, wissen nicht, wann sie dort reisten. Wo er eigentlich gewesen
! ist, vermöchte auch von den Erwachsenen niemand zu sagen«
Doch das Ziel muß verlockend sein, denn sie verlassen panik-
artig die bewohnten Orte und brechen mit sämtlichen verfüg
baren Verkehrsmitteln zu ihm auf. Sie werden von fetten
Muttersch weinen getragen, sie radeln auf altmodischen Velozi-
peden. Neben sich, als Reisebagage, ein Orchestrion, bessere
Klänge eine mechanische Primaballerina mit Tanzschritten!
begleitet.
In dem Rennen führen die Stiere. Ohne Seitens
geländer, ohne die geringste Sicherung starten sie auf einem
Bretterrund, das eine gewaltige Arena ist. Der Schaum ficht
ihnen vor dem Maul, spitz schrauben sich die Hörner zu, und
mit verrenkten Hälsen blicken sie sich nach Opfern um. Ueber
ihnen ist ein Dach ausgespannt, das von einer Mittelsäule aus
sich ins Grenzenlose verbreitert, ein Himmelszelt, der Himmel
der Provence, weiße Staubschlangen wälzen sich auf den
Straßen. Das Voll der kleinen Leute erklettert die Hälse und
klammert sich an den Hörnern fest. Sie fahren ab, dumpf wis
ein Orgelton setzt es ein. Dann brausen die Maschinen Heller
und Heller, ein Jubellaut entsteht, wie wenn zwei Asymptoten
sich schnitten, und die losgelassenen Herden toben unter dem
Gluthimmel von hinnen. Ein Knabe reitet voran, der über
dem Rücken des Stieres schwebt. Grüne Streifen blitzen von
seinen Hosen, die blauumränderten Augen schirmt ein Zylinder,
i Der Knabe wirft Papierschlangen aus, in die sich Tiere und
! Menschen verwickeln, und ein aufgelöster Knäuel folgt dem
! Phantom.
neuem auftaucht, ist von Sonne erfüllt, auch wenn die Sonne
nicht scheint: den Genueser Gaffen gleich, die den Hafen um-
streichen. Aus den offenen Läden drängen die Waren ins
Freie. Katakomben von Konserven entquellen dem Schlauch
eines Delikatessengeschäfts, das an das geheime Lebensmittel
depot einer Südsee-Expedition erinnert, so gewitzt und aben
teuerlich gleißt es aus seinen Tiefen. Fruchthallen mit
Zitronen und Wurzeln sind von Natur aus Loggien; sie er
tragen die Abgeschlossenheit um so weniger, als ihre Verkäufer
verkleidete Operntenöre sind, die gehört werden wollen. Die
Nähe des Meeres Zu bestätigen, bedarf es der Austern und
Schnecken nicht. Wo sich Märkte, Farbflecken und Burschen
begegnen, ist es gegenwärtig. An seinen imaginären Usern
liegen die Hausrat-Handlungen, deren Inhalt unzweifelhaft
das Ergebnis vielseitiger Beutezüge ist. Zwischen Töpfen
und Stricken liebkost Dämon seine Phyllis; das Weib, das die
Kunstplastik bewacht, ist die Mutter der vier Kinder in Person.
Daß die Armut von Stand zu Stand einkaufen geht, wird
durch vergoldete Pferdeköpfe augenfällig bewiesen. Brächte
eine Königstochter sie zum Reden, sie verkündeten die In
Qualität ihrer Stammesbrüder, die als Fleischkeulen unter
ihnen prangen.
Wenn die Mauern nicht mehr reichen, geht es in Holzwerk
weiter, dünnste Konstruktion, daß die Luft durchziehen kann.
Muß es schon Behausungen geben, so am besten nur Schuppen.
Je loser die Wände, desto wirrer der Inhalt. Anzüge werden
Lei Grammophonmusik geprobt, über plastisch aus
modellierten Hosen hängen Trikots. Da die dekorative Ein
heit fehlt, ist das Ganze nicht vorhanden. Entweder die Sachen
taumeln geistesabwesend durcheinander, oder sie zeigen sich
einzeln wie die Zahngebiffe, die mit der Umständlichkeit kost
barer Perlen Ais den Etuis strahlen; allerdings sind tönen
auch Goldkronen übergestülpt. In jedem Falle bleibt zwischen
den Schaustücken Platz genug, und wie.dicht immer sie sich
berühren, es ließe sich noch viel hineinstopfen, ohne daß sie in
ihrer Zerstreuung es merkten. (Nähert man stch den vor
nehmeren Geschäftsstraßen, so Ziehen sie sich hinter Glas zurück
und fügen stch zu Figuren.)
Buden.
Poch die offenen Schuppen sind immer noch Häuser. Die z
kleinen Leute rücken darum, so oft es geht, auf die großen ,
KMOaM Mch HyMM ßch dort MOigr DBm KWeMj
! Vor ihnen glänzt die Reihe der herrlichsten Läden, denen es
an nichts gebricht. Was Menschen nur irgend zu kaufen be
gehren, in den Läden ist es erhältlich. Die Buden werden
das Nachsehen haben. Sie haben es nicht. Denn in ihnen
gibt es zu kaufen, was niemand kaufen will, weil er nicht
daran denkt. Wünsche dürfen sich ausleben, die während des
nutzlosen Spazierengehens einschlüpfen, Wünsche aus ver
schollenen Knabenjahren, dunkle Wünsche der verschiedenen
Körperregionen, Wünsche, die flüchtige Seifenblasen sind —
der ganze Mischmasch ungestillter Regungen, der sonst zwischen
Tag und Nacht sich verliert. Unter ihren Gaslampen, die wie
Goldfischkugeln leuchten, sind die Buden emporgestiegen, und
mit winzigen Fröschen, die plötzlich zu Hüpfen beginnen,
spielen sie sich in den Alltag herein. Sie stellen zu Familien-
Photographien die Zierrähmchen, drucken Visitenkarten für Be
sucher, die es eilig haben, und spenden Wohlgerüche an Mäd
chen. Nun duften die Gesichter, der Abend ist lang.
Nicht nach starren Geschäftsprinzipien werden die schrulligen
Ausgeburten erhandelt. Ihr Preis ist an das Glück des
Käufers geknüpft, das sich in gewöhnlichen Läden niemals
erkennen läßt. Riesenräder drehen sich in den Zuckerbuden,-
und die Begünstigten, die auf die richtige Zahl gesetzt haben,
gewinnen an Süße. Der Passant stolpert ahnungslos über
die Möglichkeiten. Er kann sich aus Pfropfen und Ersatzteilen
eine neue Maschine bauen, vielleicht ist er ein Erfinder. Er
kann sich auch einen Harem gründen: die Seraillampen stehen
bereit. Mit ihnen kommen vergessene Deckchen angeschwemmt,
Stickereien aus der Urzeit, alles schon klein geworden und zer
stückelt, es fegt durch die Löcher. Für Kopfsammler sind
Puppenköpse bestimmt, auf Tüll gebettet, anderswo liegen die
Rümpfe. Ruhekissen, die mit grell geschminkten Katzen, Hähnen
und Hirschen überzogen sind, bieten die erwünschte Gelegen
heit zu Tierträumereien. Ungezügelt spritzt der Kram auf die
Straße, mitten in die Gesellschaft, die ihn nicht mitgenommen
hat. Die sichtbaren Flächen sind von ihm gesprenkelt wie die
Nougatstangen, die ein Nigger feilhält. Auf Flächenschmuck
verstehen sich die kleinen Leute nicht. Sie rollen mit ihren
Karren an und stellen sich nach Gutdünken auf.
Karusselle.
Lange harren sie nicht. Zu viel Festland find Buden und
Schuppen, und die offenen Räume winken. Sie fahren sausend
ins Bodenlose. Karusselle ohne Zahl reißen nach allen
Himmelsr^hLungen fort. Daß sie sich wie Glücksräder im
Kreise drehten, ist eine optische Täuschung. Kein Flugzeug
frißt die Ferne wie sie, keine Kinolandschaft ist so wild wie
die Natur, der die Planken entgegenjagen. Die Kinder schon
Das Straßenvolk in Karis.
Von Dr. S. Kraemrer.
Volk auf Abbruch.
In ben Straßen der zwanzig Städte, aus denen Paris
besteht, blüht die Vegetation der kleinen Leute. Während die
höhere Gesellschaft in den vier Wänden der Autos und Woh
nungen verschwindet, wachsen sie überall aus den Häusern her
vor: an der Porte Elichy, in der Bastille-GegeNd, im Umkreis
der flandrischen Kanäle des Nordostens, im Quartier Grenelle.
Ihr Humus ist das Pflaster, die Oeffentlichleit ihr Zuhause.
Mögen sie sich aus Arbeitern, Gewerbetreibenden, Schaffnern
zusammensetzen, sie gehen in der Statistik nicht auf. Dieses
Volk hat sich die Stadtlandschaft geschaffen, in der es dauern
kann, ein unauflösliches Zellengewebe, das durch die Architek
turperspektiven der Könige und des aufgeklärten Großbürger
tums kaum verletzt worden ist. Die Kleinheit der Zellen ent
spricht der Kleinheit menschlicher Proportionen und Bedürf-
niffe. Paris ist eine Kleinstadt, wenn man darunter nicht den
Sitz provinzieller Mittelmäßigkeit versteht. Inkalkulabel wie
sein Straßennetz ist das Volk. Es lebt mit Dingen, die sich
ihrer Verflüchtigung zu abstrakten Gegenständen erwehren. Es
dünstet eine animalische Wärme aus und schimmert farbig.
Auch in zweifelhaften Ballokalen ist die vermittelnde Geste
zur Hand. Die Darbietungen der Vorstadttheater haben ein
Ansehen; daß ein Kind im Zuschauerraum einmal weinen
muß, wird hingenommen. Der Boden, aus dem die kleinen
Leute kommen, ist gut gedüngt.
Aber das Volk ist kein Kirchenvolk und seine Kultur strebt
nicht himmelwärts. Unsere Romantiker könnten wenig Staat!
mit ihm machen. Diese kleinen Leute nämlich, die nicht
anders auch in den Städten des Mittelmeers gedeihen, bauen
sich nicht in die Höhe, sie bauen sich fortwährend ab. Ihre
Entfaltung ist schon allein durch die Notdurft behindert, ihre
Formen brechen plötzlich ab, ohne eine Oberfläche zu bilden,
ihre Dinge stehen bunt nebeneinander. Die Natur, die stch in
ihnen verkörpert, hebt sich selber auf. Ein Emporschießen, ein
Zerfall. Er ist nicht gleichbedeutend mit dem Tod, sondern
setzt lang vor dem Sterben ein. So als ob das Volk sich aus
eigenen Stücken jeder Verfestigung entzöge, als ob ein unbe
kannter Zwang es davon abhielte, sich zu einem lesbaren
Neuster zufammenzusetzen. Die bürgerliche Gesellschaft trachtet
nach Sicherungen über den Augenblick hinaus und bewegt sich
in einem System von Bahnen, die so grade sind wie die
Avenuen. (Freilich hat das System keinen Bestand.) Das
Bild, in dem sich die kleinen Leute darstellen, ist ein improvi- i
AsM ZWM M Wt ÄÄe HGraWve jqU j
Die Basar st raße. I werden auf Lokomotiven und Aiegenböcken in die andere Welt
Sie wachsen aus den Häusern hervor, der Winter wird ! geschickt, sie sehen nicht mehr Vater und Mutter, betäubt und
ihnen zum Sommer. Entflieht man der Basarstraße am einen jWM am M e - wm K M KWN M m Ä. M ZKW c ht
Stadtende, so ist sie, ehe man noch mjt der Metro eintrifft, am
an d eren SL a dt en d e sc h on w i e d er err i c ht e t. Di ese St ra ß e , di e l Angst, steigen Gegenden um sie aus, die sie kennen, und sis
.,
mit der Schnelligkeit des Swinegels im Märchen immer von