
gepackt, fragt sie verängstigten Gemütes, ob denn das ange 
kündigte Verhängnis sich wirklich vollziehen müsse. 
Auch dort, wo diese Frage radikal verneint wird, befindet 
man sich noch in ihrem Bann. Viele möchten heute die Dreh 
orgelballade vom Untergang durch den Sirenengesang von der 
Erneuerung übertönen. Von jenen zur Erneuerung wahr 
haft Berufenen, die nicht zum wenigsten deshalb berufen sind, 
weil sie das historisch Gewordene und Seiende stets mit in 
^Rechnung setzen, unterscheiden sie sich darin, daß sie eine Eigen 
macht des Gegebenen überhaupt nicht anerkennen, sondern 
ihrem subjektiven Willen allein geschichisblldende Kraft 
beimessen. Und sie spannen diesen Willen nach dem noch 
nie Dagewesenen hin, wähnen, daß die Welt, frei von Hast 
und Klammer, mit ihnen ganz von vorne beginne. In allen 
Tonarten fordem sie den neuen Menschen, die neue Gemein 
schaft, die neue Kunst, die neue Religion — das Vorhandene 
schert sie einen Pfifferling, es ist nur vorhanden, um aus 
gelöscht und erneuert zu werden. Halten die Andern Leichen- 
schmäuse zum Gedächtnis des Abendlandes, so begehen sie 
Freudenfeste in der Erwartung seiner Neugeburt. Aber diese 
Auferstehungsorgien, diese hemmungslosen Predigten von der 
Neuwerdung um jeden Preis erinnern verdächtig an gewisse 
tumultöse Veranstaltungen primitiver Völkerstämme, die der 
Verscheuchung böser Geister dienen. Der inbrünstige Schrei 
nach der neuen Menschheit ist am Ende doch zumeist ein ver- 
gebüchsr Fluchtversuch aus MschichÄicher Bedingtheit heraus, 
und mit all dem Klappern beweist man lediglich das 
' eure, daß Wyr das UnterLanMespenst noch umschleichen sieht.!
	        

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