Salon 1SZÜ
Von Ginster.
Eine Stille war plötzlich eingetreten, und in der
Stille tönten die Worte:
„Wir müssen unsere Jugend zum Abscheu vor
Kriegen erziehen."
Endlich. Der Bann war gelöst. Herr Berg hatte ge
sprochen. Hatte er wirklich gesprochen? Sein Profil
blieb weiter so unbeweglich, als seien die der Kontur
wegen zusammengepreßten Lippen niemals geöffnet
worden, und nur durch ein Wunder konnte die
Behauptung ihnen entsprungen sein. Gerade weil
Georg sie keineswegs außergewöhnlich fand, begriff
er umso weniger, daß sie wie eine monumentale
Verkündigung wirkte, die unmittelbar aus dem
Himmel gefallen war. Das Monument war schon
aus der Ferne zu sehen. Ich will an die Öffentlich
keit, dachte Georg von neuem, und malte sich aus,
wie schweigsam er sein werde, wenn er es einmal
zu der Berühmtheit von Herrn Berg gebracht hätte.
Um seine glanzvolle Laustahn sofort zu beginnen,
suchte er sich einen Platz in dem Tumult Zu er
obern, den der Ausspruch entfesselt hatte, aber Frau
Heinisch kam ihm zuvor. Er hätte ihr nie die Wild
heit zugetraut, milder sie sich gegen die Bleisoldaten
ereiferte, in denen sieden wahren Grund des Kriegs
übels erblickte. „Ich habe meinem Jungen immer
verwehrt, mit Bleisoldaten zu spielen." Sie richtete
diese Erklärung an Frau Bonnet, die ihr denn auch
das ersehnte Lob spendete. Als sie die Abschaffung
sämtlicher Bleisoldaten forderte, nickte das Profil
zum Zeichen des Beifalls. Von so viel Anerkennung
überschüttet, wölbte sich Frau Heinisch zur sanften
Mulde zurück und schickte wider Frau Heydenreich
ein Lächeln aus, dem die Gewalt einer kriegsstarken
Kompanie der soeben ausgerotteten Bleisoldaten
innewohnte. Die Strafexpedition war von sichtbarem
Erfolg gekrönt. Georg hätte in der Mulde nicht
liegen mögen. Bei seinem mangelhaften Personen
gedächtnis fürchtete er sich, Frau Heinisch oder Frau
Heydenreich in Zukunft auf der Straße zu be
gegnen, denn er wußte bereits im voraus, daß er
sie nicht auseinanderzuhalten vermochte. Während
die Gesellschaft noch erbarmungslos über die Blei
soldaten Herzog — auch Frau Heydenreich mußte
sich wohl oder übel zu ihrer Vernichtung bekennen
empfand er selbst eher Mitleid mit den winzigen
Truppen. Seine Großmutter hatte sie manchmal auf
einer Glasplatte aufgestellt und dann von unten
mit dem Finger gegen' die Fläche geklopft, um die
Reihen in Verwirrung zu bringen. Schließlich war
er ein Kind gewesen wie die andern und hatte doch
die Lust an den frühen gläsernen Ereignissen zu
keiner Zeit auf den richtigen Krieg übertragen. Er
wollte die Soldaten verteidigen, gelangte aber
wieder nicht an die Front, sondern wurde bis zu
dem bleichen Mädchen abgedrängt, in dem nach
gerade eine Glut aufgespeichert war, die völlig hin
gereicht hätte, um alle Bleiheere der Welt einzu-
schmelzen. Wie ein Hochofen bewahrte das Mädchen
die gewaltige Hitze in sich. Statt sich noch in Frau
Bonnet zu versenken, richtete es jetzt seine Augen
ohne Unterlaß auf Herrn Berg, dessen Profil den
sengenden Strahlen unversehrt standhielt. Düster
hing das Profil vor einem goldenen Rahmen und
spornte rein durch seine Gegenwart die nach der
Unterdrückung der Spielschachtelkriege etwas er
mattete Gesellschaft zu neuen Taten an. In den
Tassen der Lee war kalt geworden, es lag ihnen
nichts an dem Tee. Sie jagten die kapitalistischen
Unternehmer davon, sozialisierten die Bergwerke und
vereinigten sich international. Herr Bonnet gähnte
gegen den Patriotismus. Frau Heydenreich lief mit
Frau Heinisch um die Wette, konnte ihr jedoch den
vorhin erzielten Vorsprung nicht abgewinnen. Zur
Entschädigung warf sie dem Profil einen Privatblick
zu, der sich auf die gemeinsamen Plauderstunden
bezog. Sie trug ein bescheidenes dunkles Kleid, das
ihre Schönheit gerade soweit abblendete, als es das
Bekenntnis zur sozialen Umwälzung erforderlich
machte. „Die Klassiker," rief Fräulein Samuel und
flog krumm W die Höhe. Was der Ausdruck
Friedenstaube sollte, begriff Georg nicht mehr. Das
SchLachtbeil der Liebe war ausgegraben. Fräulein
Samuel schwang es durch die Lüfte und versetzte mit
ihm den Klassikern funkelnde Streiche. In ihren
Dramen fänden sich Stellen, die das Völkermorden
verherrlichten. Unsere Jugend wird durch die
Klassiker schon im Keim verdorben. Die Schulaus
gaben müssen in Zukunft von Kriegen gründlich
gereinigt werden. Ihr Organ gellte nicht eigentlich,
sondern pfiff. Tausende von Menschen faßte das
Lokal, zu dem sie die Salonwände auseinander
gepfiffen hatte, eine Massenversammlung, so war es
ihr recht. Das Profil nickte überlebensgroß.
„Ginster, von ihm selbst geschrieben", nennt
sich ein viel gelesener Roman, der 1928 durch
den Verlag Fischer publiziert wurde. Wir
brachten damals Bruchstücke aus dem Werk,
heute sind wir in der Lage, von demselben
Autor das Fragment eines neuen Romans zu
bringen, dessen Hintergrund die jähen Wand
lungen der Nachkriegszeit bilden.