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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.05/Klebemappe 1926 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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Zur Recklinghauser Sondertagung des Verbands 
katholischer Akademiker. 
(Von unserem Sonderberichterstatter.) 
ILr Recklirrghauserr, 28.—81. Dezember. 
Der Kongreß, zu dem der Verband der Verein« 
katholischer Akademiker nach ReKinghausen geladen 
hatte, sollte laut Programm die gegenwärtige BildungS- 
kris« mit besonderer Rücksichtnahme auf die künftige AuS« 
gestaltung des höheren Schulwesens vom katholischen 
Standpunkt aus beleuchten. Er beleuchtete indessen nur die 
Krisis, in der sich der deutsche Katholizismus befindet; nicht 
einmal die Krisis eigentlich, sondern die Ohnmacht der Position, 
hinter der sich ein guter Teil des Klerus und der Laien heute 
verschanzt. Die Enttäuschung war umso größer, als man der 
Wahl des Tagungsortes inmitten des rheinisch-westfälischen 
Industriegebiets eine symbolische Bedeutung hätte zutrauen 
dürfen. 
Das Gesicht des Kongresses wurde durch die Verfechter des 
Gedankens der kirchlichen Universalkultur geprägi, 
die schon zu Dantes Zeiten keine unbezweifelba« Wirklichkeit 
aewe en ist. Immerhin besaß der Gedanke damals eine Realität, 
die er zum mindesten eben so sehr seiner Verwurzelung in den 
faktischen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen wie der 
Tatsache dankte, daß die Kirche im Mittelalter die alleinig« 
geistige Bildnerin war. Man mag es ansehen, wie man wU, 
daß inzwischen die menschliche Vernunft sich autonom gesetzt 
s hat und jene stabilen ökonomischen Zustande, denen noch die 
summn des Thomas entsprach, dem Kapitalismus gewichen 
sind; aber gewiß bleibt dennoch, daß mit dieser Veränderung 
/ , r. 
Verlm: 
L^E,'^ Berlin, am 1. Januar. 
Lange vor Silvester schon Hai sich die Erregung an gestapelt, weil 
die Leute recktz-eMg für ihren Betrieb sorgen mchien. Ihr Beruf als 
Berliner Zwingt sie dazu, auch wenn sie einen anderen nicht haben. 
Die Theater.erwecken alte Possen durch die neuen Stars zu 
Premieren — im Staatstheater das „Weiße. Rößl" mit der 
Sträub, die. Bergner in der Muiggrätzer Straße in einem Nestrsy- 
Schwank. Seit vorigem Silvester bereits alles ausverkaust, das 
Publikum ist es sich schuldig; es lebt nur einmal. Mau beginnt 
also mit dem ungefüllteren Variete, an dessen Fassade der riesige 
Weihnachtsbaum immer noch, leuchtet. Er soll auch in Silvester 
Stimmung versehen, die Direktion deutet ihn aus. Jongleure jong 
lieren, Argentinier sind feurig, Japaner schlagen Räder durch die 
Luft bis nach Amerika. Es ist gar nicht wahr, daß sie immer 
lächeln; auch nicht stereotyp. In Leu. -großen Hotels wird, zu 
größeren Preisen weiter gefeiert: das trockene Kuvert zwischen 
dreißig und vierzig Mark. Irgendwo muß umn Eingehen können. 
Den minderen Schichten läuft ein Gruseln über den Rücken/ das 
ihnen die Freude an ihrer w.sttstädtischen . Existenz erhöht. Als 
Familien und paarweis türmen sie sich in den Lokalen, die Paläste 
sind. Eifrig bemühen sie sich um ihr Amüsement, so schwor es 
ihnen auch wird; niemand hielte sie für Berliner- Sie sind einzig 
in der Provinz, in der sie sich allein glauben, weil sie zu klein ist. 
Der Verkehrsturm hat die ganze Nacht hindurch Arbeit, Silvester 
gibt seinem Dasein erst Sinn. Um zwölf Uhr reißen -die Privat 
gesellschaften vom Wedding bis zum .Kurmrsroudamm die Fenster 
auf und beschwören das neue Jahr ohne Unterschied der Dwi- 
dende. Ein junges Mädchen im Bayrischen Viertel versichert, i 
daß man sich auf der Friedrichs jetzt küsse — alle Menschen 
würden Brüder. Man traut ihrer Unschuld nicht um rollt über 
Lichtreklamen dorthin; auf Lichtschuhen, amerikanisch. Fastnachts 
treiben herrscht, von der Leipziger Straße über die Linden hinaus. 
Die Bürger mittleren Geblüts stauen sich kostümiert, um sich an 
ihrer Menge zu ergötzen und unvorsichtige Zylinder zu beglück 
wünschen. Auch die Schutzleute werfen Papierschlangen von den 
Gäulen und erbauen sich an der Ordnung, nicht von ihnen gestiftet. 
Bekümmert gedenkt man der Provinz. Wo ist sie hingeraten? Keiner 
weiß es. Rechts und links der Friedrichstraße die" Straßen sind 
leer. Wie in Neapel, wo nur die ihrem Heiligen geweihte Gasse 
an seinem Namenstag jubiliert. Jede für sich, Das junge Mädchen 
fühlt sich bestätigt, dem Gassenheiligen wird mit innigem Knallen 
gehuldigt. Wieder .zurück zum Bayrischen Viertel, mitten in ein 
Künstlerfest hinein. Fasching auf Vorschuß, über allen Wipfeln 
Boheme. Auch in den Ecken. Das Lokalkolorit; das je nach dem 
Zirkel verschieden ist, bleibt sich überall gleich. Die Autos erleben 
Triumphe, man zerrt sie sich aus den Händen. Oft Platzt ein Reifen 
vor Stolz, aber auch die Untergrundbahn ist da. Gegen fünf Uhr 
wird es populär, lauter Bevölkerung auf dem Potsdamer Platz, 
Jünglinge von Tietz. Josty hat sich zurückgezogen, in den anders 
Cafes döst man sich durch. Eine Königin im Similidiadem tanzt 
mit einem Schlafburschen; sie ist rosa, er asphaltiert. Die Familien 
brechen auf, zufrieden, daß sie sich amüsiert haben und es jetzt nicht 
mehr brauchen. Auf den Straßen werden heiße Würstchen impro 
visiert. Es ist worden spät, selbst die vereinzelten Damen trifft 
man nur noch vereinzelt. Auch der Betrieb muß einmal ausspannen. 
Allein die Lichtreklamen, von allen verlassen, kreisen mit einigen 
Betrunkenen unverdrossen dem Aschernnttwoch entgegen. 
,z. 
dem Gebäude der kirchlichen Gesamtkultur das tragende Fun 
dament entzogen ist. Die Verselbständigung des Weltlichen hat 
den kirchlichen oräo gesprengt, und die Auflösung d«S Stünde- 
Wesens, das ihm die Stütze bot, läßt sich nicht rückgängig machen. 
Es heißt dieZeitge,bundenh«it der universalistischen 
Konzeption des Mittelalters übersehen, wenn man auf katho» 
lischer Seite unbewegt an ihr festzuhalten trachtet, als ob nichts 
mittlerweile geschehen sei. Eine Starrheit, die davon zeugt, 
daß man die Kirche als Heilinftitution mit der Kirche als 
weltlicher Institution zu identifizieren gewillt ist; denn nichts 
anderes kann die Behauptung oder das Postulat des kirch 
lichen Universolismuz besagen. Die theologische Auseinander 
setzung mit dieser religiös fragwürdigen Auffassung, — frag 
würdig darum, weil sie Kirche und Welt unzertrennlich mit 
einander verquickt, — muß den Katholiken überantwortet wer 
den Ihre gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen be 
treffen die Öffentlichkeit. 
Sie traten während des Kongresses sichtbar zutage. In 
der sicheren Hut, in der man sich glaubte, bekümmerte man sich 
überhaupt nicht um die Welt, wie sie heut« ist, sondern forderte 
zumeist ungesäumt, ohne den Gründen und dem Sinn der 
^Wungskrisis nachzufragen, dir Verwirklichung des eigenen 
-öudungSidealS, das man als einziges Heilmittel der Zeitnöte 
hinstellte. Als bestehe die alte Universalkultur fort, aus der 
man nur zu schöpfen brauche, um die Durchsetzung des Ideals 
sogleich zu ermöglichen, als verlange die Welt in ihrer wirt 
schaftlichen Bedrängnis zuerst nach erneuter Einbeziehung in 
den kirchlichen Ueberbau statt nach profaner Meisterung. - 
Der recht eigentlich unkatholische Mangel an Realitätssinn 
rächte sich, sobald man zur Entfaltung des prätendierten M- 
dungsideals schritt. Wo man es etwa mit der Befangenkeit 
jenes Universalismus aufstcllte, erwies es sich dem Kundigeren 
! von vornherein als eine Illusion. Eine Illusion, die nicht 
! selten zu einem Aburtellen über die Welt verführte, das mit 
l „beschränkt" bezeichnet werden muß, wenn der Ausdruck „lieb 
kos" vermieden werden soll; der Pater Momme Nissen, 
ein Freund des Rembrandt-Deutschen, sprach von dem Teuf- 
^lisch-n und Tierischen, das für viele moderne Menschen im 
Zentrum stehe. In jenen anderen Fällen ober, in denen man 
vorwiegend auf die praktische Bedeutung des autschtbonen 
Blldung§id«üS hinzielte, enthüllte es sich unzweideutig als 
Ideologie des gebildeten katholischen Mittelstandes, der 
das Hauptkontingent der Besucher stellte. Er vertrat mit Anteil 
nahme eine Weltanschauung, die ihm zugleich feine sozial« 
Position zu gewährleisten scheint - eine prästabilierte Harmonie. 
Sie wäre ihm wohl zu gönnen, zöge sie ihn nicht unversehens 
m die Nähe der reaktionären Mächte. 
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Ein exemplarischer Beleg für den Illusionismus, der die 
soziologische Bedingtheit aller der Welt zugekehrten kirchlichen 
Institutionen verbannt, war die Rede von I ld ef on S H e r- 
wegen, des Abtes von Maria-Laach. Katholische Bildung 
gründet sich nach ihm in der objektiven Rangordnung der Werte 
wie einzig der Katholizismus sie lehre. Sie zur Darstellung zu 
bringen, bedürfe es des Hincinwachsens der Jugend in vas 
Mysterienieben der Kirche und die Bestimmungen des natür 
lichen Seins. Diese benedik inische Anschauung, die aus dem 
Binnenraum der Liturgie bruchloS auf die Welt übergreiien 
mochte, ist aber zuletzt eine fromme Illusion, da sie die ideale 
Kirche für die reale setzt und über der Kontemplation der ewigen 
Werte des Wandels der Welt und des WandÄS der jeweilig für 
sie geltenden Bestimmungen vergißt. Gegen die einseitige 
Naturverherrlichung fand er gute Worte. 
Daß das Bekenntnis zu einem eigenen katholischen BildungS- 
ideal häufig genug seinen Schimmer einer Klassen-Jdeologie 
leiht, erhellte auS oem Vortmg von Prof. Hermann Platz 
(Bonn) über die Beziehungen zwischen katholischer und 
nationaler Bildung darum besonders deutlich, weil Platz 
im übrigen ein verdienter Vorkämpfer des (freilich bei ihm auch 
ideologisch gefärbten) Europa-Gedankens ist. Er kennzeichnete 
vom katholischen Standpunkt aus den Nationalstaat als gott 
gewollt, insofern dieser ein Mindestmaß echter Güter zu ver 
wirklichen habe, und er beschränkte seine Ansprüche auf Sou 
veränität. Aus dieser formal einwandfreien Charakterisierung, 
die noch gar nichts über den zu verwirklichenden Gehalt aus- 
sagt, folgerte Platz in dem beliebten unmerklichen Uebsrgang 
von der formalen Sphäre zur material-konkreten: daß sie nicht 
nur den Nationalstaat als selbstgesetzliche Größe, sondern auch 
als sozialistische Zwangsbeglückung aus schlöffe; ferner: daß 
Internationalismus „Sünde" sei. Bemerkungen, die desto ver 
räterischer sind, je beiläufiger sie fielen, und jedenfalls über die 
Richtung seines „Eros zum Nationalen" nicht im Zweifel 
lassen. Im einzelnen empfahl er die Weckung des Sinnes für 
die deutsche Landschaft; die Betonung des katholischen Ein 
schlags in der deutschen Geschichte; die verstärkte Achtsamkeit 
auf die Prinzipien der Ordnung und der Gliederung gegenüber 
dem Irrationalismus der Jndividualitätsphilosophie. Wirk 
lichkeitsfremd feine Mahnung, durch Orientierung am Lituri- 
gischen zu einer besseren Behandlung der deutschen Sprache zu
	        
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