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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

S. Kracauer. 
wirklich nicht genau. 
Paares, das stch gestritten haben mochte und nun Arm in Arm 
zwischen Mond und Asphalt lustwandelte. Das dritte Mal bedeutete 
der Schrei zweifellos Mord. Ich lief um die Ecke, kaum daß ich 
ihn vernahm, und verdoppelte meine Anstrengungen, als ich mit 
mir noch andere Leute laufen sah. Wir überquerten den- Fahr- 
damm und bogen in die Straße ein, aus der das Schreien ge 
drungen war. Dort blickten uns die wenigen Fußgänger verwundert 
nach. Sie schlenderten langsam. Eine Tür fiel vor uns ins Schloß. 
Heute vermute ich, daß nicht die Menschen in diesen Straßen 
schreien, sondern die Straßen selber. Wenn sie es nicht mehr er 
tragen können, schreien sie ihre Leere heraus. Aber ich weiß es 
Schreie auf der Straße. 
Berlin, im Juli. 
Die Straßen im Westen Berlins sind freundlich und sauber, sie 
haben eine gehörige Breite, und oft reihen sich nette grüne Bäumchen 
vor ihren Häusern. Aber trotz des angenehmen, ja herrschaftlichen 
Eindrucks, den sie machen, wird man nicht selten ohne jeden Anlaß 
von einem panischen Schrecken in ihnen erfaßt. Woher er stammt? 
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß sich manchmal, wenn ich die 
mir gewohnten Straßen kreuze, die Angst meiner bemächtigt, es 
müsse sich unverzüglich ein Auflauf bilden und irgendetwas 
Schlimmes geschehen. Vielleicht rührt die Angst daher, daß sich diese 
Straßen in der Endlosigkeit verlieren; daß sie von Omnibussen 
durchrattert werden, deren Insassen während der Fahrt nach ihrem 
entlegenen Bestimmungsort auf die Landschaft der Trottoirs, der 
Schaufenster und der Balköne so gleichgültig herabblicken wie auf 
ein Flußtal oder eine Stadt, in der sie nie auszusteigen gedenken; 
daß sich eine zahllose Menschenmenge in ihnen bewegt, immer neue 
Menschen mit unbekannten Zielen, die sich überschneiden wie das 
Liniengewirr eines Schnittmusterbogens. Jedenfalls ist mir mit 
unter, als läge an allen möglichen verborgenen Stellen ein Spreng 
stoff bereit, der im nächsten Augenblick eine Explosion hervor- 
rusen kann. 
Mit unverminderter Deutlichkeit erinnere ich mich an einen 
Abend im Umkreis der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Wir saßen 
in einer kleinen Gesellschaft zusammen, als ich auf einmal merkte, 
daß die weite Platzfläche einen Skandal ausbrütete. Es ereignete 
sich nichts, kein Glas klirrte, und die Autos beschrieben wie sonst 
ihre Bahnen. Aber jene Atmosphäre, die nachmittags verbrauchte 
Menschenmassen und abgewetzte Hausfronten zu umlagern Pflegt, 
war mit einer unerträglichen Spannung geladen. Nach einer kurzen 
Atempause brach dann auch richtig ein Krach herein. Ein national 
sozialistischer Trupp — die Leute trugen damals noch Uniform — 
glaubte sich von den Gästen im Cafe verhöhnt, stieg über die 
Brüstung und begann zu Loben. Zuletzt rückte die Schupo an, die 
den Frieden herstellte... 
Doch ich hatte eigentlich nicht diesen Krach erwartet, sondern 
einen anderen, der gar keine bestimmte Herkunft hätte haben dürfen, 
und der nun wahrscheinlich nur darum nicht eintraf, weil durch den 
nationalsozialistischen Radau die Luft bereits wieder gereinigt 
worden war. 
Gewiß, es gibt ganze Stadtteile, denen der durchdringende 
Geruch politischer Krawalle anhaftet; Neukölln etwa ^vder der 
Wedding. Ihre Straßen sind von Natur aus Aufmarschstraßen, 
und auch im Einerlei des Alltags bedarf es keines besonderen 
Ahnungsvermögens, um zu spüren, daß Arbeiterdemonstrationen 
für sie ein häufiges Schauspiel sind, daß sich zu manchen Stunden 
sämtliche Fenster mit Weibern und Kindern füllen, die auf das 
Gewoge unter ihnen starren, daß der gleichmäßige Schritt vieler 
Tausende immer wieder die Häuser erzittern läßt, daß Prokla 
mationen und rote Fahnen unaufhörlich an den grauen Wänden 
vorübergleiten. Aber diese Szenen haben einen greifbaren, einen 
beinahe nüchternen Inhalt, der sich auch den Straßenzügen mit- 
teilt,^ in denen sie vor sich gehen. Zum Unterschied von solchen 
Räumen flößen jene Straßen des Westens ein Grauen ein, das 
gegenstandslos ist. Weder werden sie von Proletariern bewohnt, 
noch sind sie Zeugen des Aufruhrs. Ihre Menschen gehören nicht 
Zusammen, und es fehlt ihnen durchaus das Klima, in dem ge 
meinsame Aktionen entstehen. Man erhofft hier nichts voneinander. 
Ungewiß streichen sie hin, ohne Inhalt und leer. 
Ist es diese Leere, die sie für Sekunden so unheimlich macht? Ich 
wiederhole, daß ich es nicht weiß. Ich kann nur sagen, daß die 
Tauentzienstraße bös in der Sonne glitzert wie ein unmenschlicher 
Feind, und daß sich in allen den Straßen, die ich meine, ab und zu 
eins Erregung ansammelt, die, zur Sichtbarkeit gezwungen, dem 
wütenden Zickzackheer der SchniLLmusterlinien gleichen müßte. Und 
ich weiß auch, daß in der Nachbarschaft des Kurfürstendamms, dort, 
wo Kinder hinter den offenen Parterrefenstern arbeiten oder ein ' 
Tierarzt den Hund, den er gerade behandelt, im Vorgarten spazie 
ren führt, von Zeit zu Zeit merkwürdige Schreie zu hören sind. In 
drei verschiedenen Sommernächten habe ich die Schreie gehört. Sie 
Zeichnen sich dadurch aus, daß man nie ihren Grund erfährt. Das 
erste Mal, als der Schrei ertönte, ging ich ihm nach und stieß auf 
einen Betrunkenen, der stumm davonschwankte, sobald ich in seiner 
Nähe war. Das Zweite Mal schwebte der Schrei — es mußte der 
gellende Schrei eines Mädchens sein — oberhalb eines jungen 
Aas Werkiner Kyrenmat. 
Vorläufige Bemerkungen. 
Lr Berlin, im Juli. 
Wie wir mitgeteilt haben, ist in dem Wettbewerb, der zur 
Umgestaltung der Schinkelschen Neuen Wache in eine Gedächtnis 
stätte für die Toten des Weltkrieges ausgeschrieben war, die Ent 
scheidung des Preisrichterkollegiums gefallen. Sechs bekannte 
Architekten waren zur Teilnahme aufg fordert. Die Gutachter, 
zu denen unter anderem der Reichskunstwart Dr. Redslob, 
Generaldirektor Wätzoldt und Professor Wilhelm Kreis gehörten, 
haben Professor Heinrich Tessenow mit dem ersten Preis bedacht, 
den Architekten Mies van der Rohe an zweiter und Professor 
Pölzig an dritter Stelle ausgezeichnet. Die Wahl des zur Aus 
führung bestimmten Entwurfes liegt nunmehr beim Ministerium 
und wird in diesen Tagen erfolgen. Sofort danach werden auch 
die Arbeiten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. 
Ausgelobt worden ist der Wettbewerb von den Regierungen des 
Reiches und des preußischen Staats. Sie mochten nicht zu Unrecht 
der Auffassung sein, daß der Schinkelbau in mehrfacher Hinsicht 
für seinen neuen BestimmungsZweck geeignet ist. Er liegt inr 
Stadtkern, an einem der repräsentativsten Orte Berlins. Ferner: 
er ist, nicht anders wie das Grab unter dem arc de triomxke, 
dem weltstädtischen Verkehr ausgesetzt und ihm zugleich durch das 
Kastanienwäldchen entzogen. Hinzu kommt die klassische Form des 
Monuments, die sich dem Bewußtsein des In- und Auslandes ein 
geprägt hat und selbstverständlich unverändert beibehalten wird. 
So wie der historische Schinkelbau sich äußerlich darbietet, ist 
er zweifellos eine anständige Hülle für die Gedächtnisstätte, zu der 
sein seit langem unbenutztes Innere umgewandelt werden soll. 
Aber bedarf es denn jetzt und gerade in unserer Situation 
eines solchen Erinnerungszeichens? Die Antwort auf diese ver 
trackte Frage kann hier dahingestellt bleiben. Tatsache ist jedenfalls, 
daß der Gedanke des Ehrenmals die deutsche Öffentlichkeit viel 
Zu sehr beschäftigt hat, als daß ihm nicht in irgendeiner Weise 
Rechnung getragen werden müßte. Das Berliner Projekt kommt 
ihm entgegen. Es wäre vollends gerechtfertigt, wenn durch seine 
Verwirklichung der unglückliche Plan eines Reichsehrenmals nun 
endgültig von der Bildfläche verschwände. Man könnte dann aber um 
so leichter auf ihn verzichten, als die Schinkelsche Wache nicht nur 
ein lokales Architekturerzeugnis ist, sondern ein großes Werk 
deutscher Baukunst. Wird es den Gefallenen des Weltkriegs ge 
weiht, so -ehrt in ihm das ganze Reich seine Loten. 
Wir haben einstweilen die preisgekrönten Entwürfe noch nicht 
gesehen. Es ist anZunehmen, daß sie verschieden beschaffen sind, 
daß der eine vielleicht eine Monumentalität erstrebt, die der andere 
zu vermeiden sucht. Jenen Stellen, die sich jetzt über die von den 
Gutachtern ausgewählten Lösungen schlüssig werden müssen, möch 
ten wir in letzter Stunde Zu bedeuten geben: daß uns nur das 
Einfachste, das unwilhelminisch Schlichte gemäß ist. Weder steht 
uns heute die monumentale Geste Zu, noch verfügen wir über die 
Sprache der Symbolik. Deutschland ist arm wie Zu Schinkels Zei 
ten und muß arbeiten. Unstreitig wird der Entwurf der beste sein, 
der sich jeder falschen Großartigkeit enthält, der so nüchtern ist, wie 
wir sein sollen, und nicht mehr darstellen will, als uns zukommt. 
5L^-52^t.
	        
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