War in der Zeit vor dem Krieg die Biogra-
pbie das seltene Werk der Belebrsamkeit, so
ist sie beute ein verbreitetes literariscbes Br-
reugnis. Bs sind die Biteraten, die Brosakünsi-
lsr, denen die Biograpbie Lur Borm der Aussage
^vircB In Brankreicb, England, Deutscbland be-
scbreiben sie das Beben der von Bmil Budwig
nocb übrig gelassenen ökkentlicben Bersonen,
und bald wird es keinen großen Bolitiker, Beld-
berrn, Diplomaten mebr geben, dem niebt ein
mebr oder weniger verganglicbes Denkmal ge
setzt wäre. Bber sebon einen Diebter; denn
diese sieben lang niebt so in Bunst wie jene
Kamen, dureb die das gesebiebtliebe Beben be
stimmt worden ist. Bin auffälliger Wandel ge
gen trüber: wäbrend einst die Künstlerbiogra-
pbien unter den Bebüdeten gedieben, entstam
men die gegenwärtigen Beiden Zumeist der
Historie und werden von den belletristiseben
Verlegern in Nengs kür die Nenge gedruckt.
Nan bat die Keigung rur biograpbiscben Dar
stellung, die sieb seit einiger Zeit in Westeuropa
eingerostet bat, kurserband als eine Node abker-
tigen wollen. 8Le ist es so wenig, wie die Kriegs
romane es waren. Vielmebr sind ibre unmodi-
Zeben Bründs in den weltgescbiebtbeben Ereig
nissen der leisten andertbalb «labrLebnte ru
sucben. Icb verwende das Wort Weltgesebicbte
nur ungern, weil es leiebt einen Bauscb bervor-
rukt, der ibm böcbstens dann Lukommt, wenn
die Weltgescbicbte wirklieb 2ur ^llerwsltsge-
sebicbte wird. Im Bundfunk 2. B., aus dem 68
oft „Kier Baris" oder „Kier Bondon" tönt, er
füllt die Kennung der Weltstädte die Nission
eines ordinären Buseis. ^.ber es läßt siob nicbt
leugnen, daß der Weltkrieg mitsamt den politi-
scben und gesellsebaktlioben Veränderungen in
seinem Befolge, daß niebt LuletLt aueb die
neuen tecbniseben Erfindungen den Alltag der
sogenannten Kulturvölker tatsäcblicb erscbüt-
tert und umgebrooben baben. ^.uk dem Bebiet,
um das es bier gebt, baben sie das Bleicbe be
wirkt wie die Belativitätstbeorie in der Bbysik.
Ist dureb Binstein unser Zeit-Baum-8^stem Lum
Brensbegriik geworden, so dureb den ^.nsobau-
ungsunterriebt der Besebiebts das selbstberr-
iiebe 8ubjekt. ^lKu naebbaltig bat in der jüng
sten Vergangenbeit jeder Nenseb seine Kiebtig-
keit und die der andern erkabren müssen, um
noeb an die VollLugsgewalt des beliebigen Bin-
Lelnen 2u glauben. 8ie aber bildet die Voraus
setzung der bürger^oben Biteratur in den Vor-
kriegsjabren. Die Beseblossenbeit der alten Bo-
mankorm spiegelt die vermeintliebe der Bersön-
bebkeit wider, und seine Broblematik ist stets
eine individuelle. Das Vertrauen in die objek
tive Bedeutung irgendeines individuellen BeLUgs-
svstems ist den 8obaffend6n ein kür allemal ver
loren gegangen. Nit dem 8ebwinden dieses
festen Koordinatennetzes baben aber aueb alle
darin eingetragenen Kurven ibre Bildgestalt ein
gebüßt. 80 wenig sieb der ^briktsteüer nocb
auf sein lob berufen kann, ebensowenig gewäbrt
ibm die Welt einen Kalt; denn beider 8truk-
turen bedingen einander, ^enes ist relativiert,
diese mit ibren Bebalten und Biguren in einen
undurobsiobtigen Bmlauk gebraobt. Kiobt um
sonst spriobt man von der Krisis des Bomans.
8ie bestebt darin, daß die bisberige Bomankom
position dureb die ^.ukbebung der Konturen des
Individuums und seiner Begenspieler außer
Krakt gesetzt ist. (Darum ist noeb niebt der
Boman als Kunstgattung bistoriseb geworden.
Denkbar wäre, daß er in einer der verwirrten
^Welt angepakten Borm neu erstünde, daß die
Verwirrung selber episebe Borm gewönne.)
Inmitten der erweiebten unkaßlieben Welt
wird der Zug der Besebiebte Lum Blement.
Die Besobiebte, die siob uns. eingebrookt bat,
tauobr als Bestland aus dem Neer des Bestalt-
Von Dr. K. Mr>s«s«H^.
losen, KiobtrugestaltendLN auf. 8is verdicbtet
siob dem beutigen 8obrift8teller, der sie niebt
wie der Historiker unmittelbar anpaoken kann
und mag, im Beben ibrer weitbin siobtbaren
Kelden. Kiobt um des Keroenkults willen wer
den diese rum Begenstand von Biograpbien; son
dern aus dem Bedürfnis naob einer reobtmäki-
gen literarisoben Borm. In der lat sobeint der
Ablauf eines bistoriseb wirksamen Bebens sämt-
liobe Bestandteile 2u bergen, die unter den berr-
sobenden Umständen ein Brosagebilde ermög-
lioben. Das in ibm eingefangene Dasein ist eine
Kristalbsation des gesoniobtboben Waltens,
dessen Bnantastbarkeit außer Zweifel stebt. Bnd
wird niobt die Objektivität der Darstellung dureb
die bistorisobe Bedeutung des Urbildes verbürgt?
^kn ibm glauben die literarisoben Biograpben
endliob die 8tütL6 gefunden xu baben, die sie
anderswo vergebbob suobten, das gültige LeLugs-
s^stem, das sie der subjektiven Willkür entbebt.
8eine Verbindlichkeit ist ganr offenbar eine
Bolge seiner BaktiLität. Die Kauptperson der
jeweiligen Biograpbie bat wirklieb gelebt und
alle Züge dieses Bebens sind dokumentarisch
belegt. Der Kern, den einst die erfundene Kand-
lung bot, wird in einem 8obioksal wiedererlangt,
das beglaubigt ist. Bs ist rugleiob aueb die
Barantie der Komposition. Zede geschichtliche
Bestatt bat bereits in siob selber Bestalt. 8ie
bebt Z:u einer bestimmten Zeit an, entwickelt
sieb im Widerstreit mit der Welt, gewinnt Bm-
riß und Bütte, tritt ins ^tter rurüok und erbsobt.
Der ^.utor ist also niebt auk ein individuelles
8obema angewiesen, er erbält eines, das ibn wie
jeden verpflichtet, fertig ins Haus. Des freut
sieb niebt so sebr seine Bequemlichkeit als sein
Bewissen; vorausgesetzt, daß es sieb niebt um
die serienweise Babrikation von Biograpbien aus
Konjunkturgründen bandslt. Denn die Biogra-
pbie maobt dem Boman beute nur darum Kon-
kurrenL, weil sie rum Bntersebied von diesem,
der frei schwebt, 8tokke verarbeitet, die ibre
Borm bedingen. Die Noral der Biograpbie ist:
daß sie im Obaos der gegenwärtigen Kunstübun-
gtzn die einzige scheinbar notwendige Brosakorm
darsteltt.
Bins des stabilisierten Bürgertums.
Dieses ist kreiliob daru gezwungen, sieb allen
Brkenntnisssn und Bormproblemen ru verwei
gern, die seinen Bestand gekäkrden. Ls spürt
die Naebt der Desebiebte in den Knooben und
merkt sebr wobl. dak das Individuum anonym
geworden ist, riebt aber aus seinen Binsiebten,
die sieb ibm mit der Bewalt pb.vsiognomiseber
Brkabrungen aukdrängen, keinen wie immer ge^
arteten 8ebluk, der die aktuelle Situation ru er
beben vermöebte. Vor der Konfrontation mit
ibr sebeut es im Interesse der ^lbsterbabung
rurüek. Weder läkt sieb die literarisebe Blite
der neuen Bourgeoisie ernstbakt darauf Gin, die
materiabstisebe Dialektik ru durebdringen, noeb
stellt sie sieb offen dem Anprall der unteren
Nassen, noeb wagt sie sieb irgendwo aueb nur
einen 8ebritt über die von ibr erreiebte Brenre
Ninaus ins jenseits der Klasse. Bnd doeb könnte
sie erst dann auf Orund stoken, wenn sie sieb
obne jede ideologisebe 8ebutLbübe an die
Bruebstebe unserer Oessbsebaktskonstruktion
begäbe und sieb auf diesem vorgesebobenien
Bosten mit den sorialen Näebten auseinander-
setrte, in denon sieb beute die Wirkliebkeit ver
körpert. Hier und sonst nirgends sind die Br-
kenntnisss rü bolen, die, vielleiobt, eine eebte
Kunstkorm gewLbrleisten. Denn die Gültigkeit,
deren diese bedarf, kommt allein den Aussagen
des korigesebrittensten Bewußtseins ru, das siob
bier, nur bier entwickeln kann, ^.us ibm, das
Kalt scbenkt, mag die literarisebe Bestall er-
waebsen; oder sie erwäcbst niebt aus ibm, dann
bliebe uns eben in der Begenwart die Bestallung
verwebrt. (Wenn oben gesagt wurde, daß die
Verwirrung selber epische Borm gewinnen könne,
so ist jetLt binLULukügen: nur auk dem Funda
ment des kortgesebrittensten Bewußtseins, das die
Verwirrung durchschaut.) Die Biograpbie als
Borm der neubürgerboben Literatur ist ein bel
eben der B1 uebt; genauer: der Ausflucht. Um
sieb niebt dureb Erkenntnisse bloßLustellen, die
das Dasein der Bourgeoisie in Brage Lieben, bar
ren die Viograpben unter den 8obrift8teUern wie
vor einer Wand an der 8ebwebe, bis Lu der sie
von den Weltereignissen Vorgetrieben worden
sind. Daß sie von ibr aus wieder ins bürgerliebe
Hinterland Hieben, statt sie vu übertreten, be
weist die ^.nal^se des Durobschnitts der Biogra-
pbien. Diese betraebten rwar das gesobiobtliebe
Walten, verlieren sieb aber so in seiner Betraob-
tung, daß sie sieb niebt mebr Lur Gegenwart
Lurüekkinden. 8ie trekken unter den bistoriseben
Kroßen eine wenig wäblerisobe ^uswabl, die
jedenfalls niebt dureb die Anerkennung der
aktuellen 8ituation bedingt ist. 8ie . möobten der
Bs^obologie ledig werden, von der die Vorkriegs-
prosa bestimmt war, und arbeiten tret? der
tzobeinobjektivität ibres 8tokkgebiets teilweise
mit den alten psychologischen Kategorien. 8ie
baben den suspekten Individualismus Lur Hinter
tür binausgeworken und geleiten offiziell abge
stempelte Individuen dureb den Kaupteingang
von neuem ins bürgerliebe Blaus. Womit Lu-
gleieb ein Zweites erreiebt wäre: die unausge-
^»roebene Absage an ein. Begiment, üas aus den
rieten der Nasse aulsteigt. Die literarisebe Bio-
grapbie ist eine OrenLersebeinung, die binter der
(IrenLe bleibt.
8ie ist noeb etwas anderes als blöke Bluebt.
80 gewik sieb das Bürgertum beute im Beber
gang befindet, so gewik wdbnt jed^r seiner Bei
stungen eine doppelte Bedeutung inne. Bs be-
absiebtigt, mit der Beistung- seine BxistenL 2U
verteidigen, und bewabrbeitet unäbsiebtlieb mit
ibr den Vollzug des Bebergangs. Wie Auswan
derer ibre Babseligkeiten Lusammenraklen, so
sammelt, die bürgerliebe Biteratur den Hausrat,
der bald niebt mebr die alte 8tätte baben wird.
Das Notiv der Bluebt, dem die Bn^abl der Bio-
grapbien ibre Bntstebung sebuldet, wird von dem
der Bettung überblendet. Wenn es eine Be
stätigung kür das Bnde des Individualismus gibt,
ist sie in dem Nuseum der groken Individuen
Lu erblicken, das die Biteratur der (Gegenwart
boobtübrt. Bnd die ^.uswabüosigkeit, mit der
sie sieb aller ^taatspersonen-bemaebtigt, bezeugt
niebt nur das Unvermögen nur riebtigen Leit-
gebundenen Wabl, sondern ebensosebr die Bild
des Betters. Bs gilt einen Bildersaal einLÜrieb-
ten, in dem sieb die Brinnerung ergeben kann,
der jedes Bild gleieb wert ist. Wie fragwürdig
immer die eine oder andere döiograpbie sei: der
OlanL des ^.bsebieds rubt. auk ibrer Oemein-
sebakt.
8oweit ich sebe, gibt 68 nur- ein einLiges
biograpbisebes Werk, das Von der 8umme der
übrigen grundsätLliok gesobieden ist. Da 8
^BroLkis. In ibm sind die Bedingungen durob-
brooben, denen die literarisebe Biograpbie unter-
stebt. Die Bebensbesobreibung des bistorisoben
Individuums ist bier niebt ein Nittel, um der
Brkenntnis unserer 8ituation ausLuweieben, son
dern dient nur da^u, sie Lu entbüllen. Darum
formt sieb in dieser ^lbstdarstellung aueb ein
anderes Individuum aus als 63,8 in der bürger-
lioben Literatur gemeinte. Bines, das insofern
bereits übergegangen i8t, als 68 nur dureb 8eine
Bransparenr gegen die Wirkliebkeit wirklieb
wird, niebt Leer die eigens Wirkliebkeit be-
bauptet. Bin neu68 Individuum, außerhalb ds8
Dunstkreises der Ideologien: 68 defekt genau
bis rm dem Brade, in dem 68 sieb im Interesse
der erkannten aktuellen Notwendigkeiten auk-
geboben trat.