Straßenpflaster, unter den Glühbirnreihen der Tanzlokale und in
dunklen Treppenhäusern.
Revolutionäre Absichten haben die Avantgarde zur surrealisti
schen Zersetzung des üblichen Sehbildes geführt. Die Sprengung
der Kunstformen sollte die des bürgerlichen Lebens Widerspiegeln
und vorwegnehmen. Inzwischen hat sich gezeigt, daß das bürger
liche Leben den Mächten, die seine Aufhebung erstreben, doch stand-
zuhalten vermag, und die ästhetische Destruktion ist mehr und mehr
zur reizenden Arabeske geworden. Opposition gegen die herrschende
Gesellschaft verwandelt sich in eine romantische Vorliebe für
Apachen und Dirnen zurück. Rene Clair macht denn auch von
ihnen reichlich Gebrauch und flüchtet in ihr soziales Outsidertum
wie in eine Oase. Das heißt aber, daß er als Rebell abdankt und
sich in einer sanften Resignation gefällt, der es mit dem Kampf
gegen die bourgeoisen Formen nicht ganz ernst ist. Sie wird durch
die, Sentimentalität bestätigt, die im Film obwaltet. Sentimental
ist der Ablauf der Liebschaften und ein wenig zu süß die Traurig
keit an allen Ecken und Enden. Die Gewalt der gesellschaftlichen
und ästhetischen Traditionen hat das Aufrührertum der Avant
garde gebrochen und verniedlicht.
*
Mag das Mosaik dieses Films auch romantische Manier sein,
die Manier wird doch charmant gehandhabt und durch immer neue
Einfälle belebt. Ich erwähne nur die entzückende Bildglosse über
die Wirkung des Schlagers. Der Blick klettert an einer Miethaus-
fassade empor, und in jedem Stockwerk summen, gröhlen, spielen
die Bewohner den Schlagerrefrain. Dann wieder folgen Emstel-
lungen, die man schon kennt: schreitende Beine, Gasse von oben,
Bruchstücke von Architekturen. Lauter halb ironische Streifzüge
durch die merkwürdige Zwischenwelt, in der Dinge und Menschen
sich reizen, berühren und streicheln. Da die Ironie keinen durch
aus festen Halt hat, entartet sie manchmal zur kunstgewerblichen
Tändelei. Allzu breit ausgesponnene Harmlosigkeiten nisten sich
ein, wie die Bettszene zwischen dem Straßensänger und dem
Mädchen; die epische Dichte verflüchtigt sich etwa Sei dem Be ¬
mühen, die Schilderung eines längeren Zeitabschnitts unauffällig
an die des gefüllten Augenblicks anzuschließen; Exkurse werden
unternommen, die ziellos sind und das Milieu überbestimmen.
Sämtliche Schwächen rühren unzweifelhaft davon her, daß das
Prinzip nicht klar gegenwärtig ist, das ursprünglich die Aufspal
tung der traditionellen Zusammenhänge hervorrief.
Der Film ist ein Tonfilm, von dessen Montage unsere Re
gisseure viel lernen können. Sie entspricht der Forderung, die ich
an dieser Stelle schon wiederholt erhoben habe. Hier wird nicht
Theater gespielt, hier ist das Neuland nicht preisgegeben, das die
besten stummen Filme erobert haben. Vielmehr: Wort und
Bild sind einander nebe ungeordnet. Während in den
deutschen Tonfilmen jenes gewöhnlich die unbedingte Vorherr
schaft an sich reißt und damit die Freizügigkeit der Kamera
hemmt, werden bei Claire Augen und Ohren gleichmäßig bean
sprucht. Sein Film könnte, vor allem der Bedeutung des Schla
gers wegen, nicht stumm sein; aber ebensowenig sind die wech
selnden Gesichtseindrücke zu Illustrationen von Dialogen entwer
tet. Die richtige Proportion wird dadurch gewonnen, daß das
Wort nur stellenweise einbricht, und dort, wo es ausgespart ist,
eine passende musikalische Untermalung die beliebige Entfaltung
der Bilder erlaubt. Da so das Auge ungehindert von den Schorn
steinwäldern der Dächer zur singenden Volksmenge herabschweifen
darf, läßt es sich um so lieber bei allen fürs Vorwärtskommen
der Handlung notwendigen Gesprächen arretieren. Eine klug aus
gewogene Rhythmik, deren systematische Durchbildung die dring
liche Aufgabe der nächsten Zukunft sein wird.
Unter den Dächern von Berlin.
Unsere heimische Tonfilmproduktion scheint noch nicht aus der
Sackgasse herauszukommen, in die sie sich verrann: hat. Man
hat einfach die Bühne zum Film erweitert, statt auf der Leinwand
jede Erinnerung aus Theater zu tilgen. Wäre es noch richtiges
Theater — aber die Darsteller sprechen, sehr zum Unterschied
von den französischen, beflissen langsam und halten so nur noch
Mehr den Wechsel der Bilder auf, aus dem der Film das ihm
eigentümliche Leben bezieht. Hinzu kommt, daß stch Lei dem
Mangel an tauglichen Texten die gutgemeinte UeberdeutlMeit
fast nie auszahlt. So kann es nicht fortgehen. Wenn der deutsche
Tonfilm gedeihen soll, muß die Tyrannei des Wortes gebrochen
werden, das doch nicht das rechts ist, muß das Bild wieder in
Aktion treten und mindestens so vernehmlich sprechen wie die
Rede.
Im Ufa-Theater am Kurfürstendamm ist ein Schwank:
„Zweimal Hochzeit" angelaufen, in dem viel mehr Worte
gemacht werden, als man über ihn derberen kann. Eine Allerwelts-
ware mit ein paar Einfällen, die Zwar nicht witzig sind!, aber
doch Lei jeder Gelegenheit einfallen. Wo die Sprache nicht mehr
ausreicht, muß sich der unförmige Huszar Puffy im Badetrikot
herumwälzen. Das hätte man auch M-Hummen Film haben
körnen. Daß er oen größten Lacherfolg erzielt, ist die beste Kritik
am Manuskript, um dessen Fabrikation sich gleich drei Leute auf
einmal bemüht haben. — Paul Lindaus Stück: „Der Andere"
ist jetzt als Tonfilm im Capitol zu sehen. Es gehört zu jener
Erbmasse einst wirksamer Theaterstücke, die, wie ich fürchte, alle
noch einmal ihre Auferstehung erleben, obwohl sie längst ver
modert sind. Robert Wiene hat das wurmstichige Zeug nicht
ohne Geschmack renoviert und lackiert, ohne daß daraus das ge
worden wäre, was man früher einen guten Film nannte. Man
ist also gezwungen, von den Schauspielern zu sprechen, und
möchte beinahe um Heinrich Georges willen dem Film doch
ein gutes Wort 'gönnen. George: ein dicker Einbrecher, der so
urtümlich, waschecht und liebenswürdig geraten ist, als sei er
ein Original aus der Gegend des Alexanderplatzes. Kortner als
Staatsanwalt treibt praktische Charakteranalyse, bei der man
eiskalt bleibt. Aber kann sich auch einer im Verkehr mit Ge
spenstern erwärmen?
H
Eisensteins: „Potemkin" ist nachträglich mit deutschen
Sprechern synchronisiert worden. Mußte das sein? Der Unfug
kommt einer Denkmals entweihung gleich, und die tönende Fassung
setzt alles daran, um das stumme Werk zum Schweigen zu bringen.
l Außer dem geschändeten Potemkin läuft noch im Marmorhaus ein
in Paris gedrehter kurzer Tonfilm Eisensteins, der sich „Sehn
sucht" nennt. Er ist weder in Moskau noch in Paris beheimatet,
und man fragt sich besorgt, wohin die Sehnsucht Eisenstein treibt,
S. Kracauer.