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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.04/Klebemappe 1924 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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darüber aus, daß es gelungen sei, in diesen fünf schweren Jahren' 
das Gemeinwesen im großen und ganzen so zu erhalten, wie 
man es übernommen habe. Es komme darauf an, in stiller Arbeit 
weiter Zu wirken. Weder Ludendorff noch Lenin könnten uns >me 
Rettung bedeuten; es komme vielmehr darauf an, sich praktisch 
und nüchtern auf den Boden der wirtschaftlichen 
Tatsachen Zu stellen, (Lebhaftes Bravo!) 
StaLLv. Dr. Kercher (Air.), der ebenfalls die Aufstel 
lung des GoldetatH anerkannte, brächte vorwiegend E i n - 
zelanlieZen vor. Er wünschte dringend, daß die städtischen 
Elektrizitätswerke ihr VertragZgebiet ausdehnen und forderte auf 
dem Gebiet des Verkehrswesens, zumal den Ausbau deZ Straßem 
bahnnetzes. Ferner sprach er sich Zugunsten bor kleinen Sparer aus 
und empfahl auch Berücksichtigung der Erwerbslosen an. Von 
seinen übrigen Wünschen sei noch hrrvorgehoben, daß er dem Ma 
gistrat eine bessere Behandlung der Stadtverordnetenversammlung 
nahelegte, schleunige Durchführung des Brückenbaues und geeig 
netere Räume für die S ch u lki n d e r sp e i s u n forderte 
usw. Zum Abbau bemerkte der Redner, daß den Nichibeftoffemn 
dre Verpflichtung Zuwachse, den Entlassenen und Bedürftigen tat 
kräftig Zu helfen. 
Stadtn Landgrebe (Lib.) erkannte die rechtzeitige Ein 
bringung des Goldetats mit Befriedigung an. Der Etat verpflichte 
dazu, Einnahmen und Ausgaben aufs genaueste zu errichten; er 
verpflichte ferner, weil die Zuschußwirtschast aufgehort habe, und 
nun die stabile Währung aufrechterhalten werden müsse. Der Etat 
Die Astsrig-Mhue. 
Da wir den Faschingsdienstag noch in den Knochen spürten, 
besuchten wir am Aschermittwoch die Ast o r i a- B üh n e. Haupt 
sächlich aus Pflichtgefühl gegen Me „Naturaeietze Denn, io 
es doch, die Natur macht keine Sprunge, sie kennt nur die langen 
organischen Uebergänge Wie also? Wäre es mcht ^revel ge- 
! Wesen zu plötzlich aus unserem Lebenswandel herauszusprmgen. 
- Wir Zogen es vor. natürlich zu beiden und auf dem Umweg ub^r 
das Kabarett organisch ins Bert ü^ , , .. 
Die Sache begann damit, daß der Conferencier eigentlich mn 
Conferencier ist, waS nicht, wie wir anfänglich vermuteten, auf 
Sinnestäuschung berühre, sondern schlichte Wirklichkert war unv 
bleibt. Nein. Henry Lorenzen ist eigentlich etwas ganz 
anderes als ein Conferencier, aber er kann auch, was er nrcyt rst, 
und zerrt den Klepper Publikum nett und lustig von Nummer Zu 
Nummer fort- Das Amt wächst eben mit dem Vechano und wer - 
den Faschinasdimstag im Blut hat, treibt den Aschermittwoch aus 
den Gliedern. 
Ria Rie ck, die den Reigen eröffnet, stellt mehrere Tänze auf 
die Beine, oder vielmehr: sie stellt nicht, sondern hupft wie ein 
Füllen jung und ungeberdig auf der Weide umher, unser Kater, 
der offenbar an Füllen nicht seine Freude hat, kommt dabei ganz 
auf den Hund und schleicht sich betrübt davon. Man ftM in oer 
! Zoologie nie ganz aus« 
bau zu Lasten unsrer Arbeiter Anoestellten und Beamten. Darum 
ist der Etat ein fiktiver, denn es ist auf die Dauer unm Sqlich 
mit so gedrückten Gehältern zu arbeiten. Der Ve-rnol- 
tunoSovvärat muß unbedingt verkleinert werden; freilich l^n 
das nur »rqanisck qesKeben, nickt gewaltsam, wie man bis 
her vorgeaanasn ist Mr allem wird d'irck eine 
systematische Konzentration der Verwaltung 
manches zu erreichen sein. Gegen Stadtverordneten 
Heißwolf erklärte der Redner, daß seine Ausführungen 
durch die Steuergesetzgebung längst überholt seien. Im Vorjahre 
habe man als einzige ertragreiche Steuer die Gewerbesteuer 
gehabt; man könne wohl sagen, daH die Einnahmen hauptsächlich 
aus Handel, Gewerbe und Industrie zusammengek-m- 
men seien. Was die ErundvermSgenstsuer betreffe, so hab- man 
ihr zuacstimmt, um den Zusammsnbruch d«: städtischen Fin-amen 
zu verhüten. Jetzt werde die Frage ihres Abbaues aktuell. Den 
HauSbesitz heute noch mehr zu belasten, dagegen sprecyen die 
schwerwiegendsten Bedenken. Im übrigen sprach sich der Redner 
für äußuste Vereinfachung des Steuerwesens aus. 
Geoen den Schuldendienst bezeige er eine gewiss? Reserve. Dre 
Stadt Frankfurt habe bisher einen blanken Ehrenschild als Schuld 
ner asbabt, auf den sie ackten müsse. Es erschein« darum dringend 
notwendig, die städ'isch'n Anleihen zu konvertftr-n und 
in ein- einzige Goldanleihe umzuwandcln. Die KriegSwlrtscha,rs- 
ämter seien zu liquidieren, auch das Wohnungsamt. Zur Forde 
rung des Wohnungswesens müsse die Zwangswirtschaft aufge 
hoben werden. Die Ruinierung des Hausbesthes, dem man die 
ihm zukommenden Meten vorenthalten habe, fei ein« unmora 
lische Politik g-wesen Das Bauen scheitere vor allem,-m 
dem mangelnden Kredit Der Redm- schlug vor das städtnche 
Hvpothekenamt zu einer zentralen Vermittlungsstelle 
für die Beschaffung von Bougeldern auszugestalten. 
Wien könn« uns hierin kein Vorbild sein, da es unter ganz an 
deren Bedingungen steht. Bei den sozialen W o h l fa h - - S- 
«in richtun gen, die natürlich zu unterstützen seien, können 
vielleicht durch'fruchtbare Organisation manche Ersparnisse erzielt 
werden Für die Zwecke der Erwerbslwen sei wohl die Schmr-ng 
eines SpezialsondS zu empfehlen, zu dessen Sveisung auck d,e 
g-oßen Betriebe heranqezogen werden könnten. Auf dem Gebiet 
des Gesundheitswesens sei wohl auch an größer? Konzentrinon 
durch Vereinigung von Instituten, Kliniken usw. zu denken- An 
d-r Jugend dürft nick« acspart w-rden, freilich gelte es, unnuhe 
Ausgaben nach Möglichkeit zu vermeiden. Die Bestr-bungen zu- 
Erhaltung und Verschönerung der Altstadt hob der Redner der 
der Erörterung be^ Kultur- und Bildunqswesens besonders rüh 
mend hervor 'Zum Schluß drückte der Redner seine Genugtuung 
Dem Vorhang entsteigt dann gravitätisch der LauLensänger 
Paul Roland, und uns wich Lalladesk Zu Mute. Er ist Wander- 
bursch und Landsknecht in einer Person und beschwört den Geist 
sämtlicher Zecher von den Kavalieren auf Ekböe bis zu Frank 
Wedekind herauf. Wir lassen durch seine bösen Beispiele unsere 
guten Sitten nur allzu willig verderben. 
Woldemar Sacks ist den_ Frankfurter such in diesem Monat 
treu geblieben. Der Flügel ist mit ihm verbunden wie ein Lebe 
wesen dem anderen, sie scherzen zusammen und verstehen sich in 
jeder Lebenslage. Auf freundlichen Zuspruch des Meisters hin ver 
wandelt sich das Zauberinstrument in einen Leierkasten, oder m 
eine menschliche Smgsümme, oder gar in eine Nähmaschine, die 
Melodien an Melodien flickt. Die Leiden Gefährten find noch 
etwas von der vergangenen Nacht mitgenommen, und da ist es kein 
Wunder, daß in eine ungarische Rhapsodie von LiszL mit inem 
Male als „äeus ex Walzerklänge hineingeraten. Sie 
lieben überhaupt den Walzer, die beiden Junggesellen, zumal den 
altmodischen Wiener, und werden ganz sentimental, wenn sie s.Lner 
gedenken. Aber das Gespräch gleitet schnell weiter, un-d bald 
mokiert man sich einträchtig über eine kleine Klavierschülerin. die 
sich beflissen müht, oder über ein verstimmtes Piano, das in irgend 
einer Bierstube zu Leipzig Zlbend für Abend zu neuen Missetaten 
und -tönen aufgereizt wird 
An das Duett schließt sich ein Tanztrio der beiden Don 
Alfonsos und d^r Loni L i st- Das ist nicht Schlesien, sondern 
innerstes Rußland: 'Lieb es werben im Kaukasus, Nationaltracht so 
echt wie Geberde. wildester Rhythmus verkörpert mit flämisch un 
erschütterlicher Miene. Gewiß, so g-eht es in der Steppe zu, und 
man möchte ein Gogol sein, um auszudrücken, was man fühlt. 
Die VortvagZkünsÜeftn Toni v BukovicZ versetzt wieder 
nach Westeuropa in die Gefilde der Großstadt zurück. Sie verfügt 
über das grelle Lachen des Clowns gbeich sehr wie über die 
leichten, um nicht zu sagen frivolen Töne der Dame von Welt. 
Auch das urbayrische Idiom bringt sie ohne Hitlerschen Nach 
geschmack heraus. 
Nach der Pause führt Henry LorenZen sich selber ein und 
zeigt sich endlich, wie er in Wahrheit ist. Er ist aber jedesmal 
der, in den er sich verwandelt. Zunächst ein junger Mann in 
einem Restaurant, der mit der Gabel in den Zähnen stochert, einem 
unsichtbaren Hündchen unsichtbar^ Knochen zuwirft und Kirsch 
kerne, die nicht vorhanden sind, graziös in die Luft spuckt; dann 
ein Chansonnier, ein Tänzer und der Superlativ eines Komikers; 
schließlich ein Zauberkünstler, der etwa seine Finger hinter der 
Handfläche versteckt und Zu dem Bekenntnis Zwing:, daß dieses 
höchst natürliche Ereignis ein Wunder sei. Jeder Zoll ein Vojas, 
' empfindet er ersichtlich selber das größte Vergnügen darüber, daß 
er so drollige Gestikulationen vollbringen kann und darf. 
! In Annemarie Hase ersteht Zille und Groß-Berlin. Sie 
- berichtet der Provinz auf echt Berlinisch von Fräulein Raffke und 
lerzählt^eine Moritat aus der Gegenüber AckersLrgße, Lei der er 
Das Frankfurter Adreßbuch 1924. 
» Das Frankfurter Adreßbuch für ISA ist erschienen wo 
klangt w der Expedition Kronprinzen^. 6, II. rn der Zert von 
9 Ubr vormittags bis 4 Uhr nachmittags zur Ausgabe. Don den 
Vorbestellern kann daS Adreßbuch gegen Aushändrgung der ihnen 
S Ui aaetqlganuansngenin Ä E uS m w pefa i sn k gar t egennoamc h men V ow llz e i red h e u nngEi d neer beschrankte 
Satlgung in Empfang genommen werden. Eine beschrankte 
AnM allerer StMpläne sind zum Preise von 2 pro Stuck 
Zur Ausgabe des neuen Adreßuchs wird uns geschrwben: Das 
Adreßbuch bietet einig« unangenehmeU sb erraschun gen. 
Schon sein obgemagertez Aeußese verrät, daß es an innerer Fülle 
verloren hat. Und in der Tat: schlägt man es auf, so wird man 
gewähr, daß wichtige Kapitel ernfach ausgeschre- 
de n worden sind. Vor allem fehlt das für den Benutzer unent 
behrliche Verzeichnis der Straßen mit sämtlichen GrundsruMn wo 
Bewohnern; an seine Stell- ist eine nur »wer Selten umfassende 
Strahentabells gerückt, mit der man so gut we Mir nMS anfangen 
kaum Auch das sehr zweckmäßige VnzeichmS d-r PostscheMmden 
ist der Einschränkung »um Opser gesoffen. Schließlich hat man — 
und das ist vielleicht dar unbegreiflichste — die Umgebung 
Frankfurts ganz gestrichen, sodaß die 28 Nachbarorte 
im Adreßbuch überhaupt nicht mehr vertreten sind. Die Allgemem- 
-heit hat ein Recht darauf, zu erfahren, welche Grunde zu 
dieser einschneidenden Reduktion geführt haben, die den Erforder 
nissen des Verkehrs geradezu zuwiderläust^ 
den redlichen Bürger kalt überrieselt. Auch RinLelnatzLns „Ge 
seires einer Aftermieterin" wird durch die Monotonie ihres Vsr- 
trags zum Ereignis. , 
Die letzte Steigerung bringt KarMen ELtlinger. der .äugst 
Bekannte und Vertraute, der eigene Produktionen rentiert. Wenn 
man, wie ex behauptet, eine Frau -daran erkennt, daß sie unweiger 
lich die Pointe einer Geschichte verfehlt, so beweist er selber ein 
Mannestum jedenfalls oadmrch daß er stets m§ Schwarze des 
Punktes trifft. Anfänglich noch gleichsam mit Vor- und Zu 
namen behaftet, enthüllt er nach und nach immer reiner üne 
Karlchen-Natur Unverfälschte Frankfurter Klänge entringen sich 
seinem Organ, wenn er die Vawrstadt preist, und wer sreur sich 
nicht innig, daß Schneewittchen in unseren Mauern geboren ist 
und den Vrinzen von Offenbach zum Manne .gewinnt? 
Zum Schlüsse beweisen die Don Alfonsos noch, daß sie nicht 
nur Russisch können, sondern auch mit Step und Shimmy auf 
- vertrautem Fuße tanzen- Dann beginnt die allgemeine Tanzerei 
vielmehr: sie beginnt nicht, denn alles ist müde und Zvtrm^ sich 
! schnell nach Haus. Die Natur fordert, wie es an dieser Stelle 
heißen mag. gebieterisch ihre Reckte, und der übergangene Nscher- 
mittwoch^äßt nicht mit sich spaßen. rme.
	        
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