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ankommt, der soll sie haben. Rennet aber nicht gar zu
sehr, damit ihr nicht fallet; zum Schnellsein hilft Laufen
allein nicht.“
Die Schwestern giengen an das Ende des Gartens und
Ludwig zählte: „Eins, zwei — drei!“ beide liefen, so schnell
sie konnten; Emma jedoch sah nicht auf den Boden, sondern
nur nach der Nuss. Sie lief schneller als Adelheid; aber
plötzlich strauchelte sie und fiel der Laänge nach auf die Erde.
Ehe sie wieder aufstehen konnte, war Adelheid bei der Nuss
angelangt und hielt sie jubelnd in der Hand.
Emma erhob sich und weinte; aber Ludwig sagte:
„Warum bist du nicht vorsichtig gewesen? Eile mit Weile!
sagt ein altes Sprichwort; das merke dir!“
85. Ich mag nicht lügen.
Georg hatte von seinem Vater ein schoͤnes Messer
zum Geschenk erhalten; seine Freude darüber war groß.
Eines Tages trat er in den Garten und wollte sich über—
zeugen, wie scharf das Messer sei. Da stand ein junger
Kirschbaum, dessen Stamm fingerdick war. Georg nahm sein
Messer und schnitt das Bäumchen durch.
Tags darauf kam der Vater in den Garten, und als
er das schöne Bäumchen am Boden liegen sah, rief er
unwillig aus: „Wer mir das gethan hat, der soll mir's
büßen!“
Aber wer es gethan hatte, das wussste kein Mensch —
außer Georg. Als der hörte, wie der Vater zürnte, wurde
er feuerroth und dachte: Da hab' ich was Schlimmes an—
gerichtet. Nun wird der Vater kommen und mich fragen.
Wenn ich sagte, „ich habe es nicht gethan“, so wäre es
eine Lüge, und lügen mag ich nicht.