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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.08/Klebemappe 1929 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

großer Erzähler bewältigt er seinen 
Er ballt ihn Zu 
Lungen geworden sind'. So wäre er nach pem. Umsturz erlöst? und Hände fliegen durch einende., dazwischen erscheint Fedja, unk 
Die Montage wird mit jener außerordentlichen Souveränität 
gehandhabt, deren heute allein die Russen fähig sind. OZep hat 
die besten Traditionen der Filmkunst sowohl wie der russischen 
Epik ausgenommen. Frei und erfinderisch wie nur irgendein 
sammen, zerknüllt ihn, läßt ihn sich dehnen und vernichtet nicht 
selten um der ästhetischen Wirklichkeit willen die ganze photo- 
graphierbare Realität. Zu den Höhepunkten gehört die Zi 
geunerszene, mit der einS andere, später in sie einmündende 
Bildfolge virtuos parallel geführt wird. Die Zigeunerinnen 
spielen und singen in glitzernden Gewändern, und Fedja verfällt 
ihnen allmählich. Seine Teilnahme' wird Zum Taumel, zur 
Raserei. Dieses Crescendo ist im Film meisterhaft dargestellt. 
Glaubt man, die Steigerungen seien nicht mehr Zu überbieten. 
so beginnt eine neue überraschende Kaskade. Die Zigeunerinnen 
treten aus ihren Konturen, sie lind keine Einzelwesen mehr, Köpf 
Mit dem unter der Regie von Fedor OZep hergestellten 
russisch-deutschen Gemeinschaftsfilm „D erlebende Leich 
nam" haben die Russen einen Vorstoß in das Gebiet des Indi 
viduums gemacht. Nicht das Kollektivum ist hier der Held, sondern 
der Einzelne, der an der Institution zerbricht. Er geht zugrunde, 
weil die Kirche ihm das Recht auf Ehescheidung nur unter Be 
dingungen einräumt, die er als wahrhaftiger Mensch nicht erfüllen 
kann. 
So war es im zaristischen Rußland, in dem Tolstoi dichtete. 
In Sowjet-Rußland kann man sich bekanntlich ohne Schwierigkeit 
scheiden lassen, und dieser unbestreitbare soziale Fortschritt erstickt 
scheinbar Tragödien wie die Fedjas im Keim. Was lag näher, als 
den Film so ausZugestatten, daß der Akzent vorwiegend auf den 
Mängeln der alten Gesetzgebung liegt? Als ein Manuskript zu 
schaffen, das die Nöte Fedjas dazu benutzt, um allgemeine Miß 
stände Zu geißeln? 
Durch die starke Betonung des revolutionären sozialen Motivs 
ist aber ein thema t i s cher Bru ch entstanden. Fedja, der an 
ständige Fedja, der sich die Freiheit nicht erschwindeln will, wird, 
der ganzen Anlage seiner Person entgegen. Zum Vorkämpfer der 
kommenden Umwälzung gestempelt. Wie verhohlen immer, wird er 
Zum Träger eine politischen Tendenz. Gut, mag er es sein. Das 
Pech des Filmverfassers ist nur, daß Fedja die ihm hier Zugedachte 
Tendenz , gar nicht vertreten kann. Gemeint ist allenfalls mit ihm 
die Emanzipation des Einzelmenschen aus einer Sklaverei, die ihn 
als Person vernichtet; in keiner Weise erschöpft sich jedoch die Be 
deutung seines Leidens darin, ein Hinweis auf die gegenwärtige 
russische Gesetzgebung Zu sein. Denn das Leiden entspringt bei ihm 
einer Auffassung von der Liebe und von dem Sinn des Menschen, 
die.mit dem zur Zeit herrschewden Kodex in Rußland nicht nur 
nicht übereinstimmt, sondern ihm Zuwiderläuft., Von ihm aus be 
trachtet, derm die Person sich erfüllt, wenn sie im Kollektiv auf- 
geht, wäre dieser Fedja nur ein verstiegener Bürgerlicher. Seine 
Innerlichkeit jedenfalls und sein Pochen auf die individuelle 
Autonomie hätten der offiziellen Lehrmeinung als Ketzereien zu 
gelten. 
Es rächt sich, daß man ihn dazu gezwungen hat, den gesell 
schaftlichen Empörer Zu spielen. Ueberall weisen die Intentionen 
auseinander. Einmal scheint die ganze Tragik in der ungerecht 
fertigten Härte des Gesetzes beschlossen zu sein. Fedja wird mit 
seinem Anliegen vom Synod und vom Gericht abgewiesen und 
mag seine Freiheit auch nicht durch die erbärmlichen Schliche er 
kaufen, die unter dem Druck der Zustände zu. stehenden Einrich- 
Muß noch gesagt werden, daß dieser Film sich hoch über unsere 
Durchschnittsproduktton erhebt? Er übertrifft sie selbst , in seinen 
Mängeln, die Mängel nur im Hinblick auf das von ihm Gewollie 
sind. Ihn anzusehen ist wichtig. Man erfährt bei seiner Betrach 
tung wieder einmal, was die Filmkunst vermag und wie minder- 
werti . g . die . so . nst uml . au . fe . nden Erzeugnisse sind . . 
(Der F ? ilm wird demnächst im Frankfurter Gloria-Palast 
ken wie Dekorationen, die unter allen Umständen etwas bedeuten 
möchten. Literari'sche Absicht hat sie herbeigeholt, und nun wölben 
sie sich, ohne zu leben. 
Längst nicht so vollständig wie im „Potemkin" etwa wird der 
Gegalt durch rern filmische Mittel produziert. Mitunter finden sich 
Le er stellen, an denen der Film die nicht in ihn eingegangene 
sprachliche DialeM unzureichend illustriert. Der Schwerpunkt 
die Titel abgerückt, und die Bilder werden Zur Dreingabe. Aus 
der Empfindung heraus, daß die Hohlräume gefüllt werden müssen, 
mag OZep zu den breiten M i li e u m a l e r e i en gegriffen ^aben. 
A und da im Milieu. Großartig« Gemäldes Elends , 
und der VerkommE«t sie ragen^r 
Aur dre Gestalt sind .sie überflüssig. Sle gleichen 
m ^lerch, das Wucherungen treibt, statt strafs anzusitzen. 
Auch mit den Typen wird nicht eben ökonomisch umgegangen. 
Sie treten so prächtig auf, dah jeder Folklorist an ihnen seine 
Freude haben kann, und stellen den Charakter immer gleich extrem 
dar. Durch ihre Ueberzähl und durch die Intensität ihres Äus- 
drucks schwächen sie den mit ihnen beabsichtigten Effekt eher ab? 
diesem Gebiet nicht konkurrenzlos, und es ist bezeichnend genug, Etwas Sparsamkeit und etwas mehr Dämpfung wären hier vermut- 
daß sich, wie aus dem Film: „Therese Raquin" hervorgeht, ge-lich von Nutzen gewesen. 
rade die Franzosen bei der Aufnahme des Zimwerinventars als * 
ihnen durchaus eberrbürtig erweisen. Ozep macht immerhin seine P ud o w k i n als F e d j a — ein Feldherr, dem es beliebt, 
eigenen Eroberungen, und zwar gewinnt er dem Stille bens^ einmal in einen gewöhnlichen Leutnant Zu verwandeln. Die 
blondere Ausdrucksmog^ ab. Flasche und Glaser aus dem ^^eren Darsteller spielen ihre Rollen; er selbst spielt nicht, er ist 
^isch machen das Absteigequartier zu ernem traun-geren Aufenthalt, ^in Schauspieler, sondern einer, der das Spiel dirigiert. Da 
als es se durch die Dirne zu werden vermöchte; ein Stuhl in großer Regisseur ein Mensch ist, der Menschen schafft, kann 
Großaufnahme reoet wie -er van Gogh; dre Schatten, die über den auch sich zum Fedja umschaffen. Man denkt an Frank Wedekind, 
Vodemschlerchen sie, erinnern an dre Zecken spalten rm Füm: ^r sich in seine Stücke Legab. Dieser Fedja ist darum eine so 
sind ern ^epptch des Grauens. Unvergeßlich ist Merkwürdige und bedeutende Leistung, weil ein Mann ihn der- 
durch die Glasscherbe ms Restaurant: inmitten des m-ensch- xörpert, dem während des Spiels anzumerken ist, daß er mehr- ist 
lrchen Aquariums steht dre Silhouette einer kitschigen Büste. als Fedja. Pudowkin bleibt auch in der Fedjagestalt Pudowkin, 
* und die Döacht, die ihm in der Rolle des Regisseurs eignet, beglänzt 
Die technische Komposition hat ihre spürbaren Mängel. Vor von außen her seine Rolle im Film. 
allem wird Zu viel mit einer erstarrten Zeichensprache gewirtschaftet. Während er sich zum Fedja herabsenLt, steigen die übrigen 
Sie paßt zu den Filmen, in denen das Kollektiv herrscht, das sich Mitwirkenden Zu ihren Rollen empor. Maria Jacobini ist 
formelhaft mitteilen will und muß. Je unvermittelter das Jnvidi- nicht mehr als eine zurechtgestutzte Larve, Gustav Die ß l hält 
duum Heraustritt, desto mehr verflüchtigt. sich die Gültigkeit des zwischen Ab^MR Verdi die Mitte. Ausgezeichnet gewählt ist die 
Symbols. Die stets Wiederkehr enden Kuppeln sind in dem Raum unheimliche des Revolverberleihers, die nur leider wie ein 
Fedjas nicht von vornherein mit Bedeutung geladen, sondern wir- Ibsenschemew Mfta^ und verschwindet. 
Zuletzt löst sich das Glitzern von den Gswändern/verselbst^ 
sich und wird zum erregten Transparent, durch das die Zerfallene 
Rauschwelt undeutlich schimmert. Sobald dann Karenin eintritt, 
er, der ohne Rausch ist, kehren die Elemente in ihre Form Zurück, 
und die Zigeunerinnen sind wieder richtige Frauen. 
Das Interieur wird so sicher gestaltet wie Anoden Revo 
lutionsfilmen der Außenraum. Da der bewohnte Jnnenraum ein 
viel wesentlicheres Bestandstück der bürgerliche^ Welt ist als die 
Straße oder gar der große Platz, sind die Russin freilich auf 
Aber nein. Zum andern nämlich wird eine Tragik einbezogen, 
die mit der Revolution nicht erledigt ist, eine allgemeinmensch 
liche Tragik, deren Darbietung dem ursprünglichen Fedja mehr 
entspricht als die der sozialen. Immer Wieder tauchen die musi 
zierenden Marionetten des OrchestrionZ auf, die doch Wohl nicht 
nur das Los der Entrechteten, sondern das der Menschen über 
haupt symbolisieren sollen. Und mit Nachdruck ist gezeigt, was 
vermutlich für jede Gesellschaftsordnung zutrifst: daß die gleiche 
Gerichtsverhandlung, die dem, Angeklagten zum Schicksal wird, 
für das unbeteiligtes nur eine Sensation bedeutet. Hier 
die Marionetten Zum Zeichen der schlechthin menschlichen Unzu 
länglichkeit und dort, mit demselben Anspruch eingesetzt, die golde 
nen Kirchenkuppeln als Verkörperung der Zu entthronenden Ge 
waltherrschaft: das ist eine schlimme Vermischung der 
Dimensionen. 
Der Riß, der durch den Film geht, wird noch an einer anderen 
Stelle drastisch offenbar. Eine kurze Episode schildert das eheliche 
Glück, dessen sich die Fmu Fedjas nach seinem Verschwinden mit 
Karenin erfreut, schildert es ausgesprochen hämisch als ein 
bürgerliches Familie^ das rein durch die Art der Dar 
stellung entwertet Werden soll. Aber nirgends ist auch nur an 
gedeutet, daß Fedja sich scheiden lassen will, weil er solche häus 
lichen Wonnen verachtet. Nur aus dem abwegigen Verlangen, 
um jeden Preis einen antibourgeoisen Eindruck zu schinden, läßt 
sich die Einschmuggelung der kleinen Szene erklären, die völlig 
isoliert und sinnlos im Ganzen sitzt.
	        
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