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Metadata: H:Kracauer, Siegfried/01.06/Klebemappe 1927 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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Aas GrnammL der Waffe. 
Von Dr. Siegfried Mraeauer. 
Die Linien des Lebens stnd verschieden, 
Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen, 
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen 
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden. 
Hölderlin. 
I. 
Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, 
ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächen- 
äußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen 
der Epoche über sich selbst. Diese sind als der Ausdruck von 
Zeittendenzen kein bündiges Zeugnis für die Gesamtversassung 
der Zeit. Jens gewähren ihrer Unbewußtheit wegen einen 
unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden. 
An seine Erkenntnis ist umgekehrt ihre Deutung geknüpft. 
Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten 
Regungen erhellen sich wechselseitig. 
II. 
Auf dem Gebiet der Körperkultu r die auch die illustrierten 
Zeitungen bedeckt, ist in der Stille ein Geschmacks Wandel vor 
sich gegangen. Mit den Tillergirls hat es begonnen. 
Diese Produkte der amerikanischen Zerstreuungsfabriken sind 
keine einzelnen Mädchen mehr, sondern unauflösliche Mädchen 
komplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen 
sind. Während sie sich in den Revuen zu Figuren verdichten,^ 
ereignen sich auf australischem und indischem Boden, von 
Amerika zu schweigen, in immer demselben dichtgefüllten 
SLadio n Darbietungen von gleicher geometrischer Genauig 
keit. Das kleinste Oertchen, in das sie noch gar nicht gedrungen 
stnd, wird durch die Filmwochenfchau über sie unterrichtet.. 
Ein Blick auf die Leinwand belehrt, daß die Ornamente aus 
Tausenden von Körpern bestehen, Körpern in Badehosen ohne 
Geschlecht. Der Regelmäßigkeit ihrer Muster jubelt die durch 
die Tribünen gegliederte Menge zu. 
Längst sind diese Schaustellungen, die nicht nur von Girls 
und Stadionbewohnern verunstaltet werden, zur festen Form 
gediehen. Sie haben internationale Geltung errungen. 
Das -ästhetische Interesse ist ihnen zugewandt. 
Träger der Ornamente ist die Masse. Nicht das Volk, ! 
denn wann immer es Figuren bildet, hangen diese nicht in! 
der Luft, sonderrOwachsen aus der Gemeinschaft hervor. Ein 
Strom des organischen Lebens wälzt stch von den schicksalhaft 
verbundenen Gruppen zu ihren Ornamenten, die als magischer 
Zwang erscheinen und so mit Bedeutung belastet stnd, daß sie 
stch zu reinen Liniengefügen nicht verdünnen lassen. Auch die 
aus der Gemeinschaft ausgeschiedenen Menschen, die sich als 
Einzelpersönlichkeiten mit einer eigenen Seele wissen, versagen 
bei der Bildung der neuen Muster. Gingen sie in die Veran 
staltung ein, so ginge das Ornament nicht über sie hinweg. 
Es wäre eine farbige Komposition, die nicht bis zu Ende 
berechnet werden könnte, da ihre Spitzen stch wie die Zinken 
eines Rechens in die seelischen Zwischenschichten einsenkten, 
von denen ein Rest noch verbliebe. Dre Muster der Stadions 
und Kabarette verraten von solcher Herkunft nichts. Sie 
werden aus Elementen zusamwengestellt, die nur Bausteine' 
stnd und nichts außerdem. Zur Errichtung des Bauwerkes 
kommt es auf das Format der Steine und ihre Anzahl an. 
Es ist die Masse, die eingesetzt wird. Als Massenglieder allein, 
nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein 
glauben, stnd die Menschen Bruchteile einer Figur. 
Das Ornament ist stch Selbstzweck. Auch das frühere 
Ballett ergab Ornamente, die kaleidoskopartig sich regten. Aber 
sie waren nach der Abstreifung ihres rituellen Sinnes immer 
noch die plastische Gestaltung des erotischen Lebens, das sie 
aus sich hervortrieb und ihre Züge bestimmte. Die Massen 
bewegung der Girls dagegen steht im Leeren, ein Linien- 
shstem, das nichts Erotisches mehr meint, sondern allenfalls 
den Ort des Erotischen bezeichnet. So auch haben die 
lebendigen Sternbilder in den Stadions nicht die Bedeutung 
militärischer Evolutionen. Wie regelmäßig immer diese aus- 
fielen, ihre Regelmäßigkeit ward als Mittel zum Zweck er 
achtet; patriotischen Gefühlen entstammte der Parademarsch, 
der wiederum in Soldaten und Untertanen Gefühle erweckte. 
Die Sternbilder meinen nichts außer stch selbst, und die 
Masse, über der sie aufgehen, ist nicht wie die Kompanie eine 
sittliche Einheit. Sogar als Schmuckbeiwerk der turnerischen 
Disziplinierung sind die Figuren nicht anzusprechen. Die Girl 
einheiten trainieren vielmehr, um eine Unzahl paralleler! 
Striche zu erzeugen, und die Ertüchtigung breitester Menschen-! 
Massen wäre zur Gewinnung eines Musters von ungeahnten 
Dimensionen erwünscht. Am Ende steht das Ornament, zu 
dessen Verschlossenheit die substanzhaltigen Gefüge sich ent 
leeren. 
Da^Ornament wird von den Massen, die es Zustande 
s bringen, nicht mitgedacht. So linienhaft es ist: keine Linie 
dringt aus den Massenteilchen auf die ganze Figur. Es gleicht 
darin den Flugbildern der Landschaften und Städte, 
daß es nicht dem Innern der Gegebenheiten entwächst, sondern 
über ihnen erscheint. Auch die Schauspieler ermessen das 
Szenenbild nicht, doch sie nehmen bewußt an seinem Aufbau 
teil, und noch bei den Ballett-Figurinen ist die Figur gegen 
ihre Darsteller hin offen. Je mehr ihr Zusammenhang zu 
einem bloß linearen sich entäußert, um so mehr entzieht sie sich 
der Bewußtseinsimmanenz ihrer Bildner. Aber darum wird 
sie nicht von einem Blick getroffen, der entscheidender wäre, 
sondern niemand erblickte sie, säße nicht die Zufchauermenge 
vor dem Ornament, die sich ästhetisch zu ihm verhält und nie 
manden vertritt. 
Das von feinen Trägern abgelöste Ornament ist ratio 
nal zu erfassen. Es besteht aus Graden und Kreisen, wie sie 
in den Lehrbüchern der euklidischen Geometrie sich finden; 
auch die Elementargebilde der Physik: Wellen und Spiralen, 
bezieht es mit ein. Verworfen bleiben die Wucherungen organi 
scher Formen und die Ausstrahlungen des seelischen Lebens. 
Die Tillergirls Lassen sich nachträglich nicht mehr zu Men 
schen zusammensetzen, die Massenfreiübungen werden niemals 
von den ganz erhaltenen Körpern vorgenommen, deren Krüm 
mungen sich dem rationalen Verständnis verweigern. Arme, 
Schenkel und andere Teilstrecken sind die kleinsten Bestand 
stücke der Komposition. 
Die Struktur des Massenornaments spiegelt die der gegen 
wärtigen Gefamtsituationen wider. Da das Prinzip des kap i- 
Lalistischen Produktionsprozesses nicht rein 
der Natur entstammt, muß es die natürlichen Organismen 
sprengen, die ihm Mittel oder Widerstände sind. Volksgemein 
schaft und Persönlichkeit vergehen, wenn Kalkulabilität ge 
fordert ist; der Mensch als Massenteilchen allein kann reibungs 
los an Tabellen emvorklettern und Maschinen bedienen. Das 
gegen Gestaltunterschiede indifferente System führt von stch 
aus zur Verwischung der nationalen Eigenarten und Zur 
Fabrikation von Arbeitermassen, die sich an allen Punkten der 
Erde gleichmäßig einsetzen lassen. — Der kapitalistische Pro- 
dEionsprozeß ist sich Selbstzweck wie das Massenornament. 
Die Waren, die er aus.sich entläßt, sind nicht eigentlich darum 
produziert, daß sie besessen werden, sondern des Profits wegen, 
der stch grenzenlos will. Sein Wachstum ist an das des Be 
triebs gebunden. Der Produzent arbeitet nicht für den Privat 
gewinn, den er nur in geringem Umfang nutznießen kann — 
die Ueberschüsss werden in Amerika geistigen Horten wie 
Bibliotheken, Universitäten usw. zugsführt, in denen man In 
tellektuelle zur Reife bringt, die durch ihre spätere Tätigkeit 
das vorgestreckte Kapital mit Zinseszinsen wieder zurückzahlen 
— der Produzent arbeitet für die Vergrößerung des Unter 
nehmens. Daß es Werte herstellt, geschieht nicht um der Werte 
willen. Mochte ihrer Erzeugung und ihrem Verbrauch die 
Arbeit früher bis zu einem gewissen Grade gelten, so sind sie 
jetzt Nebenwirkungen geworden, die dem Produktionsprozeß 
dienen. Die in ihn eingegangenen Tätigkeiten haben sich ihrer 
substantiellen Gehalte entäußert. — Der Produktionsprozeß 
lauft öffentlich im Verborgenen ab. Jeder erledigt seinen Griff 
am rollenden Band, übt eine Teilfunktion aus, ohne das Ganze 
m Omen. Gleich dem Stadionmuster steht die Organisation 
über den Massen, eine monströse Figur, die von ihrem Urheber 
den Augen ihrer Träger entzogen wird und kaum ihn selbst 
zum Betrachter hat. — Sie ist nach rationalen Grundsätzen 
entworfen, aus denen das Taylor-System nur die letzte Fol 
gerung zieht. Den Beinen der Tillergirls entsprechen die 
Hände in der Fabrik. Ueber das Manuelle hinaus werden 
auch seelische Dispositionen durch die psychotechnischen Eig 
nungsprüfungen zu errechnen gesucht. Das Mafsenornawent 
ist der ästhetische Reflex der von dem herrschenden Wirtschafts 
system erstrebten Nationalität. 
Die Gebildeten, die nicht alle werden, haben den Einzug 
der Tillergirls und der Stadionbilder übel vermerkt. Was die 
Menge unterhält, richten sie als Zerstreuung der Menge., Ent 
gegen ihrer Meinung ist das ästhetische Wohlgefallen an 
den ornamentalen Massenbewegungen legitim. Sie in der 
Tat gehören zu den vereinzelten Gestaltungen der Zeit, die 
einem vorgegebenen Material die Form verleihen. Die in ihnen 
gegliederte Masse ist aus den Büros und Fabriken geholt; 
das Formprinzip, nach dem sie gemodelt wird, bestimmt sie 
auch in der Realität. Wenn große Wirklichkeitsgehalte aus der 
Sichtbarkeit unserer Welt abgezogen sind, so muß die Kunst 
mit den übrig gebliebenen Beständen wirtschaften, denn eine 
ästhetische Darstellung ist um so realer, je weniger sie der Reali 
tät außerhalb der ästhetischen Sphäre enträt. Wie gering immer 
der Wert des Massenornaments angesetzt werde, es steht seinem 
Realitätsgrad nach über den künstlerischen Produktionen, die 
abgelegte höhere Gefühle in vergangenen Formen nachzüchten: 
mag es auch nichts weiter bedeuten.
	        
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