wollen, unwiderstehlich wirken . . Allerdings vornehmlich
auf die höheren Stände, die Stil und Distanz verlangen.
Der Ton macht die Musik, und Zweig trifft, wie ebenfalls
an Hand seiner Novellen gezeigt wird, genau den Ton, der
in kultivierteren Zirkeln anspricht, dort, wo der Geschmack
umgeht und die Bildung spukt. Der Mittelstand und über
haupt die verarmten Massen verlangen statt des teuren Ab-
standes Herz, das kostenfrei ist. Das G e füh l ist alles, wenn
alles andere fehlt. Er vermenschlicht die Tragik, ohne sie
aufzuheben, und nebelt die Kritik ein, die der Konservierung
überalterter Gehalte gefährlich werden könnte. Für den Aus
fall der Spannung sucht Voß „durch eine Darstellungsweise
zu entschädigen, die wahrscheinlich die Hauptschuld an der
Resonanz des Buches trägt. Sie strotzt von jener literarisch
ungeformten Gefühlsseligkeit, die zu den anonymen Volks
massen sprich!". Remarque erzielt seine Effekte gleichfalls da
durch, daß er zu rühren versteht. „Dieses Rührende", so wird
in der seinem Roman gewidmeten Untersuchung erklärt,
„weist. . . soziologisch auf die Schichten hin, auf die es am
stärksten wirkte und die den Erfolg des Buches bestimmen.
Es ist der Ausdruck eines mittleren Zustandes zwischen Hin
nahme und Auflehnung, der einer mittelständischen Haltung
adäquat ist."
Oft werden die zu stabilisierenden Gehalte nicht unmittel
bar beschworen, sondern dadurch indirekt zu bewahren gesucht,
daß man vor der Auseinandersetzung mir ihnen die Flucht
in irgendeine Fremde ergreift. Wenn man die Hände von ihnen
läßt, zerbröckeln sie nicht so leicht. Sie werden unter eine
Glasglocke gestellt, und dann fährt die Herrschaft spazieren.
Ein verlockendes Ausflugsziel ist und bleibt das Erotische.
Von Thieß, der es gern aufsucht, .wird bemerkt: „Ich glaube,
daß viele Leser durch die reichlich einmontierte erotische
Schwüle herbeigelockt werden, gegen die sachlich nicht das
Geringste einzuwenden ist,, da sie zur Darstellung der Grund
haltung an den ihr angewiesenen Ort gehört." Auch geo
graphische Abenteuer sind Zum Teil sicher darum
begehrt, weil sie von den geistigen Meuten, Zu den Autoren,
die sie frei ins Haus liefern, gehört nicht zuletzt Jack London.
Den Ausschlag gibt allerdings bei ihm, der Analyse zufolge,
seine innige Beziehung zur Natur. Sie ist, wie die Er
folgsbücher beweisen, das große Resugium, nach dem sich die
Lesermassen sehnen. Vertrauten sie sich der Ratio an, die mit
der Natur nicht zusamm-enfällt, so wären unter Umständen
ihre Bewußtseinskonstruktionen bedroht; bei dem Rückzug in
die Natur dagegen bleiben alle problematischen Gehalte un
angetastet. Die Natur mag tragisch sein oder dämonisch
gleichviel: sie ist ein sanftes Ruhekissen für alle, die nicht ge
weckt werden wollen. „Die Helden der Zweigschen Novellen
sind Amokläufer, Rasende, Verhexte oder Verzauberte, die,
für ihr Tun zwar nicht verantwortlich sind, aber mit ihrem
Tun doch irgend etwas demonstrieren wollen, etwas Un
bestimmtes, Geheimnisvolles . . Jack Londons Natur meint
es sogar mit den Menschen gilt, sie ist eine ideale Natur, der
er unbekümmert gehorchen darf. Er hat alle möglichen Gefahren
bestanden — „aber es gibt keinen Dämon, der ihn vor sich her-
jagt und ihn, wie die Landstreicher Hamsuns, an den Rand
des Abgrunds bringt; er folgt nur seiner ,Natur'." Sie, die
unergründliche, ist schließlich die Grenze jedes Begründens,
ist stumm. Ein Vorzug, der den Erfolg geradezu garantiert.
Denn nichts wünschen die heutigen Träger großer Bucherfolge
aus Selbsterhaltungstrieb dringlicher als das Versinken pein
licher Fragen im Abgrund des Schweigens. Da sie die Ant
wort mit Recht oder zu Unrecht fürchten, verlangen sie vorge
schobene Barrieren, die den Anmarsch der Erkenntnis ver
hindern. Ihre Forderung lautet: Indifferenz. Sie hat
zweifellos den Erfolg von Remarque beim internationalen
Kleinbürgertum begründet. „Das einzige Gespräch im Buch
über den Krieg", so wird' in der Romananalyse ausgeführt,
„bezeugt jene . . . Indifferenz, die sich damit begnügt zu
konstatieren: ,Noch besser ist gar kein Kriegt Wenn sich irgend
wo Empörung äußert, so richtet sie sich gegen die subalterne
Autorität, und Haß ist nur gegen jene sich selbst einschaltenden
Patrioten in Zivil, gegen einen Lehrer etwa, dem es Löse
vergolten wird, daß er die Ungeeigneten zur freiwilligen Mel
dung hetzt."'
Unsere Analysen ergeben also ein ziemlich umfassendes
Bild von der Bewußtseinsstruktur der neubürgerlichen Schich
ten. Sie machen Stützungsaktionen für gewisse, heute nicht
mehr Zureichend unterbaute Gehalte. Sie möchten auf jede er
denkliche Weise die Konfrontation abgetakelter Ideale mit
der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit vermeiden und ent
ziehen sich dieser Gegenüberstellung durch die Flucht nach allen
Himmelsgegenden und Schlupfwinkeln. Sie lagern mit Vor
liebe am Busen d§r Natur, wo sie sich der Sprache begeben
und sich wider die Ratio zur Wehr setzen können, die auf dir
Tilgung mythologischer Institutionen und Bewußtseins
bestände abzielt.
V.
Wer verändern will, muß Bescheid um das Verändernde
wissen. Der Nutzwert der von uns verunstalteten Serie be
steht eben darin, das Eingreifen in die gesellschaftliche Wirk
lichkeit zu erleichtern.
S. Kraeauer.
amten- und Angestelltenkreisen; an die in der Praxis häufig
wahrnehmbare Preisgabe individualistischer Haltung; vor allem
aber an die Jllusionslosigkeit führender Männer
der Wirtschaft. Eine starke Entzauberung hat gerade an der
Spitze eingesetzt und Ideen, die einmal der Wirtschaft als
Antrieb gedient haben, sind jetzt rhetorische Schmuckstücke in
Feiertagsreden. Der Verzicht auf Gehalte, die durch die heu
tigen Zustände entthront sind, spricht für den Wirklichkeits
sinn der mit geistiger Verarmung Bedrohten. Nur wenige
sehen allerdings über ihre Nasenspitze hinaus. Die meisten
verehren in Kunst, Wissenschaft, Politik usw. Ideale, die sie
auf ihrem eigensten Gebiet längst durchschaut haben
Besagt die (noch dazu nicht klar eingestandene) Demos-
kierung einiger Ideologien etwas für die Schwächung des
bürgerlichen Bewußtseins? Das Verstummen in den Höhen
schichten trägt auf alle Fälle zur Radikalisierung der Jugend
bei. Man lebt nicht vom Brot allein, und dann erst recht nicht,
wenn man keins hat. Auch die Rechtsradikalen haben sich teil
weise vom bürgerlichen Denken emanzipiert, von dem sie sich
schlecht versorgt glauben; im Namen irrationaler Mächte
freilich, die des Kompromisses mit den bürgerlichen Mächten
jederzeit fähig sind. Die größere Masse des Mittelstandes
und der Intellektuellen aber macht diesen mythischen Aufstand
nicht mit, der ihr mit Recht als Rückfall erscheint. Statt sich
durch die geistige Leere, die in den oberen Regionen herrscht,
Zum Ausbruch aus dem Gehege des bürgerlichen Bewußtseins
zwingen zu lassen, sucht sie dieses Bewußtsein im Gegenteil
mit allen Mitteln zu konservieren. Weniger aus positiver
Gläubigkeit als aus Angst. Aus Angst davor, im Proletariat
zu ertrinken, geistig deklassiert zu werden und den Anschluß
an echte Bildungsgehalte zu verlieren. Doch woher die Ver
steifungen für den gefährdeten Ueberbau nehmen? Er enträt
verschiedener materieller Stützen, und die neu entstandenen
Schichten, die sich zum Bürgertum zählen, sind nicht seine
selbstverständlichen Träger. Sie wissen überhaupt nicht recht,
wo sie hingehören, sie verteidigen nur Privilegien und viel
leicht Traditionen. Die wichtige Frage taucht auf, wie sie sich
nun verschanzen. Da sie unter den gegenwärtigen Verhältnissen
die Bestände des bürgerlichen Bewußtseins nicht einfach un
gebrochen übernehmen können, müssen sie auf die verschieden
sten Auswege verfallen, um den Schein ihrer früheren geistigen
Machtposition zu wahren.
IV.
„Analysen vielgelesener Bücher", schrieb ich in meinem
Aufsatz über Frank Thietz, „sind ein Kunstgriff zur Er
forschung von Schichten, deren Struktur sich auf direktem
Weg nicht bestimmen läßt." In der Tat, schon aus unseren
bisherigen Untersuchungen erhält man entscheidende Aufschlüsse
über das Verhalten der in Gärung geratenen bürgerlichen
Schichten. Besonders über die (vorwiegend unbewußten)
Maßnahmen, die sie zu ihrem Selbstschutz
treffen ; denn es darf ja angenommen werden, daß gerade
diejenigen Bücher einen großen Erfolg haben, die solche Maß
nahmen darstellen bzw. unterstützen. Ehe ich die Ergebnisse der
einzelnen Analysen systematisch betrachte, erinnere ich noch
einmal an ihre Autoren. Ueber Stefan Zweig hat Friedrich
Burschell geschrieben, Erich Franzen über Jack London und
Efraim Frisch über Remarque; außer dem Aussatz über Thieß
stammt von mir auch der über den Richard Voß-Roman:
„Zwei Menschen".
Kräftiger Individualismus verbürgt beträchtliche
Chancen. Von den Helden im Voß-Roman heißt es: „Als
zwei ausgewachsene Einzelwesen dienen sie auch dem Protest
gegen die Kollektivierungstendenzen als Rückenstärkung, die in
der Gegenwart nmner deutlicher hervortreten. Sie widerstreben
großen Teilen des deutschen Volkes . . .; jedenfalls beweist
die Wirkung des Romans, daß .Persönlichkeiten' vom
Rangs Judiths und des Paters Paulus mindestens dieselbe
Zugkraft haben wie Porträts von Massenmcnschen". Auch
Thieß und Zweig stellen das Individuum in die Mitte. Wo
es auftritt, ist Tragik unausbleiblich. Sie bettet das
bürgerliche Dasein tief in die. Metaphysik ein und übt daher
auch oder gerade in ihren Zerrformen eine starke Anziehung
auf das Publikum aus. „Der versorgte, verängstigte Mensch
dieser Zeit", wird über Zweigs Novellen gesagt, „und gerade
der Mensch aus den höheren Schichten, der im oft vergeblichen
Kampf um die Aufrechterhaltung seines Lebensstandards seine
Gefühle fast immer verkapseln muß, greift . . t begierig zu
diesen Geschichten, weil in ihnen die Leidenschaften zwar un
wahrscheinlich, aber dafür um so prächtiger und ungehemmter
sich austoben und das private Schicksal noch in der Kata
strophe triumphiert." Da die Mittelschichten ihre Zwischen-
position wohl als Verhängnis empfinden, sich jedoch unter
allen Umständen in ihr behaupten wollen, neigen sie natürlich
dazu, sämtliche Verhängnisse zu tragischen Ereignissen zu
erhöhen.Das Individuum, das, die Idee bewährend, tragisch
untergeht, ist auch ein Bestandstück idealistischer Weltanschau
ung, und so übernehmen die Favoriten begreiflicherweise den
Idealismus. Nicht den echten, der vergangen ist, wohl
aber seine verschwommenen Nachbilder. Bei Gelegenheit der
Prosa Stefan Zweigs muß denn auch festgestellt werden, daß
manche seiner Sätze fraglos „auf viele Zeitgenossen, die um
jeden Preis einen verblasenen Idealismus sich bewahren