S. Kracauer.
wirklich nicht genau.
Paares, das stch gestritten haben mochte und nun Arm in Arm
zwischen Mond und Asphalt lustwandelte. Das dritte Mal bedeutete
der Schrei zweifellos Mord. Ich lief um die Ecke, kaum daß ich
ihn vernahm, und verdoppelte meine Anstrengungen, als ich mit
mir noch andere Leute laufen sah. Wir überquerten den- Fahr-
damm und bogen in die Straße ein, aus der das Schreien ge
drungen war. Dort blickten uns die wenigen Fußgänger verwundert
nach. Sie schlenderten langsam. Eine Tür fiel vor uns ins Schloß.
Heute vermute ich, daß nicht die Menschen in diesen Straßen
schreien, sondern die Straßen selber. Wenn sie es nicht mehr er
tragen können, schreien sie ihre Leere heraus. Aber ich weiß es
Schreie auf der Straße.
Berlin, im Juli.
Die Straßen im Westen Berlins sind freundlich und sauber, sie
haben eine gehörige Breite, und oft reihen sich nette grüne Bäumchen
vor ihren Häusern. Aber trotz des angenehmen, ja herrschaftlichen
Eindrucks, den sie machen, wird man nicht selten ohne jeden Anlaß
von einem panischen Schrecken in ihnen erfaßt. Woher er stammt?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß sich manchmal, wenn ich die
mir gewohnten Straßen kreuze, die Angst meiner bemächtigt, es
müsse sich unverzüglich ein Auflauf bilden und irgendetwas
Schlimmes geschehen. Vielleicht rührt die Angst daher, daß sich diese
Straßen in der Endlosigkeit verlieren; daß sie von Omnibussen
durchrattert werden, deren Insassen während der Fahrt nach ihrem
entlegenen Bestimmungsort auf die Landschaft der Trottoirs, der
Schaufenster und der Balköne so gleichgültig herabblicken wie auf
ein Flußtal oder eine Stadt, in der sie nie auszusteigen gedenken;
daß sich eine zahllose Menschenmenge in ihnen bewegt, immer neue
Menschen mit unbekannten Zielen, die sich überschneiden wie das
Liniengewirr eines Schnittmusterbogens. Jedenfalls ist mir mit
unter, als läge an allen möglichen verborgenen Stellen ein Spreng
stoff bereit, der im nächsten Augenblick eine Explosion hervor-
rusen kann.
Mit unverminderter Deutlichkeit erinnere ich mich an einen
Abend im Umkreis der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Wir saßen
in einer kleinen Gesellschaft zusammen, als ich auf einmal merkte,
daß die weite Platzfläche einen Skandal ausbrütete. Es ereignete
sich nichts, kein Glas klirrte, und die Autos beschrieben wie sonst
ihre Bahnen. Aber jene Atmosphäre, die nachmittags verbrauchte
Menschenmassen und abgewetzte Hausfronten zu umlagern Pflegt,
war mit einer unerträglichen Spannung geladen. Nach einer kurzen
Atempause brach dann auch richtig ein Krach herein. Ein national
sozialistischer Trupp — die Leute trugen damals noch Uniform —
glaubte sich von den Gästen im Cafe verhöhnt, stieg über die
Brüstung und begann zu Loben. Zuletzt rückte die Schupo an, die
den Frieden herstellte...
Doch ich hatte eigentlich nicht diesen Krach erwartet, sondern
einen anderen, der gar keine bestimmte Herkunft hätte haben dürfen,
und der nun wahrscheinlich nur darum nicht eintraf, weil durch den
nationalsozialistischen Radau die Luft bereits wieder gereinigt
worden war.
Gewiß, es gibt ganze Stadtteile, denen der durchdringende
Geruch politischer Krawalle anhaftet; Neukölln etwa ^vder der
Wedding. Ihre Straßen sind von Natur aus Aufmarschstraßen,
und auch im Einerlei des Alltags bedarf es keines besonderen
Ahnungsvermögens, um zu spüren, daß Arbeiterdemonstrationen
für sie ein häufiges Schauspiel sind, daß sich zu manchen Stunden
sämtliche Fenster mit Weibern und Kindern füllen, die auf das
Gewoge unter ihnen starren, daß der gleichmäßige Schritt vieler
Tausende immer wieder die Häuser erzittern läßt, daß Prokla
mationen und rote Fahnen unaufhörlich an den grauen Wänden
vorübergleiten. Aber diese Szenen haben einen greifbaren, einen
beinahe nüchternen Inhalt, der sich auch den Straßenzügen mit-
teilt,^ in denen sie vor sich gehen. Zum Unterschied von solchen
Räumen flößen jene Straßen des Westens ein Grauen ein, das
gegenstandslos ist. Weder werden sie von Proletariern bewohnt,
noch sind sie Zeugen des Aufruhrs. Ihre Menschen gehören nicht
Zusammen, und es fehlt ihnen durchaus das Klima, in dem ge
meinsame Aktionen entstehen. Man erhofft hier nichts voneinander.
Ungewiß streichen sie hin, ohne Inhalt und leer.
Ist es diese Leere, die sie für Sekunden so unheimlich macht? Ich
wiederhole, daß ich es nicht weiß. Ich kann nur sagen, daß die
Tauentzienstraße bös in der Sonne glitzert wie ein unmenschlicher
Feind, und daß sich in allen den Straßen, die ich meine, ab und zu
eins Erregung ansammelt, die, zur Sichtbarkeit gezwungen, dem
wütenden Zickzackheer der SchniLLmusterlinien gleichen müßte. Und
ich weiß auch, daß in der Nachbarschaft des Kurfürstendamms, dort,
wo Kinder hinter den offenen Parterrefenstern arbeiten oder ein '
Tierarzt den Hund, den er gerade behandelt, im Vorgarten spazie
ren führt, von Zeit zu Zeit merkwürdige Schreie zu hören sind. In
drei verschiedenen Sommernächten habe ich die Schreie gehört. Sie
Zeichnen sich dadurch aus, daß man nie ihren Grund erfährt. Das
erste Mal, als der Schrei ertönte, ging ich ihm nach und stieß auf
einen Betrunkenen, der stumm davonschwankte, sobald ich in seiner
Nähe war. Das Zweite Mal schwebte der Schrei — es mußte der
gellende Schrei eines Mädchens sein — oberhalb eines jungen
Aas Werkiner Kyrenmat.
Vorläufige Bemerkungen.
Lr Berlin, im Juli.
Wie wir mitgeteilt haben, ist in dem Wettbewerb, der zur
Umgestaltung der Schinkelschen Neuen Wache in eine Gedächtnis
stätte für die Toten des Weltkrieges ausgeschrieben war, die Ent
scheidung des Preisrichterkollegiums gefallen. Sechs bekannte
Architekten waren zur Teilnahme aufg fordert. Die Gutachter,
zu denen unter anderem der Reichskunstwart Dr. Redslob,
Generaldirektor Wätzoldt und Professor Wilhelm Kreis gehörten,
haben Professor Heinrich Tessenow mit dem ersten Preis bedacht,
den Architekten Mies van der Rohe an zweiter und Professor
Pölzig an dritter Stelle ausgezeichnet. Die Wahl des zur Aus
führung bestimmten Entwurfes liegt nunmehr beim Ministerium
und wird in diesen Tagen erfolgen. Sofort danach werden auch
die Arbeiten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Ausgelobt worden ist der Wettbewerb von den Regierungen des
Reiches und des preußischen Staats. Sie mochten nicht zu Unrecht
der Auffassung sein, daß der Schinkelbau in mehrfacher Hinsicht
für seinen neuen BestimmungsZweck geeignet ist. Er liegt inr
Stadtkern, an einem der repräsentativsten Orte Berlins. Ferner:
er ist, nicht anders wie das Grab unter dem arc de triomxke,
dem weltstädtischen Verkehr ausgesetzt und ihm zugleich durch das
Kastanienwäldchen entzogen. Hinzu kommt die klassische Form des
Monuments, die sich dem Bewußtsein des In- und Auslandes ein
geprägt hat und selbstverständlich unverändert beibehalten wird.
So wie der historische Schinkelbau sich äußerlich darbietet, ist
er zweifellos eine anständige Hülle für die Gedächtnisstätte, zu der
sein seit langem unbenutztes Innere umgewandelt werden soll.
Aber bedarf es denn jetzt und gerade in unserer Situation
eines solchen Erinnerungszeichens? Die Antwort auf diese ver
trackte Frage kann hier dahingestellt bleiben. Tatsache ist jedenfalls,
daß der Gedanke des Ehrenmals die deutsche Öffentlichkeit viel
Zu sehr beschäftigt hat, als daß ihm nicht in irgendeiner Weise
Rechnung getragen werden müßte. Das Berliner Projekt kommt
ihm entgegen. Es wäre vollends gerechtfertigt, wenn durch seine
Verwirklichung der unglückliche Plan eines Reichsehrenmals nun
endgültig von der Bildfläche verschwände. Man könnte dann aber um
so leichter auf ihn verzichten, als die Schinkelsche Wache nicht nur
ein lokales Architekturerzeugnis ist, sondern ein großes Werk
deutscher Baukunst. Wird es den Gefallenen des Weltkriegs ge
weiht, so -ehrt in ihm das ganze Reich seine Loten.
Wir haben einstweilen die preisgekrönten Entwürfe noch nicht
gesehen. Es ist anZunehmen, daß sie verschieden beschaffen sind,
daß der eine vielleicht eine Monumentalität erstrebt, die der andere
zu vermeiden sucht. Jenen Stellen, die sich jetzt über die von den
Gutachtern ausgewählten Lösungen schlüssig werden müssen, möch
ten wir in letzter Stunde Zu bedeuten geben: daß uns nur das
Einfachste, das unwilhelminisch Schlichte gemäß ist. Weder steht
uns heute die monumentale Geste Zu, noch verfügen wir über die
Sprache der Symbolik. Deutschland ist arm wie Zu Schinkels Zei
ten und muß arbeiten. Unstreitig wird der Entwurf der beste sein,
der sich jeder falschen Großartigkeit enthält, der so nüchtern ist, wie
wir sein sollen, und nicht mehr darstellen will, als uns zukommt.
5L^-52^t.