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thumbs: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

wollen, unwiderstehlich wirken . . Allerdings vornehmlich 
auf die höheren Stände, die Stil und Distanz verlangen. 
Der Ton macht die Musik, und Zweig trifft, wie ebenfalls 
an Hand seiner Novellen gezeigt wird, genau den Ton, der 
in kultivierteren Zirkeln anspricht, dort, wo der Geschmack 
umgeht und die Bildung spukt. Der Mittelstand und über 
haupt die verarmten Massen verlangen statt des teuren Ab- 
standes Herz, das kostenfrei ist. Das G e füh l ist alles, wenn 
alles andere fehlt. Er vermenschlicht die Tragik, ohne sie 
aufzuheben, und nebelt die Kritik ein, die der Konservierung 
überalterter Gehalte gefährlich werden könnte. Für den Aus 
fall der Spannung sucht Voß „durch eine Darstellungsweise 
zu entschädigen, die wahrscheinlich die Hauptschuld an der 
Resonanz des Buches trägt. Sie strotzt von jener literarisch 
ungeformten Gefühlsseligkeit, die zu den anonymen Volks 
massen sprich!". Remarque erzielt seine Effekte gleichfalls da 
durch, daß er zu rühren versteht. „Dieses Rührende", so wird 
in der seinem Roman gewidmeten Untersuchung erklärt, 
„weist. . . soziologisch auf die Schichten hin, auf die es am 
stärksten wirkte und die den Erfolg des Buches bestimmen. 
Es ist der Ausdruck eines mittleren Zustandes zwischen Hin 
nahme und Auflehnung, der einer mittelständischen Haltung 
adäquat ist." 
Oft werden die zu stabilisierenden Gehalte nicht unmittel 
bar beschworen, sondern dadurch indirekt zu bewahren gesucht, 
daß man vor der Auseinandersetzung mir ihnen die Flucht 
in irgendeine Fremde ergreift. Wenn man die Hände von ihnen 
läßt, zerbröckeln sie nicht so leicht. Sie werden unter eine 
Glasglocke gestellt, und dann fährt die Herrschaft spazieren. 
Ein verlockendes Ausflugsziel ist und bleibt das Erotische. 
Von Thieß, der es gern aufsucht, .wird bemerkt: „Ich glaube, 
daß viele Leser durch die reichlich einmontierte erotische 
Schwüle herbeigelockt werden, gegen die sachlich nicht das 
Geringste einzuwenden ist,, da sie zur Darstellung der Grund 
haltung an den ihr angewiesenen Ort gehört." Auch geo 
graphische Abenteuer sind Zum Teil sicher darum 
begehrt, weil sie von den geistigen Meuten, Zu den Autoren, 
die sie frei ins Haus liefern, gehört nicht zuletzt Jack London. 
Den Ausschlag gibt allerdings bei ihm, der Analyse zufolge, 
seine innige Beziehung zur Natur. Sie ist, wie die Er 
folgsbücher beweisen, das große Resugium, nach dem sich die 
Lesermassen sehnen. Vertrauten sie sich der Ratio an, die mit 
der Natur nicht zusamm-enfällt, so wären unter Umständen 
ihre Bewußtseinskonstruktionen bedroht; bei dem Rückzug in 
die Natur dagegen bleiben alle problematischen Gehalte un 
angetastet. Die Natur mag tragisch sein oder dämonisch 
gleichviel: sie ist ein sanftes Ruhekissen für alle, die nicht ge 
weckt werden wollen. „Die Helden der Zweigschen Novellen 
sind Amokläufer, Rasende, Verhexte oder Verzauberte, die, 
für ihr Tun zwar nicht verantwortlich sind, aber mit ihrem 
Tun doch irgend etwas demonstrieren wollen, etwas Un 
bestimmtes, Geheimnisvolles . . Jack Londons Natur meint 
es sogar mit den Menschen gilt, sie ist eine ideale Natur, der 
er unbekümmert gehorchen darf. Er hat alle möglichen Gefahren 
bestanden — „aber es gibt keinen Dämon, der ihn vor sich her- 
jagt und ihn, wie die Landstreicher Hamsuns, an den Rand 
des Abgrunds bringt; er folgt nur seiner ,Natur'." Sie, die 
unergründliche, ist schließlich die Grenze jedes Begründens, 
ist stumm. Ein Vorzug, der den Erfolg geradezu garantiert. 
Denn nichts wünschen die heutigen Träger großer Bucherfolge 
aus Selbsterhaltungstrieb dringlicher als das Versinken pein 
licher Fragen im Abgrund des Schweigens. Da sie die Ant 
wort mit Recht oder zu Unrecht fürchten, verlangen sie vorge 
schobene Barrieren, die den Anmarsch der Erkenntnis ver 
hindern. Ihre Forderung lautet: Indifferenz. Sie hat 
zweifellos den Erfolg von Remarque beim internationalen 
Kleinbürgertum begründet. „Das einzige Gespräch im Buch 
über den Krieg", so wird' in der Romananalyse ausgeführt, 
„bezeugt jene . . . Indifferenz, die sich damit begnügt zu 
konstatieren: ,Noch besser ist gar kein Kriegt Wenn sich irgend 
wo Empörung äußert, so richtet sie sich gegen die subalterne 
Autorität, und Haß ist nur gegen jene sich selbst einschaltenden 
Patrioten in Zivil, gegen einen Lehrer etwa, dem es Löse 
vergolten wird, daß er die Ungeeigneten zur freiwilligen Mel 
dung hetzt."' 
Unsere Analysen ergeben also ein ziemlich umfassendes 
Bild von der Bewußtseinsstruktur der neubürgerlichen Schich 
ten. Sie machen Stützungsaktionen für gewisse, heute nicht 
mehr Zureichend unterbaute Gehalte. Sie möchten auf jede er 
denkliche Weise die Konfrontation abgetakelter Ideale mit 
der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit vermeiden und ent 
ziehen sich dieser Gegenüberstellung durch die Flucht nach allen 
Himmelsgegenden und Schlupfwinkeln. Sie lagern mit Vor 
liebe am Busen d§r Natur, wo sie sich der Sprache begeben 
und sich wider die Ratio zur Wehr setzen können, die auf dir 
Tilgung mythologischer Institutionen und Bewußtseins 
bestände abzielt. 
V. 
Wer verändern will, muß Bescheid um das Verändernde 
wissen. Der Nutzwert der von uns verunstalteten Serie be 
steht eben darin, das Eingreifen in die gesellschaftliche Wirk 
lichkeit zu erleichtern. 
S. Kraeauer. 
amten- und Angestelltenkreisen; an die in der Praxis häufig 
wahrnehmbare Preisgabe individualistischer Haltung; vor allem 
aber an die Jllusionslosigkeit führender Männer 
der Wirtschaft. Eine starke Entzauberung hat gerade an der 
Spitze eingesetzt und Ideen, die einmal der Wirtschaft als 
Antrieb gedient haben, sind jetzt rhetorische Schmuckstücke in 
Feiertagsreden. Der Verzicht auf Gehalte, die durch die heu 
tigen Zustände entthront sind, spricht für den Wirklichkeits 
sinn der mit geistiger Verarmung Bedrohten. Nur wenige 
sehen allerdings über ihre Nasenspitze hinaus. Die meisten 
verehren in Kunst, Wissenschaft, Politik usw. Ideale, die sie 
auf ihrem eigensten Gebiet längst durchschaut haben 
Besagt die (noch dazu nicht klar eingestandene) Demos- 
kierung einiger Ideologien etwas für die Schwächung des 
bürgerlichen Bewußtseins? Das Verstummen in den Höhen 
schichten trägt auf alle Fälle zur Radikalisierung der Jugend 
bei. Man lebt nicht vom Brot allein, und dann erst recht nicht, 
wenn man keins hat. Auch die Rechtsradikalen haben sich teil 
weise vom bürgerlichen Denken emanzipiert, von dem sie sich 
schlecht versorgt glauben; im Namen irrationaler Mächte 
freilich, die des Kompromisses mit den bürgerlichen Mächten 
jederzeit fähig sind. Die größere Masse des Mittelstandes 
und der Intellektuellen aber macht diesen mythischen Aufstand 
nicht mit, der ihr mit Recht als Rückfall erscheint. Statt sich 
durch die geistige Leere, die in den oberen Regionen herrscht, 
Zum Ausbruch aus dem Gehege des bürgerlichen Bewußtseins 
zwingen zu lassen, sucht sie dieses Bewußtsein im Gegenteil 
mit allen Mitteln zu konservieren. Weniger aus positiver 
Gläubigkeit als aus Angst. Aus Angst davor, im Proletariat 
zu ertrinken, geistig deklassiert zu werden und den Anschluß 
an echte Bildungsgehalte zu verlieren. Doch woher die Ver 
steifungen für den gefährdeten Ueberbau nehmen? Er enträt 
verschiedener materieller Stützen, und die neu entstandenen 
Schichten, die sich zum Bürgertum zählen, sind nicht seine 
selbstverständlichen Träger. Sie wissen überhaupt nicht recht, 
wo sie hingehören, sie verteidigen nur Privilegien und viel 
leicht Traditionen. Die wichtige Frage taucht auf, wie sie sich 
nun verschanzen. Da sie unter den gegenwärtigen Verhältnissen 
die Bestände des bürgerlichen Bewußtseins nicht einfach un 
gebrochen übernehmen können, müssen sie auf die verschieden 
sten Auswege verfallen, um den Schein ihrer früheren geistigen 
Machtposition zu wahren. 
IV. 
„Analysen vielgelesener Bücher", schrieb ich in meinem 
Aufsatz über Frank Thietz, „sind ein Kunstgriff zur Er 
forschung von Schichten, deren Struktur sich auf direktem 
Weg nicht bestimmen läßt." In der Tat, schon aus unseren 
bisherigen Untersuchungen erhält man entscheidende Aufschlüsse 
über das Verhalten der in Gärung geratenen bürgerlichen 
Schichten. Besonders über die (vorwiegend unbewußten) 
Maßnahmen, die sie zu ihrem Selbstschutz 
treffen ; denn es darf ja angenommen werden, daß gerade 
diejenigen Bücher einen großen Erfolg haben, die solche Maß 
nahmen darstellen bzw. unterstützen. Ehe ich die Ergebnisse der 
einzelnen Analysen systematisch betrachte, erinnere ich noch 
einmal an ihre Autoren. Ueber Stefan Zweig hat Friedrich 
Burschell geschrieben, Erich Franzen über Jack London und 
Efraim Frisch über Remarque; außer dem Aussatz über Thieß 
stammt von mir auch der über den Richard Voß-Roman: 
„Zwei Menschen". 
Kräftiger Individualismus verbürgt beträchtliche 
Chancen. Von den Helden im Voß-Roman heißt es: „Als 
zwei ausgewachsene Einzelwesen dienen sie auch dem Protest 
gegen die Kollektivierungstendenzen als Rückenstärkung, die in 
der Gegenwart nmner deutlicher hervortreten. Sie widerstreben 
großen Teilen des deutschen Volkes . . .; jedenfalls beweist 
die Wirkung des Romans, daß .Persönlichkeiten' vom 
Rangs Judiths und des Paters Paulus mindestens dieselbe 
Zugkraft haben wie Porträts von Massenmcnschen". Auch 
Thieß und Zweig stellen das Individuum in die Mitte. Wo 
es auftritt, ist Tragik unausbleiblich. Sie bettet das 
bürgerliche Dasein tief in die. Metaphysik ein und übt daher 
auch oder gerade in ihren Zerrformen eine starke Anziehung 
auf das Publikum aus. „Der versorgte, verängstigte Mensch 
dieser Zeit", wird über Zweigs Novellen gesagt, „und gerade 
der Mensch aus den höheren Schichten, der im oft vergeblichen 
Kampf um die Aufrechterhaltung seines Lebensstandards seine 
Gefühle fast immer verkapseln muß, greift . . t begierig zu 
diesen Geschichten, weil in ihnen die Leidenschaften zwar un 
wahrscheinlich, aber dafür um so prächtiger und ungehemmter 
sich austoben und das private Schicksal noch in der Kata 
strophe triumphiert." Da die Mittelschichten ihre Zwischen- 
position wohl als Verhängnis empfinden, sich jedoch unter 
allen Umständen in ihr behaupten wollen, neigen sie natürlich 
dazu, sämtliche Verhängnisse zu tragischen Ereignissen zu 
erhöhen.Das Individuum, das, die Idee bewährend, tragisch 
untergeht, ist auch ein Bestandstück idealistischer Weltanschau 
ung, und so übernehmen die Favoriten begreiflicherweise den 
Idealismus. Nicht den echten, der vergangen ist, wohl 
aber seine verschwommenen Nachbilder. Bei Gelegenheit der 
Prosa Stefan Zweigs muß denn auch festgestellt werden, daß 
manche seiner Sätze fraglos „auf viele Zeitgenossen, die um 
jeden Preis einen verblasenen Idealismus sich bewahren
	        
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