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Aas GrnammL der Waffe.
Von Dr. Siegfried Mraeauer.
Die Linien des Lebens stnd verschieden,
Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen,
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.
Hölderlin.
I.
Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt,
ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächen-
äußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen
der Epoche über sich selbst. Diese sind als der Ausdruck von
Zeittendenzen kein bündiges Zeugnis für die Gesamtversassung
der Zeit. Jens gewähren ihrer Unbewußtheit wegen einen
unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden.
An seine Erkenntnis ist umgekehrt ihre Deutung geknüpft.
Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten
Regungen erhellen sich wechselseitig.
II.
Auf dem Gebiet der Körperkultu r die auch die illustrierten
Zeitungen bedeckt, ist in der Stille ein Geschmacks Wandel vor
sich gegangen. Mit den Tillergirls hat es begonnen.
Diese Produkte der amerikanischen Zerstreuungsfabriken sind
keine einzelnen Mädchen mehr, sondern unauflösliche Mädchen
komplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen
sind. Während sie sich in den Revuen zu Figuren verdichten,^
ereignen sich auf australischem und indischem Boden, von
Amerika zu schweigen, in immer demselben dichtgefüllten
SLadio n Darbietungen von gleicher geometrischer Genauig
keit. Das kleinste Oertchen, in das sie noch gar nicht gedrungen
stnd, wird durch die Filmwochenfchau über sie unterrichtet..
Ein Blick auf die Leinwand belehrt, daß die Ornamente aus
Tausenden von Körpern bestehen, Körpern in Badehosen ohne
Geschlecht. Der Regelmäßigkeit ihrer Muster jubelt die durch
die Tribünen gegliederte Menge zu.
Längst sind diese Schaustellungen, die nicht nur von Girls
und Stadionbewohnern verunstaltet werden, zur festen Form
gediehen. Sie haben internationale Geltung errungen.
Das -ästhetische Interesse ist ihnen zugewandt.
Träger der Ornamente ist die Masse. Nicht das Volk, !
denn wann immer es Figuren bildet, hangen diese nicht in!
der Luft, sonderrOwachsen aus der Gemeinschaft hervor. Ein
Strom des organischen Lebens wälzt stch von den schicksalhaft
verbundenen Gruppen zu ihren Ornamenten, die als magischer
Zwang erscheinen und so mit Bedeutung belastet stnd, daß sie
stch zu reinen Liniengefügen nicht verdünnen lassen. Auch die
aus der Gemeinschaft ausgeschiedenen Menschen, die sich als
Einzelpersönlichkeiten mit einer eigenen Seele wissen, versagen
bei der Bildung der neuen Muster. Gingen sie in die Veran
staltung ein, so ginge das Ornament nicht über sie hinweg.
Es wäre eine farbige Komposition, die nicht bis zu Ende
berechnet werden könnte, da ihre Spitzen stch wie die Zinken
eines Rechens in die seelischen Zwischenschichten einsenkten,
von denen ein Rest noch verbliebe. Dre Muster der Stadions
und Kabarette verraten von solcher Herkunft nichts. Sie
werden aus Elementen zusamwengestellt, die nur Bausteine'
stnd und nichts außerdem. Zur Errichtung des Bauwerkes
kommt es auf das Format der Steine und ihre Anzahl an.
Es ist die Masse, die eingesetzt wird. Als Massenglieder allein,
nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein
glauben, stnd die Menschen Bruchteile einer Figur.
Das Ornament ist stch Selbstzweck. Auch das frühere
Ballett ergab Ornamente, die kaleidoskopartig sich regten. Aber
sie waren nach der Abstreifung ihres rituellen Sinnes immer
noch die plastische Gestaltung des erotischen Lebens, das sie
aus sich hervortrieb und ihre Züge bestimmte. Die Massen
bewegung der Girls dagegen steht im Leeren, ein Linien-
shstem, das nichts Erotisches mehr meint, sondern allenfalls
den Ort des Erotischen bezeichnet. So auch haben die
lebendigen Sternbilder in den Stadions nicht die Bedeutung
militärischer Evolutionen. Wie regelmäßig immer diese aus-
fielen, ihre Regelmäßigkeit ward als Mittel zum Zweck er
achtet; patriotischen Gefühlen entstammte der Parademarsch,
der wiederum in Soldaten und Untertanen Gefühle erweckte.
Die Sternbilder meinen nichts außer stch selbst, und die
Masse, über der sie aufgehen, ist nicht wie die Kompanie eine
sittliche Einheit. Sogar als Schmuckbeiwerk der turnerischen
Disziplinierung sind die Figuren nicht anzusprechen. Die Girl
einheiten trainieren vielmehr, um eine Unzahl paralleler!
Striche zu erzeugen, und die Ertüchtigung breitester Menschen-!
Massen wäre zur Gewinnung eines Musters von ungeahnten
Dimensionen erwünscht. Am Ende steht das Ornament, zu
dessen Verschlossenheit die substanzhaltigen Gefüge sich ent
leeren.
Da^Ornament wird von den Massen, die es Zustande
s bringen, nicht mitgedacht. So linienhaft es ist: keine Linie
dringt aus den Massenteilchen auf die ganze Figur. Es gleicht
darin den Flugbildern der Landschaften und Städte,
daß es nicht dem Innern der Gegebenheiten entwächst, sondern
über ihnen erscheint. Auch die Schauspieler ermessen das
Szenenbild nicht, doch sie nehmen bewußt an seinem Aufbau
teil, und noch bei den Ballett-Figurinen ist die Figur gegen
ihre Darsteller hin offen. Je mehr ihr Zusammenhang zu
einem bloß linearen sich entäußert, um so mehr entzieht sie sich
der Bewußtseinsimmanenz ihrer Bildner. Aber darum wird
sie nicht von einem Blick getroffen, der entscheidender wäre,
sondern niemand erblickte sie, säße nicht die Zufchauermenge
vor dem Ornament, die sich ästhetisch zu ihm verhält und nie
manden vertritt.
Das von feinen Trägern abgelöste Ornament ist ratio
nal zu erfassen. Es besteht aus Graden und Kreisen, wie sie
in den Lehrbüchern der euklidischen Geometrie sich finden;
auch die Elementargebilde der Physik: Wellen und Spiralen,
bezieht es mit ein. Verworfen bleiben die Wucherungen organi
scher Formen und die Ausstrahlungen des seelischen Lebens.
Die Tillergirls Lassen sich nachträglich nicht mehr zu Men
schen zusammensetzen, die Massenfreiübungen werden niemals
von den ganz erhaltenen Körpern vorgenommen, deren Krüm
mungen sich dem rationalen Verständnis verweigern. Arme,
Schenkel und andere Teilstrecken sind die kleinsten Bestand
stücke der Komposition.
Die Struktur des Massenornaments spiegelt die der gegen
wärtigen Gefamtsituationen wider. Da das Prinzip des kap i-
Lalistischen Produktionsprozesses nicht rein
der Natur entstammt, muß es die natürlichen Organismen
sprengen, die ihm Mittel oder Widerstände sind. Volksgemein
schaft und Persönlichkeit vergehen, wenn Kalkulabilität ge
fordert ist; der Mensch als Massenteilchen allein kann reibungs
los an Tabellen emvorklettern und Maschinen bedienen. Das
gegen Gestaltunterschiede indifferente System führt von stch
aus zur Verwischung der nationalen Eigenarten und Zur
Fabrikation von Arbeitermassen, die sich an allen Punkten der
Erde gleichmäßig einsetzen lassen. — Der kapitalistische Pro-
dEionsprozeß ist sich Selbstzweck wie das Massenornament.
Die Waren, die er aus.sich entläßt, sind nicht eigentlich darum
produziert, daß sie besessen werden, sondern des Profits wegen,
der stch grenzenlos will. Sein Wachstum ist an das des Be
triebs gebunden. Der Produzent arbeitet nicht für den Privat
gewinn, den er nur in geringem Umfang nutznießen kann —
die Ueberschüsss werden in Amerika geistigen Horten wie
Bibliotheken, Universitäten usw. zugsführt, in denen man In
tellektuelle zur Reife bringt, die durch ihre spätere Tätigkeit
das vorgestreckte Kapital mit Zinseszinsen wieder zurückzahlen
— der Produzent arbeitet für die Vergrößerung des Unter
nehmens. Daß es Werte herstellt, geschieht nicht um der Werte
willen. Mochte ihrer Erzeugung und ihrem Verbrauch die
Arbeit früher bis zu einem gewissen Grade gelten, so sind sie
jetzt Nebenwirkungen geworden, die dem Produktionsprozeß
dienen. Die in ihn eingegangenen Tätigkeiten haben sich ihrer
substantiellen Gehalte entäußert. — Der Produktionsprozeß
lauft öffentlich im Verborgenen ab. Jeder erledigt seinen Griff
am rollenden Band, übt eine Teilfunktion aus, ohne das Ganze
m Omen. Gleich dem Stadionmuster steht die Organisation
über den Massen, eine monströse Figur, die von ihrem Urheber
den Augen ihrer Träger entzogen wird und kaum ihn selbst
zum Betrachter hat. — Sie ist nach rationalen Grundsätzen
entworfen, aus denen das Taylor-System nur die letzte Fol
gerung zieht. Den Beinen der Tillergirls entsprechen die
Hände in der Fabrik. Ueber das Manuelle hinaus werden
auch seelische Dispositionen durch die psychotechnischen Eig
nungsprüfungen zu errechnen gesucht. Das Mafsenornawent
ist der ästhetische Reflex der von dem herrschenden Wirtschafts
system erstrebten Nationalität.
Die Gebildeten, die nicht alle werden, haben den Einzug
der Tillergirls und der Stadionbilder übel vermerkt. Was die
Menge unterhält, richten sie als Zerstreuung der Menge., Ent
gegen ihrer Meinung ist das ästhetische Wohlgefallen an
den ornamentalen Massenbewegungen legitim. Sie in der
Tat gehören zu den vereinzelten Gestaltungen der Zeit, die
einem vorgegebenen Material die Form verleihen. Die in ihnen
gegliederte Masse ist aus den Büros und Fabriken geholt;
das Formprinzip, nach dem sie gemodelt wird, bestimmt sie
auch in der Realität. Wenn große Wirklichkeitsgehalte aus der
Sichtbarkeit unserer Welt abgezogen sind, so muß die Kunst
mit den übrig gebliebenen Beständen wirtschaften, denn eine
ästhetische Darstellung ist um so realer, je weniger sie der Reali
tät außerhalb der ästhetischen Sphäre enträt. Wie gering immer
der Wert des Massenornaments angesetzt werde, es steht seinem
Realitätsgrad nach über den künstlerischen Produktionen, die
abgelegte höhere Gefühle in vergangenen Formen nachzüchten:
mag es auch nichts weiter bedeuten.