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Metadata: H:Kracauer, Siegfried/01.05/Klebemappe 1926 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

, in 
er- 
Diese Hocken überall, wo Menschen überhaupt sich einnisten 
können: am Boden, auf Gerüsten, keine Perspektive ist sicher vor 
tet die Stücke einzeln her und schasst sie an ihren Platz, wo sie 
geduldig stehen bleiben bis man sie wieder abreißt; Organis 
men, hie sich auf eigene Faust entwickeln wollen, sind sie nicht. 
Tischlereien, Glasereien, Bildhauer-Werkstätten besorgen das 
Nötige. Die Stoffe: Holz Metall, Glas, Ton, sind ohne 
Falsch. Auch richüge Dinge wären aus ihnen zu machen, 
aber vor dem Antlitz des Objektivs gelten die trügerischen 
eben so viel. Es ist objektiv. 
Vorkehrungen sind erforderlich, um die Sachen und Menschen 
zusamMenzubringen. Beharrten sie in der ihnen angestammten 
Verfassung, so wiesen sie auseinander wie MuseumsvariWen 
und ihre Beschauer. Beleuchtung verschmilzt sie; ihr Quell 
ist die ausgedehnte ElektrozentrÄe, dir das ganze Unternehmen 
!wit Energien speist. Die Darsteller werden in dem Friseur 
raum zurechigsstutzt. Er ist kein Arbeitsvaum wie andere, 
sondern ein Atelier, in dem sich Kunstreiches begibt. Aus dem 
Rohstoff des menschlichen Gesichts werden hier Physiogno 
mien geformt, die ihr Geheimnis erst preisgeben, wenn das 
Lampenlicht sie berieselt. Zwischen Schminktischen, angefüllt 
mit Stiften jeder Schattierung, walten Meister ihres Fachs. 
Eine Tabelle zeigt den Helligkeitsgrad an, den die Farben 
beim Photographieren erlangen; sie werden in die Schwarz 
weiß-Skala hineingepreßt, als Farbwert schwinden sie hin. 
Umso verführerischer ist das Vorstudium: die entartete Bunt 
heit der Perrücken in den Vitrinen. An der Wand hängen 
Porträt ähnliche Gesichtsmasken, feuerfest« Gebilde, die nach 
den Hauptakteuren der jeweils in Arbeit befindlichen Filme 
angefertigt sind und ihr persönliches Auftreten in gewissen 
Szenen entbehrlich machen. Andere verwandeln sich in sie, in 
dem sie ihre Masken tragen. Die Vermummten sind starr, 
totengleich gehen sie um. In dem angegliederten Vorsüh- 
rungszimmer kann dts Bildwjirkung der Toilette erprobt 
werden. 
Filme und Menschen sind von dieser Autarkie umfangen, 
ihr Gedeihen wird mit allen Schikanen gefördert. Man Wer- 
prüst und verbessert in einer Versuchswerkstatt die technischen 
Rcproduktions-Methoden, etwa der farbigen Filme, und be-! 
müht sich gleich sehr um die Aufzucht eines Nachwuchses, der 
die verschiedenen Methoden onzuwenden weiß. Eine wirkliche! 
Feuerwehr ist zum Löschen wirklicher Brände bereit, Aerzte 
und Sanitäter halten sich jederzeit zur Verfügung. Zum. 
Glück ereignen sich Unfälle selten, so beliebt sie auch sind. Bei 
den Aufnahmen zu „Metropolis" mußten Hunderte von Kindern 
aus den Fluten sich retten, ein entsetzlicher Anblick im Film; 
der Hergang war so harmlos, daß die nicht mit abgebildeken 
Krankenschwestern das Nachsehen hatten. Einer der Haupt- 
Wittelpunkte ist die Kantine. Zwischen Angestellten, Ar 
beitern, Chauffeuren sitzen hier kostümierte Herrschaften, wie 
dir Ueberveste eines Faschingsfestes anzuschauen. Sie warten. 
eingesetzt, ihre Vereinzelung wirb getilgt, ihre Grimasse ge 
glättet. Aus den Gräbern, die nicht ernst gemeint sind, er 
wachen sie zum Schein des Lebens. 
Nach der Art des Pointillismus wird das Leben gestiftet. 
Es ist ein Getüpfel von Ausnahmen, die an mannigfachen 
Orten entstehen, und zunächst unverbunden bleiben. Ihre Ab 
folge richtet sich nicht nach der des dargestellten Geschehens: 
das Schicksal mag gekurbelt werden, ehe eS sich geknotet hat, 
die Versöhnung früher sich darbieten als der Streit, der um 
ihretwillen entbrannte. Der Sinn der Handlung ist erst im 
fertigen Film souverän; während der Schwangerschaft läßt er 
ihnen. Manchmal steigen sie ihren Opfern nach. Auch das 
kleinste Teilstück wird nur nach schrecklichen Wehen geboren. 
Helfer und Helfershelfer sind beteiligt, unter Gefuchtel schlüpft 
es heraus. 
Obmann istderRegisseur. Erhat auch die schwierige 
Aufgabe, das Bildmaterial, das so schön ungeordnet wie das 
Leben selber ist, zu jener Einheit zu gestalten, die das Leben! 
der Kunst verdankt. In seinem Privat-Vorführungsraum 
schließt er mit den Streifen sich ein und läßt sie wieder und 
wieder entrollen. Sie werden ausgesiebt, ineinander geschoben, 
abgeteilt und beschriftet. Bis zuletzt dem großen Chaos ein 
kleines Ganzes entspringt. Ein Gesellschastsdrama, eine histo 
rische Begebenheit, ein Frausnlos. Meist ist der AnZgang 
gut: Glaswolken brauen und verflüchtigen sich. Die vierte Wand 
wird geglaubt. Alles garantiert Natur. ' . 
Das Geheimnis des Doppelgängers. 
' Die Anthropologische Gesellschaft hatte in 
Vereinigung mit dem Holland-Institut am Dienstag abend zu 
einem Lichtbilder-Vortrag des holländischen Gelehrten Prof. Dr. 
I. F. van Bemmelen über das Phänomen des Doppel 
gängers geladen. Der Begriff des Doppelgängers, so führte 
der Redner aus, findet sich bei allen Völkern, zumeist mit Aber 
glauben gemischt, der auch bei uns noch nach,wirkt: z. B. in der 
Airgst, das eigene Bild Fremden anzuvertrauen. Auch die Lire- 
ratur werdet das Doppelgänger-Motiv aus; nur die Wissenschaft 
scheint es nicht zu kennen. Dennoch ist der Doppelgänger ein 
naturwissenschaftliches Phänomen; kein Zweifel, daß es besteht, 
daß jeder Mnsch davon überzeugt sein kann, auf ihm ähnliche 
Weien zu stoßen. 
Zwei Arten von Aehnlichkeit gibt eS nun. Eine solche 
Artistisches und Amerikanisches. Die Neue Licht 
bühne hat diesesmal ein ausgezeichnetes Programm zusammen 
gestellt. Der Hauptschlager: „Eine Minute vor Zwölfte 
mit Luciano Albertini in der Hauptrolle, enthält eine Fülle 
filmgcmäßer Intentionen. Im wesentlichen Liese, daß es um ein 
pures Nichts Fehl: um ein LoLLerielos — Haupttreffer natür 
lich! —, das angeblich in das Futter eines grauen Zylinders 
geraten ist, der von Kopf zu Kopf wandert und wie eine Steck 
nadel gesucht wird. Zum Schlüsse stellt sich heraus, daß es sich 
gar nicht in ihm befand. Das Fahnden nach dem nichtexistenten 
Gegenstand setzt die ganze Welt in Bewegung. Der Lunapärk, an 
sich schon mit drehbaren Dingen angefüllt, wird noch mehr auf 
den Kopf gestellt, als er es von Natur ist. Es geschieht, was im 
Film zu geschehen hat: die fortwährende Umwälzung der äußeren 
Welt, die verrückte Verrückung ihrer Objekte. Albertini, der Held, 
ist ein liebenswürdiger Junge von jenem schmächtig-schwarzen 
Habitus, der notwendig für sich einnimml. Er strebt nach dem 
Glück mit solcher Grazie, daß es ihm nicht widerstehen kann. 
Eine Figur, mit Märch-enzügen behaftet, wie das Volk sie liebt: 
etwas PojaZ, etwas unverläßlich, die normale Ordnung überall 
durchbrechend, ein netter Revolutionär in der Dingwelt und am 
Ende mit dem verdienten Erfolg gesegnet, der unverdient auf ihn 
niederträufelt. Er benützt die Möglichkeiten, die der Trick bietet, 
um Unerhörtes zu vollbringen. Nach amerikanischem Muster tau 
melt er betrunken über die Dächer in gefährlicher Nähe der Regen 
rinnen. Er läßt sich von einem minimalen Luftballon durch die 
Lüfte tragen und schwingt sich über Marquisen wieder herab. 
Immer glückte es im letzten Augenblick^gerade noch entrinnt er 
sich nicht ergründen. 
Zelle um Zelle will gebildet sein. Die Jnventarstücke 
rücken hier und dort zusammen, eine vom Licht geschminkte 
Umwelt, in der sich Menschliches abspielt. Die rundum ange- 
! strählten Bewegungen werden von den Kurbelkästen verfolgt. 
Wandi schaft fei. Diese Erklärung, die sich dem Redner un- 
gezwumngen dargcbooten hat, ist hervorgegangen aus Untersucheun-- 
gen über seine eigene Familie. 
Zu den ersten Grundsätzen der genealogischen Ver 
erbungslehre gehört der banale Satz, daß jeder Mensch 
einen Vater und eine Mutter hat. Das beißt aber: er ist ebenso 
gut ein Mitglied der mütterlichen wie oer väterlichen Familie. 
Nun hat man theoretisch zwei Eltern, vier Großeltern, acht Ur- 
großeltern usw. in mathematischer Progression. Also in der zehnten 
Ahnen-Generation (besser: ParenLcckion) hat man bereits 1024 
Vorfahren, zu-deren Familien man sämtlich gehört. Unter dieser 
Unzahl von Ahnen kommen natürlich dieselben Leute — infolge 
von Inzucht — möglicherweise vielfach vor. Trotzdem wachsen 
die Zahlen schnell, je höher man in der Reihe der Parentationen 
kommt, und man darf sagen, daß die Menschen unseres Kultur 
gebiets alle untereinander blutsverwandt sind. 
Als weiteren Grundsatz entwickelte der Redner die Lehre, daß 
es Nachkommens-Hiften (« Parentelen) geben müsse, die noch 
nicht abgeschlossen sind. Es ist nun unzweifelhaft, daß sich die 
Nachkommen Karls des Großen heute in allen Lagern 
treffen; die meisten von uns stammen gewiß von ihm ab (freilich 
ebenso gewiß auch von seinem Kammerdiener). 
Die Vorführung der Lichtbilder begann mit dem Bilde 
einer der Urgroßmütter des Redners; er zeigte sie zum Beweis 
der zwischen ihr und ihm herrschenden Aehnlichkeit. Andere Ahnen- 
Lilder folgten. Eines stammt aus dem 18. Jahrhundert (8. Pären- 
ration) und trägt ebenfalls Züge, die auf den Redner hindeuLem 
Auch die Generationen, die von dem Ahn zur Gegenwart leiten, 
sind durch einen glücklichen Zufall in Bildern erhalten. Aus ihrem 
Studium ergibt sich: die Physiognomie stellt eine Einheit dar, 
die sich s p r u n g w e i § vererbt. Es wäre sehr wohl möglich^ daß 
sich in einer anderen Blutlinie des Ahnen aus der 8. Parentalion 
ein Mensch fände, der die gleiche GesichtsLildung empfangen hätte 
wie der Redner. Durch den Rückgang auf die 10. Parentation 
verfeinerte der Vortragende noch die phystognomische Analyse. 
Doppelgängertum beruht auf Blutsver 
wandtschaft: in diese These münden die Forschungen Prof. 
van Bemmelens. Er erhärtete sie durch die Aufdeckung der 
Ahnentafeln seiner eigenen (im Bild gezeiAen) Doppelgänger, die 
in der Tat eine verblüffende Aehnlichkeit mit ihm haben. In 
struktiv die Schilderung der Schwierigkeiten, die mit dem Anstieg 
zu dem gemeinsamen Ahnherrn der vier in Betracht kommenden 
Familien verknüpft waren. — Das dichtgedrängte Auditorium — 
die Zuhörer standen Zum Teil in den Gängen — dankte dem Red 
ner lebhaft für seine Darlegungen, die er mit der Bitte schloß, 
man möge die Photographien der Verwandtschaft in den Fami- 
lienalben mit genauen genealogischen Angaben ver 
sehen, damit unsere Nachkommenschaft daraus Nutzen ziehe. 
Ar. 
Unaufhörlich warten sie auf ihre Szene. Der Szenen 
sind viele, gleich den Steinchen eines Mosaiks werden sie anein 
ander gestückt. Statt die Welt in ihrem zerbröckeltem Zustand 
zu lassen, holt man sie wieder in die Welt zurück. Die aus 
dem Zusammenhang gelösten Dinge werden von neuem in ihn 
eingesetzt, ihre Vereinzelung wirb getilgt, ihre Grimasse ge- 
von Menschen, d-ie offenbar nichts miteinander zu tun haben, und 
eine andere von einzigen „identischen" Zwillingen, „Halblingen", 
wie sie der Vortragende nennt. Wenn aber die Erscheinung der 
täuschenden Aehnlichkeit sich bei beiden Gruppen zeigt, so sollte 
man sich doch fragen, ob ihr Grund nicht auch in jenem Falle 
dem die Menschen scheinbar einander fremd sind, Bluts V
	        
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