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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.06/Klebemappe 1927 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

einandergerüttelt. 
raca. 
— Mörrig TLir.I Aus Paris wird uns geschrieben: 
Ein französischer Film der letzten Wochen: „Liti l., 
der König der Gassenjugen^ Isi-, E ckes 
QoLse.8") ist seinem Inhalt nach aufschlußreich, weil er, ohne es 
im übrigen zu verhehlen, ganz in das Gebiet der Kolportage g-e- 
hört. Die Kolportage bringt vieles an den Tag, was das Licht der 
höheren Künste oft scheut. Der Litt mit seinem Wuschelkovf ist das 
Muster eines Pariser Gassenjungen — ein Boulevard-Blatt siai 
seinen Darsteller jüngst sogar interviewt, so populär ist die Figur» 
Jungenstreiche werden nun seit Mark Twain gewöhnlich in 
Amerika verübt. Was tun die Buben dort in den Filmend Sie 
bilden Banden, die sich Straßenkämpse liefern, und begehen 
mancherlei heroischen Unfug, nicht ohne das unverdorbene Herz 
leuchten zu lassen. So Jackie Coogan, der das unbestrittene Vor 
bild ist (oder war). Aber Liebs rennen die Knaben nicht. Mary 
Pickford ist ihr Spielkamerad, Zärtliche Regungen stehen , hinter dem 
allgemein-menschlichen Edelmut zurück, den sie freilich in unglaub 
tichen Quantitäten besitzen. 
Der , Pariser Ati — höchstens Zwölf Jahrs zahlt der KnirM 
— .unterscheidet sich von den auswärtigen Kollegen durch seine 
amvuröfs Natur. Gewiß, auch er ist artiger Unarten voll, doch er 
setzt sie um der Rettung eines kleinen Mädchens willen ins Wer* 
für das er besondere Gefühle hegt Die Triebfeder seiner Taten ist 
die Liebe. Er weiß nichts von geschäftlichen Abschlüssen, wie sie 
Jackie tätigt, er ist auch Lein reiner Tor, wie die Boys auf der 
Leinwand. Ein Troubadour steckt in Titi, und seine Züge tragen 
schon die Spuren der vererbten und vorgsahnten erotischen Er 
fahrung — er müßte sonst kein Franzose sein. Die winzige Er 
korene aber ist nicht nur die Königin seines Herzens, sondern eine 
wirkliche Balkan Königin, der ein Prätendent das Geburtsrecht 
streitig macht; was allerdings erst ganz am Schluß an den Tag 
kommt. Nach der Enthüllung wird ein märchenhaftes Zeremoniell 
aufgeöoten. Die Miniaturfürstin im StaaLsNeid mit endloser 
Schleppe empfängt vor ihrer Abreise (nach dem Balkan) noch ein 
mal den kaum minder aufgeputztsn Titi, der ihr verspricht- sie 
später aufzusuchen. Er wird es zu einer gesellschaftlichLN Stellung 
durch das Mädchen bringen Lis^e, Ritterlichkeit, Glanz: die Welt 
der kleinen LLM ist die der groben- 
--- Das PanzsrgewMe. Ein guter DeteMvfilm, der in den 
Natlonaitheatcrn (Scala- und Hohsnzollerntheatei) 
lauft. Stuart Webbs, alias Ernst Reicher, ist in chm wieder 
auferstanden. Vor mehreren Jahren lief eine ganze Serie dieser 
L-tuart Webbs-Film«, die hübsche und schaurige Detektivabenteuer 
anemanderreihten. (Einige Stücke, so vor allem «Der Amateur 
detektiv", wünschte man wieder einmal zu sehen-) Die Mode wech- 
iclte, an die Stelle des Kriminalfilms trat der Gesellschaftsfilm, 
der eine schöne Gesellschaft Zeigte. Vielleicht war es auch ganz gut, 
daß Stuart Webbs in der Versenkung verschwand, denn sein 
Scharfsinn hatte beträchtlich abgenommen. Die lange Brachreit 
scheint ihm gut bekommen zu sein. Das .PanzergewWe""bat 
Sand und Fuß, und Webbs-Reicher zeigt sich auf dem Gipfel 
seines alten detektivischen Ruhms. Er hat es mit einer Falfch- 
münzerbande zu tun, an deren Spitz« ein unheimlicher Mann mit 
einem Vollbart steht: Heinrich George. Man möchte ihm 
nachts nicht allein auf der Straße begegnen, und seine Komplizin 
Aud Egede Rissen wird denn auch kurzerhand von ihm er 
würgt, weil sich das Mädchen verräterisch benommen hat. Wie er 
wippend dasieht, die Hände in den Hosentaschen; wie er kalt- 
lachelnd Erpressung übt, wie er zuletzt sämtliche Stadien der grob 
PhWchen Angst durchläuft: das ist schon eine fein aufgebaute. 
Wirkungsvolle Leistung. In der Begleitung Ernst Reichers frei 
lich konnte man ihm auch nachts ohne Furcht begegnen. Das 
weltmännische Wesen die Ironie und die freundliche Uebcrlegen- 
hert des MeisterdetektivZ ist noch anderen Schurken gewachsen« 
Zweigen wir über die Handlung, auf die Ueberraschung kommt 
es hrer an- Verraten sei nur das eine: daß es in dem Panzer- 
gewolbe schrecklich zugeht und harmonisch endet. Auch in der Bei- 
Mrichung des Humors ist das Rezept für den guten Defektiv oman 
gewd befolgt. Witzig ist vor allem ein sanfter Verbrecher 
typ, der über eine Art von milder Gemeinheit verfügt. Der Be 
such des Films ist sehr anzuratm. raeu. 
Das Serkaer Nettopollheaker 
lm Schumamthealer. 
Si«« Do-prlreva«. 
— .Welches ist daS betSrendste Gift? Das WeiL-^ So fragt, 
fo antwortet Elfe Berna, die Hauptdarstellerin der Metropol- 
theater-Revu« und vergiftet dann das Publikum mit sich 
selbst und den Girls vom Metropol. Die Mädchen tanzen und 
bilden geometrische Muster, wie es sich für eine Revue gehört, die 
Beine und Kostüme sind hübsch. Das übrige auch Eine schöne 
Gruppe ist die einer Rose, deren Riesenblüte sich öffnet und 
schließt. In einer Uebersicht über historische Tänze wird der 
Schieber: «Im Grunewald ist Holzauktion" stilgerecht zelebriert, 
auch die Rokoko-Pagen und die Csnvan-TLnzerinnen machen gute 
Figur und Figuren- Trotz des Hauptschlagers: »Das hat die Welt 
noch nicht geseh'n" hat die Welt freilich die meisten Figuren schon 
gesehen. Am originellsten ist die lustige VaristS-Szene, in der eine 
Dame einen Pony springen läßt. Der Pony ist künstlich, er ist, 
wie sich später heraussteLL, eigentlich ein Mmn, darum auch er 
scheint die ganze Pferd eanatomie sehr drollig verrenkt. Das Tier 
verübt vier- und zweibeinige Tänze, die unsere gewohnten Begriffe 
auf den Kopf stellen — eine GroteZknummer, weit über dem Durch 
schnitt. Und dann ist Leo Morgenstern vorhanden, ein dicker 
humoristischer Berliner Herr, der fortwährend in die Handlung ein- 
greift und manche erheiternde Zwischenfälle arrangiert, die das dünn 
instrumentierte Spiel angenehm unterbrechen. Sein Partner ist 
Charlie Brock, ein Schwerennöter, wie man so sagt, dem in der 
Revue zum mindesten keine Frau widersteht. Außer diesen beiden 
Herren scheint es weitere nicht zu geben, denn alle anderen Herren 
sind Mädchen. Als junge Gents in Straßenkostümen sehen sie 
übrigens reizend aus. 
Die Revue der Großen umrahmt die der Kleinen, die von der 
Welt seltener gesehen wird. Singers Midgets-Revue ist 
eine amerikanische Zwergenschau, die eine Fülle von 
Produktionen bietet. Die Vorführungen sind sonderbar aufreizend. 
Es ist ja nicht so, als ob man durch das umgekehrte Opernglas die 
normalen Proportionen verkleinert erblickte, vielmehr, man hat 
(wenn dieser Vergleich gestatte: ist) die Sensation, in ein mensch 
liches Aquarium zu schauen. Auf einem schönen, zarten Frauen- 
körper sitzt ein altes Gesicht, das nicht ganz zu chm paffen wm, 
slle Erscheinungen sind ein wenig verzerrt. Ihr Heraustreten aus 
den absoluten menschlichen Maßen rückt auch ihr Wesen uns fern, 
sie bilden eine Welt für sich, deren Gleichheit mit der unsrigen 
wieder, erstaunen läßt. Diese durch das Kleine hervorgerufene 
AbgesperWeit erzeugt wohl den schmerzlichen Ausdruck der Augen 
und drängt bei den Beschauern das Lachen dort auch zurück, wo 
es am Platze wäre. Die Leistungen der Truppe sind außerordent 
lich. Ihre Jazzband vollführt auf normalen Instrumenten, 
die nur eine eigene MpuLanische Tastatur besitzen, eine unver 
fälscht niggerhafte Musik, scharf und exakt im Rhythmus; sogar 
das Zu Heidelberg verlorene Herz scheint in den 17. 8. Zu 
schlagen. Der winzige starke Mann, der ein Pferd mit Reiter zu 
heben vermag, gleicht der Ameise, die einen Grashalm schleppt, 
der bei der Umrechnung auf unsere Größenverhältniffe sich als 
Amshsher Balken erwiese. Traurig schön sind die Fragmente aus 
einer New Aorker Revue: die Herrchen in Smoking, Die Dämchen 
in PrunkphanLastegewändern, die ein Parkett von Millionären 
entzückten. Eine Kopie aus der Riesenwelt; wie 
Marionetten in einem Glaskasten bewegen sich und singen die 
Figuren. Einer zaubert dann, als chinesischer Magier Piepst er 
deutsche Sätze, gewandt wie der Blitz, eine Märchengestalt. Oder 
sie reiten im Braus dahin, kaum daß die Pferde von der Stelle 
kommen, denn auch die Zeit ist verkürzt. Die Miniatur-B oxkänrpfe 
sind lächerlich und entsetzlich; dicht wie Schneeflocken in einer 
Glaskugel folgen sich die Schläge. Bei dem Schiußbild, das alle 
Darsteller der Doppelrevue vereinigt, sind die Zwerge mit dem 
Girlensemble zu einer einzigen Gruppe zusammen gestellt. Nur in 
einem Lachkabinett erscheinen die Dimensionen ähnlich durch-
	        
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