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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Straßenpflaster, unter den Glühbirnreihen der Tanzlokale und in 
dunklen Treppenhäusern. 
Revolutionäre Absichten haben die Avantgarde zur surrealisti 
schen Zersetzung des üblichen Sehbildes geführt. Die Sprengung 
der Kunstformen sollte die des bürgerlichen Lebens Widerspiegeln 
und vorwegnehmen. Inzwischen hat sich gezeigt, daß das bürger 
liche Leben den Mächten, die seine Aufhebung erstreben, doch stand- 
zuhalten vermag, und die ästhetische Destruktion ist mehr und mehr 
zur reizenden Arabeske geworden. Opposition gegen die herrschende 
Gesellschaft verwandelt sich in eine romantische Vorliebe für 
Apachen und Dirnen zurück. Rene Clair macht denn auch von 
ihnen reichlich Gebrauch und flüchtet in ihr soziales Outsidertum 
wie in eine Oase. Das heißt aber, daß er als Rebell abdankt und 
sich in einer sanften Resignation gefällt, der es mit dem Kampf 
gegen die bourgeoisen Formen nicht ganz ernst ist. Sie wird durch 
die, Sentimentalität bestätigt, die im Film obwaltet. Sentimental 
ist der Ablauf der Liebschaften und ein wenig zu süß die Traurig 
keit an allen Ecken und Enden. Die Gewalt der gesellschaftlichen 
und ästhetischen Traditionen hat das Aufrührertum der Avant 
garde gebrochen und verniedlicht. 
* 
Mag das Mosaik dieses Films auch romantische Manier sein, 
die Manier wird doch charmant gehandhabt und durch immer neue 
Einfälle belebt. Ich erwähne nur die entzückende Bildglosse über 
die Wirkung des Schlagers. Der Blick klettert an einer Miethaus- 
fassade empor, und in jedem Stockwerk summen, gröhlen, spielen 
die Bewohner den Schlagerrefrain. Dann wieder folgen Emstel- 
lungen, die man schon kennt: schreitende Beine, Gasse von oben, 
Bruchstücke von Architekturen. Lauter halb ironische Streifzüge 
durch die merkwürdige Zwischenwelt, in der Dinge und Menschen 
sich reizen, berühren und streicheln. Da die Ironie keinen durch 
aus festen Halt hat, entartet sie manchmal zur kunstgewerblichen 
Tändelei. Allzu breit ausgesponnene Harmlosigkeiten nisten sich 
ein, wie die Bettszene zwischen dem Straßensänger und dem 
Mädchen; die epische Dichte verflüchtigt sich etwa Sei dem Be ¬ 
mühen, die Schilderung eines längeren Zeitabschnitts unauffällig 
an die des gefüllten Augenblicks anzuschließen; Exkurse werden 
unternommen, die ziellos sind und das Milieu überbestimmen. 
Sämtliche Schwächen rühren unzweifelhaft davon her, daß das 
Prinzip nicht klar gegenwärtig ist, das ursprünglich die Aufspal 
tung der traditionellen Zusammenhänge hervorrief. 
Der Film ist ein Tonfilm, von dessen Montage unsere Re 
gisseure viel lernen können. Sie entspricht der Forderung, die ich 
an dieser Stelle schon wiederholt erhoben habe. Hier wird nicht 
Theater gespielt, hier ist das Neuland nicht preisgegeben, das die 
besten stummen Filme erobert haben. Vielmehr: Wort und 
Bild sind einander nebe ungeordnet. Während in den 
deutschen Tonfilmen jenes gewöhnlich die unbedingte Vorherr 
schaft an sich reißt und damit die Freizügigkeit der Kamera 
hemmt, werden bei Claire Augen und Ohren gleichmäßig bean 
sprucht. Sein Film könnte, vor allem der Bedeutung des Schla 
gers wegen, nicht stumm sein; aber ebensowenig sind die wech 
selnden Gesichtseindrücke zu Illustrationen von Dialogen entwer 
tet. Die richtige Proportion wird dadurch gewonnen, daß das 
Wort nur stellenweise einbricht, und dort, wo es ausgespart ist, 
eine passende musikalische Untermalung die beliebige Entfaltung 
der Bilder erlaubt. Da so das Auge ungehindert von den Schorn 
steinwäldern der Dächer zur singenden Volksmenge herabschweifen 
darf, läßt es sich um so lieber bei allen fürs Vorwärtskommen 
der Handlung notwendigen Gesprächen arretieren. Eine klug aus 
gewogene Rhythmik, deren systematische Durchbildung die dring 
liche Aufgabe der nächsten Zukunft sein wird. 
Unter den Dächern von Berlin. 
Unsere heimische Tonfilmproduktion scheint noch nicht aus der 
Sackgasse herauszukommen, in die sie sich verrann: hat. Man 
hat einfach die Bühne zum Film erweitert, statt auf der Leinwand 
jede Erinnerung aus Theater zu tilgen. Wäre es noch richtiges 
Theater — aber die Darsteller sprechen, sehr zum Unterschied 
von den französischen, beflissen langsam und halten so nur noch 
Mehr den Wechsel der Bilder auf, aus dem der Film das ihm 
eigentümliche Leben bezieht. Hinzu kommt, daß stch Lei dem 
Mangel an tauglichen Texten die gutgemeinte UeberdeutlMeit 
fast nie auszahlt. So kann es nicht fortgehen. Wenn der deutsche 
Tonfilm gedeihen soll, muß die Tyrannei des Wortes gebrochen 
werden, das doch nicht das rechts ist, muß das Bild wieder in 
Aktion treten und mindestens so vernehmlich sprechen wie die 
Rede. 
Im Ufa-Theater am Kurfürstendamm ist ein Schwank: 
„Zweimal Hochzeit" angelaufen, in dem viel mehr Worte 
gemacht werden, als man über ihn derberen kann. Eine Allerwelts- 
ware mit ein paar Einfällen, die Zwar nicht witzig sind!, aber 
doch Lei jeder Gelegenheit einfallen. Wo die Sprache nicht mehr 
ausreicht, muß sich der unförmige Huszar Puffy im Badetrikot 
herumwälzen. Das hätte man auch M-Hummen Film haben 
körnen. Daß er oen größten Lacherfolg erzielt, ist die beste Kritik 
am Manuskript, um dessen Fabrikation sich gleich drei Leute auf 
einmal bemüht haben. — Paul Lindaus Stück: „Der Andere" 
ist jetzt als Tonfilm im Capitol zu sehen. Es gehört zu jener 
Erbmasse einst wirksamer Theaterstücke, die, wie ich fürchte, alle 
noch einmal ihre Auferstehung erleben, obwohl sie längst ver 
modert sind. Robert Wiene hat das wurmstichige Zeug nicht 
ohne Geschmack renoviert und lackiert, ohne daß daraus das ge 
worden wäre, was man früher einen guten Film nannte. Man 
ist also gezwungen, von den Schauspielern zu sprechen, und 
möchte beinahe um Heinrich Georges willen dem Film doch 
ein gutes Wort 'gönnen. George: ein dicker Einbrecher, der so 
urtümlich, waschecht und liebenswürdig geraten ist, als sei er 
ein Original aus der Gegend des Alexanderplatzes. Kortner als 
Staatsanwalt treibt praktische Charakteranalyse, bei der man 
eiskalt bleibt. Aber kann sich auch einer im Verkehr mit Ge 
spenstern erwärmen? 
H 
Eisensteins: „Potemkin" ist nachträglich mit deutschen 
Sprechern synchronisiert worden. Mußte das sein? Der Unfug 
kommt einer Denkmals entweihung gleich, und die tönende Fassung 
setzt alles daran, um das stumme Werk zum Schweigen zu bringen. 
l Außer dem geschändeten Potemkin läuft noch im Marmorhaus ein 
in Paris gedrehter kurzer Tonfilm Eisensteins, der sich „Sehn 
sucht" nennt. Er ist weder in Moskau noch in Paris beheimatet, 
und man fragt sich besorgt, wohin die Sehnsucht Eisenstein treibt, 
S. Kracauer.
	        
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