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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.06/Klebemappe 1927 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

, wissen nicht, wann sie dort reisten. Wo er eigentlich gewesen 
! ist, vermöchte auch von den Erwachsenen niemand zu sagen« 
Doch das Ziel muß verlockend sein, denn sie verlassen panik- 
artig die bewohnten Orte und brechen mit sämtlichen verfüg 
baren Verkehrsmitteln zu ihm auf. Sie werden von fetten 
Muttersch weinen getragen, sie radeln auf altmodischen Velozi- 
peden. Neben sich, als Reisebagage, ein Orchestrion, bessere 
Klänge eine mechanische Primaballerina mit Tanzschritten! 
begleitet. 
In dem Rennen führen die Stiere. Ohne Seitens 
geländer, ohne die geringste Sicherung starten sie auf einem 
Bretterrund, das eine gewaltige Arena ist. Der Schaum ficht 
ihnen vor dem Maul, spitz schrauben sich die Hörner zu, und 
mit verrenkten Hälsen blicken sie sich nach Opfern um. Ueber 
ihnen ist ein Dach ausgespannt, das von einer Mittelsäule aus 
sich ins Grenzenlose verbreitert, ein Himmelszelt, der Himmel 
der Provence, weiße Staubschlangen wälzen sich auf den 
Straßen. Das Voll der kleinen Leute erklettert die Hälse und 
klammert sich an den Hörnern fest. Sie fahren ab, dumpf wis 
ein Orgelton setzt es ein. Dann brausen die Maschinen Heller 
und Heller, ein Jubellaut entsteht, wie wenn zwei Asymptoten 
sich schnitten, und die losgelassenen Herden toben unter dem 
Gluthimmel von hinnen. Ein Knabe reitet voran, der über 
dem Rücken des Stieres schwebt. Grüne Streifen blitzen von 
seinen Hosen, die blauumränderten Augen schirmt ein Zylinder, 
i Der Knabe wirft Papierschlangen aus, in die sich Tiere und 
! Menschen verwickeln, und ein aufgelöster Knäuel folgt dem 
! Phantom. 
neuem auftaucht, ist von Sonne erfüllt, auch wenn die Sonne 
nicht scheint: den Genueser Gaffen gleich, die den Hafen um- 
streichen. Aus den offenen Läden drängen die Waren ins 
Freie. Katakomben von Konserven entquellen dem Schlauch 
eines Delikatessengeschäfts, das an das geheime Lebensmittel 
depot einer Südsee-Expedition erinnert, so gewitzt und aben 
teuerlich gleißt es aus seinen Tiefen. Fruchthallen mit 
Zitronen und Wurzeln sind von Natur aus Loggien; sie er 
tragen die Abgeschlossenheit um so weniger, als ihre Verkäufer 
verkleidete Operntenöre sind, die gehört werden wollen. Die 
Nähe des Meeres Zu bestätigen, bedarf es der Austern und 
Schnecken nicht. Wo sich Märkte, Farbflecken und Burschen 
begegnen, ist es gegenwärtig. An seinen imaginären Usern 
liegen die Hausrat-Handlungen, deren Inhalt unzweifelhaft 
das Ergebnis vielseitiger Beutezüge ist. Zwischen Töpfen 
und Stricken liebkost Dämon seine Phyllis; das Weib, das die 
Kunstplastik bewacht, ist die Mutter der vier Kinder in Person. 
Daß die Armut von Stand zu Stand einkaufen geht, wird 
durch vergoldete Pferdeköpfe augenfällig bewiesen. Brächte 
eine Königstochter sie zum Reden, sie verkündeten die In 
Qualität ihrer Stammesbrüder, die als Fleischkeulen unter 
ihnen prangen. 
Wenn die Mauern nicht mehr reichen, geht es in Holzwerk 
weiter, dünnste Konstruktion, daß die Luft durchziehen kann. 
Muß es schon Behausungen geben, so am besten nur Schuppen. 
Je loser die Wände, desto wirrer der Inhalt. Anzüge werden 
Lei Grammophonmusik geprobt, über plastisch aus 
modellierten Hosen hängen Trikots. Da die dekorative Ein 
heit fehlt, ist das Ganze nicht vorhanden. Entweder die Sachen 
taumeln geistesabwesend durcheinander, oder sie zeigen sich 
einzeln wie die Zahngebiffe, die mit der Umständlichkeit kost 
barer Perlen Ais den Etuis strahlen; allerdings sind tönen 
auch Goldkronen übergestülpt. In jedem Falle bleibt zwischen 
den Schaustücken Platz genug, und wie.dicht immer sie sich 
berühren, es ließe sich noch viel hineinstopfen, ohne daß sie in 
ihrer Zerstreuung es merkten. (Nähert man stch den vor 
nehmeren Geschäftsstraßen, so Ziehen sie sich hinter Glas zurück 
und fügen stch zu Figuren.) 
Buden. 
Poch die offenen Schuppen sind immer noch Häuser. Die z 
kleinen Leute rücken darum, so oft es geht, auf die großen , 
KMOaM Mch HyMM ßch dort MOigr DBm KWeMj 
! Vor ihnen glänzt die Reihe der herrlichsten Läden, denen es 
an nichts gebricht. Was Menschen nur irgend zu kaufen be 
gehren, in den Läden ist es erhältlich. Die Buden werden 
das Nachsehen haben. Sie haben es nicht. Denn in ihnen 
gibt es zu kaufen, was niemand kaufen will, weil er nicht 
daran denkt. Wünsche dürfen sich ausleben, die während des 
nutzlosen Spazierengehens einschlüpfen, Wünsche aus ver 
schollenen Knabenjahren, dunkle Wünsche der verschiedenen 
Körperregionen, Wünsche, die flüchtige Seifenblasen sind — 
der ganze Mischmasch ungestillter Regungen, der sonst zwischen 
Tag und Nacht sich verliert. Unter ihren Gaslampen, die wie 
Goldfischkugeln leuchten, sind die Buden emporgestiegen, und 
mit winzigen Fröschen, die plötzlich zu Hüpfen beginnen, 
spielen sie sich in den Alltag herein. Sie stellen zu Familien- 
Photographien die Zierrähmchen, drucken Visitenkarten für Be 
sucher, die es eilig haben, und spenden Wohlgerüche an Mäd 
chen. Nun duften die Gesichter, der Abend ist lang. 
Nicht nach starren Geschäftsprinzipien werden die schrulligen 
Ausgeburten erhandelt. Ihr Preis ist an das Glück des 
Käufers geknüpft, das sich in gewöhnlichen Läden niemals 
erkennen läßt. Riesenräder drehen sich in den Zuckerbuden,- 
und die Begünstigten, die auf die richtige Zahl gesetzt haben, 
gewinnen an Süße. Der Passant stolpert ahnungslos über 
die Möglichkeiten. Er kann sich aus Pfropfen und Ersatzteilen 
eine neue Maschine bauen, vielleicht ist er ein Erfinder. Er 
kann sich auch einen Harem gründen: die Seraillampen stehen 
bereit. Mit ihnen kommen vergessene Deckchen angeschwemmt, 
Stickereien aus der Urzeit, alles schon klein geworden und zer 
stückelt, es fegt durch die Löcher. Für Kopfsammler sind 
Puppenköpse bestimmt, auf Tüll gebettet, anderswo liegen die 
Rümpfe. Ruhekissen, die mit grell geschminkten Katzen, Hähnen 
und Hirschen überzogen sind, bieten die erwünschte Gelegen 
heit zu Tierträumereien. Ungezügelt spritzt der Kram auf die 
Straße, mitten in die Gesellschaft, die ihn nicht mitgenommen 
hat. Die sichtbaren Flächen sind von ihm gesprenkelt wie die 
Nougatstangen, die ein Nigger feilhält. Auf Flächenschmuck 
verstehen sich die kleinen Leute nicht. Sie rollen mit ihren 
Karren an und stellen sich nach Gutdünken auf. 
Karusselle. 
Lange harren sie nicht. Zu viel Festland find Buden und 
Schuppen, und die offenen Räume winken. Sie fahren sausend 
ins Bodenlose. Karusselle ohne Zahl reißen nach allen 
Himmelsr^hLungen fort. Daß sie sich wie Glücksräder im 
Kreise drehten, ist eine optische Täuschung. Kein Flugzeug 
frißt die Ferne wie sie, keine Kinolandschaft ist so wild wie 
die Natur, der die Planken entgegenjagen. Die Kinder schon 
Das Straßenvolk in Karis. 
Von Dr. S. Kraemrer. 
Volk auf Abbruch. 
In ben Straßen der zwanzig Städte, aus denen Paris 
besteht, blüht die Vegetation der kleinen Leute. Während die 
höhere Gesellschaft in den vier Wänden der Autos und Woh 
nungen verschwindet, wachsen sie überall aus den Häusern her 
vor: an der Porte Elichy, in der Bastille-GegeNd, im Umkreis 
der flandrischen Kanäle des Nordostens, im Quartier Grenelle. 
Ihr Humus ist das Pflaster, die Oeffentlichleit ihr Zuhause. 
Mögen sie sich aus Arbeitern, Gewerbetreibenden, Schaffnern 
zusammensetzen, sie gehen in der Statistik nicht auf. Dieses 
Volk hat sich die Stadtlandschaft geschaffen, in der es dauern 
kann, ein unauflösliches Zellengewebe, das durch die Architek 
turperspektiven der Könige und des aufgeklärten Großbürger 
tums kaum verletzt worden ist. Die Kleinheit der Zellen ent 
spricht der Kleinheit menschlicher Proportionen und Bedürf- 
niffe. Paris ist eine Kleinstadt, wenn man darunter nicht den 
Sitz provinzieller Mittelmäßigkeit versteht. Inkalkulabel wie 
sein Straßennetz ist das Volk. Es lebt mit Dingen, die sich 
ihrer Verflüchtigung zu abstrakten Gegenständen erwehren. Es 
dünstet eine animalische Wärme aus und schimmert farbig. 
Auch in zweifelhaften Ballokalen ist die vermittelnde Geste 
zur Hand. Die Darbietungen der Vorstadttheater haben ein 
Ansehen; daß ein Kind im Zuschauerraum einmal weinen 
muß, wird hingenommen. Der Boden, aus dem die kleinen 
Leute kommen, ist gut gedüngt. 
Aber das Volk ist kein Kirchenvolk und seine Kultur strebt 
nicht himmelwärts. Unsere Romantiker könnten wenig Staat! 
mit ihm machen. Diese kleinen Leute nämlich, die nicht 
anders auch in den Städten des Mittelmeers gedeihen, bauen 
sich nicht in die Höhe, sie bauen sich fortwährend ab. Ihre 
Entfaltung ist schon allein durch die Notdurft behindert, ihre 
Formen brechen plötzlich ab, ohne eine Oberfläche zu bilden, 
ihre Dinge stehen bunt nebeneinander. Die Natur, die stch in 
ihnen verkörpert, hebt sich selber auf. Ein Emporschießen, ein 
Zerfall. Er ist nicht gleichbedeutend mit dem Tod, sondern 
setzt lang vor dem Sterben ein. So als ob das Volk sich aus 
eigenen Stücken jeder Verfestigung entzöge, als ob ein unbe 
kannter Zwang es davon abhielte, sich zu einem lesbaren 
Neuster zufammenzusetzen. Die bürgerliche Gesellschaft trachtet 
nach Sicherungen über den Augenblick hinaus und bewegt sich 
in einem System von Bahnen, die so grade sind wie die 
Avenuen. (Freilich hat das System keinen Bestand.) Das 
Bild, in dem sich die kleinen Leute darstellen, ist ein improvi- i 
AsM ZWM M Wt ÄÄe HGraWve jqU j 
Die Basar st raße. I werden auf Lokomotiven und Aiegenböcken in die andere Welt 
Sie wachsen aus den Häusern hervor, der Winter wird ! geschickt, sie sehen nicht mehr Vater und Mutter, betäubt und 
ihnen zum Sommer. Entflieht man der Basarstraße am einen jWM am M e - wm K M KWN M m Ä. M ZKW c ht 
Stadtende, so ist sie, ehe man noch mjt der Metro eintrifft, am 
an d eren SL a dt en d e sc h on w i e d er err i c ht e t. Di ese St ra ß e , di e l Angst, steigen Gegenden um sie aus, die sie kennen, und sis 
., 
mit der Schnelligkeit des Swinegels im Märchen immer von
	        
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