Meise im Schaufenster.
Berlin, im Juni.
Der Asphalt glüht, und die Reisezeit rückt bedrohlich näher.
Bedrohlich: denn in Berlin werden auch angenehme Ereignisse
mit einer Betriebsamkeit angekündigt und eingeleitet, die ihnen den
Schein von Zwangsmaßnahmen verleiht. Man reist hier nicht;
man muß reisen. Ich bin nur auf Weihnachten gespannt; welcher
moralische Druck dann auf die Bevölkerung wird ausgeübt werden,
damit sie das Fest richtig feiert.
Von allen Seiten hagelt es jetzt bereits Ermunterungen zur
Urlaubsfahrt, die ebensovielen Ermahnungen gleichen. Nur selten
freilich werden die Gewissen auf eine so uneigennützige Weise wach
gerüttelt wie durch die große Glastafel, die im Anhalter Bahn
hof steht. Die wunderbare Einrichtung dieser Tafel, auf der das
europäische Eisenbahnnetz abgebildet ist, gereichte dem kaufmänni
schen Organisationsbüro jedes Großbetriebs zur Zierde. In un
unterbrochener Reihenfolge blitzen die verschiedenen Bahnstrecken
auf, die von Berlin aus in die Weite führen, und während sich
die dünnen Leuchtlinien einsam durch die gläserne Nacht schlängeln,
erstrahlt zur Linken oder zur Rechten wie eine Glücksverheißung
der Name der Hauptstadt, der sie jeweils entgegenglühen. Barce
lona, Nizza, Konstantinöpel. Nach Paris sind es nur sechzehn
Stunden von hier.
Aber läge auch das Paradies dicht vor Berlin, der Mensch darf
es nur in ausgerüstetem Zustand betreten. Wie hat er für die
Ferienwochen beschaffen zu sein? Die Schaufenster, deren viele
von Kopf bis zu Fuß auf die Reisesaison eingestellt find, lehren eS
ihn. Bei ihrer Betrachtung, der niemand entrinnt, wird man di-
Empfindung nicht los, daß das Reisen weniger ein privates Ver
gnügen qls ein allgemeines Massenaufgebot ist. Sind die kritischen
Monate gekommen, so werden die Massen einfach aus den Berufen
geholt und von den Geschäften zu den Sommerfrischenmanövern
einberufen. Es ist dafür gesorgt, daß sämtliche Familien, die es sich
überhaupt leisten können, im vorschriftsmäßigen Aufzug an den
Sammelstellen erscheinen. Koffer in allen Größen schichten sich
hinter den Spiegelscheiben an, schwarzlackierte Koffer, Koffer aus >
Leder und Schrankkoffer, die so geräumig und zweckentsprechend!
eingeteilt wie eine Siedlungswohnung sind. In sie hinein wan
dern, wenn es ernst wird, die bunt bedruckten Kleider, die sich
einstweilen in den Ladenauslagen öffentlich zeigen. Ihr Dasein
wird durch weiße Wochenendtischchen und grünes Laub verklärt,
damit die Käufer zu beurteilen imstande sind, wie sie sich später
in der Natur rein malerisch ausnehmen. Die Armee besteht schließ
lich aus Freiwilligen und muß angelockt werden. Ein bekanntes
Warenhaus hat sich in ein einziges Werbebüro für Ferienexpeditio-
nen verwandelt, und feine Schaufenster sind Visionen, wie sie den
Reiselustigen beim Durchblättern des Kursbuches überfallen. Vor
den Augen derer, die meist gewöhnliche Holzbänke benutzen, tut sich
etwa ein, behagliches Abteil der Polsterklasse auf, oder man erblickt
einen internationalen Expreßzug, der ungeduldig in der Bahnhofs
halle schnaubt. Trotz des Gedränges kann kein Gepäckstück abhanden
kommen, da wir noch in Deutschland sind und zwei brave Schupo
männer den Verkehr überwachen. Auf der Fassade des Waren
hauses werden in großer Schrift einige Weltorte namhaft gemacht,
die man wohl als Mittelpunkte der sommerlichen Uebungen auf--
zufassen hat. Sie wirken wie feindliche Kriegsschauplätze.
Manchmal erhält man schon einen Vorgeschmack der Ferien-
seligkeit. Man schleicht durch die Stadthitze und wird Plötzlich von
einer kühlen Brise angeweht, die aus der Seebad-Dekoration eines
Spezialgeschäftes stammt. Vor einem tiefblauen Mittelmeerhimmel
stehen und liegen dort Puppen in Badekostümen, schlanke Wachs
mädchen, die so unnahbar aussehen, als ob sie einen Strandbum
mel mit feschen Herren nicht verschmähten. Solche Herren sind in
anderen Läden dutzendweise zu fickden. Lauter sportgeübte Gestal
ten, die sich zu ihrer Erholung aus Meer auf dem Hintergrund
Segeben haben. Sie scheinen eben erst aus der Großstadt einge
troffen zu sein, denn noch sind ihre Badehosen tadellos trocken, und
der Tennisdreß glänzt ungetrübt neu. Wahrscheinlich werden sie
bald mit den Mädchen Bekanntschaft schließen. Dann wird die
ganze Puppengesellschaft gemeinsam. Wasserspiele veranstalten,
Segelpartien unternehmen und die Nächte hindurch tanzen. Die
Sonne wird ihre Körper bräunen, und das Wachs wird schmelzen.
Ilnd alles wird sein wie in. den beliebten Magazingeschichten, mit
denen sich die Sommerfrischler die Langeweile vertreiben.
S. Kracauer.
Aür höhere Töchter.
Zu Henny Portens erstem Tonfilm.
sL Berlin, Mitte Juni.
Es rauscht auS vergilbten Backfischromanen, und die alte
Gartenlaube ist zu Ehren von Henny Portens Tonfilm:
„Skandal um Eva" festlich illuminiert. Auf dem Lauben-
tischchen liegen Familienzeitschristen, und in den lauschigen Ecken
rascheln die Fliegenden Blätter. Ueber allen Wipfeln ist Ruh...
Die blonde stttige Künstlerin hat sich mit unfehlbarem Instinkt
dieses verschollene mittelständische Milieu ausgesucht, das zu ihr
paßt. Sie wirkt als Lehrerin an einem Lyzeum, aber nennt sie sich
auch Studien-Assessor und Fräulein Doktor gar, so ist sie doch
taufrisch und wandervogeljung. Sehr zum Unterschied von den
Kollegen, die ausgetrocknete Sümpfe sind, damit man das Jugend
wunder besser sprudeln hören kann. Was wäre ein solches Back
fischideal ohne den hochwohlgeborenen Bräutigam? Der Glückliche
ist UnterrichtSminister des Kleinstaates, also ein Mann, mit dem
sich nach den Begriffen höherer Töchter großer Staat machen läßt.
Da die Geschichte ihr vorzeitiges Ende fände, wenn die Braut ihn
gleich kriegte, muß er eine Vergangenheit haben. Und nun denkt
euch, ihr Mädchen: unser liebes Fräulein Doktor nimmt in aller
Heimlichkeit den Knaben zu sich, der die Frucht jener Vergangenheit
ist, böse Restdenzstadtgerüchte laufen über sie um, und erst nach
kilometerlangen Verwicklungen, die schon zur Zeit eurer Groß-
eltern Ladenhüter waren,' dürft ihr den Ausbund von Studien-
Assefsor als Ministersgattin begrüßen.
Die Staubwolken, die das geschickt inszenierte Skandälchen auf-
wirbelt, sind mit keinem Vakuumreiniger zu beseitigen. Sämtliche
verbrauchten Motive, deren man hat habhaft werden können, feiern
hier ihre Auferstehung, und ihre Zahl ist so wenig zu errechnen
wie die der NippeS-Sachen, die einst zum Schmuck trauter deut
scher Heime verwandt worden sind. Da ist sie wieder, die ältliche
Jungfrau, die sich des im Dunklen erhaltenen Kusses schämt. Da^
« bekommen es Spießer mit der Angst zu tun, weil sie badende,
Frauen durchs Astloch beobachtet haben. Da werden harmlose
Witzchen auf eine Art gerissen, daß sie wie drastische Zoten wirken.
Und Herz, was begehrst du mehr als Mädchen, die Laute zupfen
und in den Abend hinein singen? Als das süße Sümmchen eines
Bübchens in Großaufnahme? Als die holde Schalkhaftigkeit
Henny Portens selber, wenn sie, vom Scheitel bis zur Sohle ein
Gretchen, ihren Minister umarmt? Vermutlich steht der Minister
rechts von der Deutschen Volkspartei.
Skandal um Eva? Ein Skandal, jawohl, aber gewiß nicht
um Eva. Skandalös ist viel eher, daß ein Regisseur wie G. W.
Pabst, der „Westfront 1918" gedreht hat, das Arrangement
eines solchen Plunders besorgt. Um eine Regiekunst, die jeden
Stoff verarbeitet, der ihr gerade vorgesetzt wird, kann es nicht
gut bestellt sein. Der größere Skandal jedoch ist die beifällige Auf
nahme des (im Ufa-Palast am Zoo uraufgeführten) Films durchs
Publikum. Oder vielleicht kein Skandal, sondern ein traurige Be
stätigung dafür, daß der Krieg vergessen ist und breite Volks
schichten nichts hinzugelernt haben. Sie sind stabilisiert. Sie
fühlen sich schon wieder in der Stickluft von anno dazumal wohl.
Die Gartenlaube ist Trumpf, Herzblättchens Zeitvertreib wird
zum Filmgeschäft. Wir haben es weit gebracht.