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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.03/Klebemappe 1923 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Bergpredigt und moderne Kultur. 
--- Dr. Johannes Müller gab in seiner Ansprache am 
Dienstag Abend eine Deutung der B e r g p r e d i g t in esckaw- 
logischem Sinne. Den Gegensatz zwischen ihr uvd unserer Kultur, 
ja soear dem geliebten Christentum hervorhebend, betonte er sehr 
entschieden, daß sie weder Sittengebote in sich begreife, die für alle 
Menschen verbindlich seien, noch irgendwie idealistisch aufgefaßt 
werden düxfe. Sie ist, wie er in immer neuen Wendungen zu 
klären suchte, nicht Moral, sondern das Ende der Moral, die Er 
lösung von ihr; auch gilt sie nicht ollen Menschen schlechthin, 
sondern nur den AuserwählLen, die durch die eure Pforte ein 
gegangen sind. Als Botschaft vom Reiche Gottes kündet sie ein 
neues Sein, das im Gegensatz steht zur Gerechtigkeit der 
Schriftgelehrten, zu den starren Moralgesehen der noch im Dies 
seits verhafteten Menschen Zu diesem neuen, verwandelten Sein 
gelangt man nur durch das Sterben an sich selber, und nimmer 
mehr kann es der Mensch von sich allein aus erraffen. Erst wenn 
er auf dem schmalen Weg zum Reiche völlig scheitert und fein Selbst 
ganz preisgibt, mag göttliche Barmherzigkeit ihm reue Pforte 
öffnen, die Einlaß gewährt. 
Nur kurz verweilte Dr. Müller bei der Betrachtung der 
modernen Kultur. Sie ist zertrümmert wie der Turmbau'von 
Babel und auch der moralische Ruin scheint unaufhaltsam. Was 
hat in solcher Zeit die Bergpredigt zu bedeuten? Gerade s i e soll 
heute Evangelium sein. Sie lehrt vernehmlich, daß die Neuwr- 
mung des Chaos nicht rein Menschenwerk ist, sie heißt die Ver 
zweifelten sich umstellen auf das Reich Gottes, Nicht um Religion 
gebt es hierbei, sondern um mehr: um das Sterben und die 
Wiedergeburt des ganzen Menschen — Die Worte Dr. Müllers 
hatten Gewicht, weil sie Erfahrung und Widerfahrenes bezeugten. 
Zu wünschen wäre vielleicht gewesen, daß er, das paradoxe Ver* 
hältnis zwischen Moral und Üebermoralischem neuem Sein voll 
aufrollend, der Moral mehr gegeben hätte, auch durfte man wohl 
ein ausführlicheres Verweilen bei der aktuellen Gegenwart er 
warten, ober das allein Wesentliche: der Hinweis auf das „Sterben 
an sich selber" trat doch bestimmt und unmißverständlich hervor. Lk 
Die erste Groß-Ailmbühne. 
Das Schumann-Varietö ist tot — es lebe dasSchumann- 
Großktno! Zur Eröffnungsvorstellung fahren b.ruos in langer 
Reihe r-or, und viele Hunderte, die keinen Platz mehr erhallen, 
kehren voller Enttäuschung um. Junen Guirinndenschmuck, Suche 
nach einem leeren Plätzchen, festlich erregtes Haus. Wie bemerkt 
I doch Schieber Neuruann in Kaders „Nebeneinander" sehr richtig 9 
> kx Kmo tux! 
Der Vorhang zieht sich zurück und enthüllt die weiß gähnende 
Fläche. Ehe sie sich belebt, taucht Robert vom Scheid; vbr ihr 
auf und gibt mit seinem mächtigen Bariton, der een ungeheuren 
Raum mühelos bezwingt, den „Bajazzo"-Prolog Zum besten. Nach 
dem oielbeklatjchten Präludium hat der Film — wenn man so 
sagen darf — das Wort. In Deutschlands nunmehr größtem 
Kmotheater produziert sich Jackie Coogan, Amerikas kleinste 
Kinogröße. „Das Zirkuskind', so heißt die Filmschöpfung, 
in der dieser „liebe kleine Junge" seinem Vaterlands auf der 
ganzen Linie zum Sieg verhilft. Eine rührende, gar sehr rührende 
Geschichte, die das gute amerikanische Herz bezeugt. Die Mutter 
des winzigen Jungen leb; bei ihren Verwandten, wo siemicht wohl 
gelitten ist. Jackie wendet die Not. Er verdingt sich im Zirkus 
als Eiscreme-Boy und schickt seinen sauer verdienten Dollar 
wöchentlich nach Hause. Durch seinen Augenaufschlag und seine 
schelmische Grandezza bestrickt er die Welt aus und vor der 
Leinwand — nicht zuletzt die kleine Schulreiterin Baöette 
und den gewaltigen Zirkusdirektor, der ihn auf einen impro 
visierten Erfolg hin mir 7Z Dollar die Woche engagrert. 
Auch diese schickt der brave Boy postwendend seiner Mutti und 
eines Tages erscheint er schließlich selber im Riesenauw mit 
Babette und dem ihm befreundeten Clown, packt stolz die Mama 
auf und fährt mit ihr in eine unbeschwertere Zukunft davon. 
Der Film findet jubelnden Beifall und in der Tor: manche Szenen 
sind von erschütternder Komik, die Nachtaufnahmen der im Ge 
witter dahinstürmenden Zirkuswagen mit ihren Wouvermann- 
Schimmeln suchen ihresgleichen und welcher Hartherzige wollte am 
Ende dem süßen Knirps und seinen kindlich-bravourösen Taten 
widerstehen? Zumal bei einer musikalischen Begleitung, die mit 
Unterstützung von Haydn, Mozart, Beethoven, Reger dem ameri 
kanischen Ereignis gewissenhaft sekundiert? Kurzum: der Erfolg 
des neuen Frankfurter Großkinos im Zeichen dieses deutsch-ameri 
kanischen Bündnisses ist unbestreitbar und erweckt gute Hoff 
nungen auf künftige volle Häuser, die dem wagelustiaen Unter- 
i nehmer Wohl Zu gönnen sind. 
Die Mkm als LarMister 
— Im Erdgesckoßsaal des V ö l k erm u s eu m s, der seine 
AuLsiellunq türkischer Architekmramnahmen beherbergt, sprach 
Dr. Katl Klinghardt auf Einladung des Frankfurter Archi 
tekten- und Jngenieurvereins über die bauschöpferischen 
Fähigkeiten derTürken. Er legte die Einsiciit zugrunde, daß für 
die Baukunst eines Landes nicht ohne weiteres der einheimische 
Techniker und Künstler an erster Stelle maßgebend sei, sondern oft 
aenuq der starke Wille des Bauherrn, der die große Leistung er 
zwing». Als Bauherren nun haben die Türken mächtige Impulse 
gegeben. Kaum den Nomadenzelten entronnen, drangen sie nach 
dem Bosporus und den Dardanellen vor und fließen hier auf die 
byzantinische Kultur, die seit Jahrhunderten keine bedeutenden 
Bauwerke mehr hervorgebracht hakte. Unter dem Einflüsse der 
osmamscken Eroberer erst entwuchs dem brachliegenden Lande 
neue Frucht. Sie siedelten in ihren Residenzen griechische, persische, 
seldschuUiche Künstler an, die ihrem Willen Gestalt verleihen und 
durch die Errichtung gewaltiger Bauten der Verherrlichung ihres 
Ruhmes dienen mußten. Eines brachten sie freilich selber mit: die 
Begabung auf dekorativem Gebiet, die ihnen wie allen 
Orientalen ursprünglich eignet. Ihr Sinn für das ornamcmale 
Gebilde ist so ausaeprägt, daß sie durch den Anblick einer lchönen 
^eppichverschlinaung in eine ähnliche Stimmung versetzt werden 
mögen wie Euroväer durch das Anhören guter Musik. Von solcher 
Neigung zeugt ihr Kunstgewerbe nicht minder wie die Aus 
schmückung ihrer Bauten, bei Henen das Dekorative entschieden 
überwiegt. , - . ..., 
Nachdem der Redner im Zusammenhang unt diesen allge 
meineren Bemerkungen kurz die einzelnen Bauthpen!gekennzeichnet 
halte, deren wir bereits in dem Bericht über seine Ausstellung ge 
dachten (vergl. die Notiz „Türkische Architektur" im Abendblatt 
vom 3. Dezember), ging er zur Beirachtung der gegenwär 
tigen Verhältnisse in der Türkei über. Als technisch wenig be- 
qabtes Volk haben die Türken vor dem Krieg sich ihre Ingenieure 
aus Europa verschrieben. Diese Einspannung fremder Kräfte ist 
aber in dem Zeitalter des modernen Verkehrs nicht so ungefähr 
lich für sie geblieben wie in der Vergangenheit. Denn einmal 
haben die europäischen Kapitalisten bald eine Vormachtstellung in 
dem Land errungen, dem sie scheinbar dienten, und zum andern 
bedroht die schnelle Industrialisierung die türkische Rasse physisch 
und psychisch geradezu mit dem Untergang. Aus dem Wissen um 
diese Gefahren heraus setzen jetzt die Türken nach ihren neuerlichen 
gewaltigen Erfolgen der Fremdherrschaft und der weiteren Techm- 
sirrung einen Widerstand entgegen, der als ihr gutes Selbst, 
ephaltungsrecht zu begreifen ist und keinem Europäer Anlaß geben 
sollte, sich über sie zu erheben. Wir Deutschen, die wir nicht Aus 
beuter sind, können nur damit einverstanden sein, wenn etwa die 
l Bauten, die in der neuen Hauptstadt A n g o r a über kurz oder 
lang erstehen müssen, von türkischen Architekten in türkischem 
I Sinne errichtet werden. ' 
- lPaul Fechter: „Die Tragödie der Architektur".! 
Das mit neun vorzüglichen Tafeln aus gestattete Buch Fechters 
(erschienen bei Erich Lichtenstein in WeiMr) begreift den archi 
tektonisch gestalteten Raum als Ausdruck und Sinnbild des ihn 
gestaltenden Geists und liest demgemäß an der Geschichte der 
Architektur die Geschichte menschlichen Geistes ab, zahlreiche Be 
ziehungen zwischen ihnen erb?üend Es ist insofern ein echtes 
Dokument unserer Zeit, als es von UntergangSstinmmnq getragen 
wird und das Gewesene in einer Weise zusan-nnenschaut und 
psychologisch deutet, wie nur der von ihm Abg-elöste. der schaudernd 
am Ende Stehle es vermaß. N'mmt man diese Halftmq der 
Neroanaenste-'t gegenüber in Kauf ist man v?n vdcherck 
daß die ihr entwachsende« geschichtsphilofophisch 
Einsichten nicht allzusehr belastet. werden dürfen, so wird man 
die geistreichen RaummMysen gerne guthechen, zumal sie nebenbei 
noch die Wssion erfüllen, deutsche Augen zum Verständnis archi- 
Manischer Gebilde zu erziehen. Die bei der ägyptischen Kunst an 
hebenden Betrachtungen suchen gleichsam Wesensformeln für den 
geistigen Sinn der jeüer großen Kultur-Epoche zugeordneten typi 
schen Raumausfassung Zu gewinnen, um dann von diesen Formeln 
aus den Gehalt der einzelnen exemplarischen Architekturwerke zu 
erschließen Während etwa von dem ägyptischen Raume ausgesagt 
wird, daß er als anorganische, abstrakte Gestaltung die organische 
Natur verneine,.'gilt der griechische als Symbol des Gleichgewichts 
zwischen Mensch und Welt, der römische als Raum der Leere und 
profanen Zwecken Untertan Es reiht sich an die Deutung der 
zuerst in romanischer Baukunst sich verkörpernden germanischen 
RaumkonZeption, die in den Schöpfungen der Gotik dem Verfasser 
zufolge das Gleichgewicht der. Nauw.koordmaten aufheöt und eine 
durchaus antiräumliche Gesinnung bekundet. Mit der Gotik be 
ginnt der Abstieg, der Bezug aufs Transcendente, der ihr den 
Austrieb erteilte, bedarf keines räumlichen Ausdrucks mehr, da der 
frei geworden- Geist sich ganz irs Innere Zurückzieht. Daran ändert 
die Gegenbewegung der italienischen Renaissance ebensowenig wie 
der Barock, dessen prunkvolle irdische Räume nur das „rauschende 
Sterbelied" der Architektur sind. Ob das Erlöschen der Symbol- 
fLH'.gkeit der Architektur, das Fechter sehr ungenau ihre „Tragödie" 
nennt, endgültig sei. oder moderne Zweckbautm und Städtebau 
kunst einen neuen Anfang bezeichnen, bleibt offene Frage. Dir 
den Ausweis dieser großen Zusammenhänge begleitenden Sinn 
erläuterungen bedeutender Bauwerke machen den besonderen Wett 
s des Buches aus» Tr.
	        
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