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Metadata: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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Voll 
Ehre 
tags- 
abzu- 
d) eine Tänzerin, e) keine Störung wünscht. 
Kurzum, die technischen Installationen sind von einer 
kommenheit, die der Direktionsabteilung eines Konzerns 
machte. Ihre Hauptaufgaben bestehen zweifellos darin, den 
über rationalisierten Besuchern abends die Anstrengung 
Berlin, Ende Oktober. 
In einem der bekanntesten Berliner Vergnügungslokale be 
obachtete ich jüngst einen Mann, der gewissermaßen sein Büro in 
dem Lokal aufgeschlagen hatte. Zum Verständnis des besonderen 
Vergnügens, das er sich verschaffte, ist zu erwähnen nötig, daß 
das Lokal selber wie ein Großbetrieb eingerichtet ist. Auf jedem 
der vielen Tische befindet sich: 
1. ein Telephonapparat, der zur Verbindung mit der Außen 
welt der übrigen Tische dient. 
2. eine Rohrpostanlage, die den brieflichen Gedankenaustausch 
mit sämtlichen Personen im Raum ermöglicht. 
3. eine Signalvorrichtung, mit deren Hilfe öffentlich bekannt 
gegeben werden kann, ob man an dem Tisch: a) einen Tänzer. ' 
WeßMon im Kino. 
Berlin, im Oktober. 
Auf der Leinwand: 
Der stumme Rufsenfilm: „Der blaue Expreß", der im 
MozarLsaal gezeigt wird, kommt etwas zu spät nach Deutschland. 
Er spielt in dem von skrupellosen Abenteurern beherrschten China 
und stellt Ue Rebellion chinesischer Proletarier in einem Expreßzug 
dar. Während der Zug durch die Nacht braust, entspinnt sich im 
Speisewagen, auf dem Führerstand der Lokomotive und den be 
benden Waggondächern ein erbitterter Kampf zwischen den weißen 
und gelben Ausbeutern und ihren Opfern. Das episodenreiche 
Tohuwabohu endet mit dem Sieg der Proletarier und der Flucht 
des Expreßzuges über die russische Grenze, hinter der die Sonne 
symbolisch strahlt. 
Jlja Traubergs Regiekunst ist virtuos i r kleinen, enträt 
«aber der großen Linie, die den klassischen Filmwerken Eisensteins 
und Pudowkins zur machtvollen Geschlossenheit verhalf. Weder ist 
die Handlung klar durchkomponiert noch sind alle Details so ins 
Gesamtschema eingebaut, daß sie ihren Sinn sofort Preisgaben. Die 
Gestaltung des Wirrwarrs eines Aufruhrs darf aber nicht selber 
verwirrt sein. Um so nachhaltiger wirken Einzelzüge, mit denen 
verglichen die meisten deutschen Leistungen zu traurigen Klischees 
herabsinken. Ich denke an die Montage jener außerordentlichem 
Speisewagenszene, in der getanzt-und getafelt wird; an die Ver^ 
sinnlichung des Zugtempos, das den Rhythmus aller Vorgänge be 
stimmt; an gewisse Abschnitte, in deren Verlauf sich die Bildfolge 
um der größeren Eindringlichkeit willen in eine Folge lebender 
Bilder verwandelt, die einander langsam ablösen. Schon einmal, 
im Film von der Pariser Kommune, hat Trauberg mit Kosinzew 
zusammen dieses Bilderbuch-Verfahren mit Glück benutzt, um die 
Hintergründe des französischen Impressionismus zu entlarven. 
Dennoch: der Film kommt Zu spät. Man erträgt das Pathos 
nicht mehr, mit dem hier die Rebellion im Zug für den Zug der 
Revolution ausgewertet wird. Wieder einmal haben sämtliche An 
gehörige der herrschenden Klasse ein und dasselbe Gesicht; wieder 
einmal sind sie alle nur niederträchtig. Eine Vereinfachung, die 
nachgerade spottbillig geworden ist und überdies hinter unseren Er 
fahrungen zurückbleibt. Dergleichen paßt in die Epoche des offenen 
revolutionären Kampfes; in einer Zeit schwieriger, lautloser Arbeit 
täuscht eine solche SchwarZweiß-Malerei über den Ernst dieses ' 
Kampfes hinweg. Von ihrer Jnaktualität zeugt nicht Zuletzt die 
manirierte Zeichensprache, mit deren Hilfe die revolutionären Be 
deutungen vermittelt werden. Waren die Fahnen bei Eisenstein 
noch bildhafte Erkenntnisse, die aufzuführen vermochten, so sind 
sie beim Epigonen zum konventionellen Hinweis erstarrt. Das 
kommt davon, wenn man fortwährend das freilich dankbare revo 
lutionäre Anfangsstadium in glänzende Festparaden umsetzt, statt 
die bittere Gegenwart mit den ihr angemessenen Kategorien filmisch 
zu durchdringen. 
Dem Film ist eine musikalische Illustration von Edmund 
Meisel beigegeben, die wie der Expreßzug rattert, die jeweils 
fälligen Gefühle treulich untermalt und sich im ganzen gleich dem 
Film selber fixierter Ausdrucksmittel bedient. 
Im ZuschauerraumP 
Das Berliner Kinopublikum hat gelegentlich der vor 
wenigen Tagen erfolgten Uraufführung eines neuen deutschen 
Tonfilms seine Urteilskraft laut und schlagend bewiesen. Zuerst 
scharrte es mäßig; dann, als das Schauspiel auf der Leinwand 
immer unerträglicher wurde, rebellierte es unverblümt. Haupt 
gegenstand seines Zornes war der Held des Stückes: ausnahms 
weise kein Tenor, sondern ein Bariton. Aber auch der mußte, wie 
es neuerdings in den heimischen Tonfilmen Brauch geworden ist, 
Schlager auf Schlager singen. Die von dem unsinnigen Machwerk 
gequälten Zuhörer und -schauer riefen ihm „Schluß!" zu, als, 
sei er ein lebendes Wesen. Da er zum Unglück eine Illusion wak; 
die nicht willkürlich abbrechen konnte, übertönten sie heulend und 
pfeifend das Getöne und bereiteten sich so selber das Vergnügen, 
das ihnen der Tonfilm nicht bot. Nachdem er endlich verendet 
war, warteten sie noch eine Weile auf das übliche Erscheinen der 
Stars, die sich indessen in Voraussicht der drohenden Lynchjustiz 
gar nicht erst auf der Rampe zu zeigen wagten, und zerstreuten 
sich Zuletzt unter Murren gegen ihr Los. 
Der Film heißt: „Zwei Krawatten" und ist frei nach 
dem gleichnamigen Stück Georg Kaisers fabriziert worden. Michael 
Bohnen und andere erste Kräfte wirken in ihm mit. Bei der 
zweiten Aufführung hat man einfach jene Stellen herausge 
schnitten, die den stärksten Anstoß erregten; was schon zur Genüge 
beweist, wieviel die Hersteller selber von dem Zeug halten. Wenn 
das Berliner Publikum, das sich so glorreich auf dem Schlacht 
feld behauptet hat, seine Tonfilmfeinde rücksichtslos weiter ver 
folgte, wären sie vermutlich bald in die Flucht geschlagen. Und um 
die paar, die dem Ansturm standhielten, lohnte es sich dann 
wirklich. S. Kracauer. 
nehmen, die ihnen ein Amüsement auf eigene Faust kostete; in 
kleineren Angestellten die Illusion zu erwecken, sie seien ihre per 
sönlichen Vorgesetzten; das Publikum von der Angst vor eine^ 
Apparatur zu befreien, die für gewöhnlich kein harmloses Spielzeug 
ist, sondern bitterer Ernst. Wie gut diese Aufgaben gelöst werden, 
beweist die Fülle, die allabendlich im Lokal herrscht. Sie mag nicht 
zuletzt der Lichtflut zuzuschreiben sein, die den Saal in stets wech 
selnder Färbung überströmt und einen Vorgeschmack von den Herr 
lichkeiten des Paradieses gibt, in dem die Menschen mit den ent 
zauberten Gewalten der Technik dereinst friedlich beisammen wohnen 
werden. 
Jener Mann faßte die Apparate keineswegs so auf, wie sie auf 
gefaßt werden wollen. Weder wiegte er sich in Illusionen, noch 
spielte er mit den Signalen, noch ließ er sich von der Lichtflut be 
stechen. Vielmehr, er betrieb den Spaß im Ernst, und eben dieser 
Ernst wurde ihm zum Spaß. 
Die längste Zeit über saß er allein am Tisch. Sein Scheitel be 
fand sich genau in der Mitte, seine Augenbrauen waren zwei Halb 
kreise, und seine Backen wurden nach unten immer voller wie bei 
vielen besser situierten Herren zwischen vierzig und fünfzig. Wäh 
rend er sich von Zeit zu Zeit mit einem Schluck Champagner 
stärkte die schlechter Situierten können sich auch bei Mokka, 
Vier oder Limonade vergnügen — setzte er ununterbrochen die^ 
Tätigkeit fort, zu der ihn offenbar sein Beruf verpflichtete. Er 
achtete nicht auf die Tanzenden, er weilte in seinem Büro. Es 
telephonierte. Mit der Miene des vielgeplagten Geschäftsmannes, 
der die Anfrage irgendeines gleichgültigen Kunden vermutet, griff 
er zum Hörer und lauschte. Wider Erwarten schien es sich um einen 
vorteilhaften Abschluß zu handeln, denn die Hängebacken füllten 
sich zusehends und der Scheitel glänzte vor Seligkeit. Unterdessen 
waren zwei Rohrpostsendungen im Netz gelandet, die er ein Paar 
Minuten uneröffnet liegen ließ, um sich den Anschein größerer Wich 
tigkeit zu geben, ohne den mün im Leben nicht vorwärts kommt. 
; Die eine verstimmte ihn so, daß er sie Zerriß. Er schüttelte den Kopf 
und zog die Augenbrauen in die Höhe, über denen sich lauter Fal 
ten in Form konzentrischer Halbkreise bildeten, eine geradezu 
geometrische Verkörperung geschäftlichen Aergers. Zu einem um so 
entschiedeneren Eingreifen bewog ihn die andere briefliche Ordr^ 
Nachdem er sich im Telephonverzeichnis über den Tischplatz des 
Absenders vergewissert hatte, führte er zuerst endlose Ferngespräche 
und erledigte dann gleich eine umfangreiche Korrespondenz, die er 
per Rohrpost beförderte. Solange er schrieb, glich der gedeckte Tisch 
einem Schreibtisch mit zahllosen Auszügen und Gefächern. 
Der Betrieb, der nur selten einmal still stand, vergrößerte sich 
noch durch eine kalte Platte, die er mit Genuß verzehrte. Da sie 
seinen Kredit bei der Damenwelt befestigte, konnte er sich vor An 
rufen und Botschaften kaum retten. Seelenruhig nahm er in der 
Stille seines Büros, das unsichtbare Fenster vom Lärm des 
Lokals abschlossen, Auftrag um Auftrag entgegen und fertigte? 
seinerseits mündlich und schriftlich große Bestellungen aus. Die- 
Augenbrauen gingen hinauf und herunter, der Scheitel verwan 
delte sich bald in eine leuchtende Aureole, bald in einen zornigen 
Pfeil. Wie bei allen bedeutenden Geschäftsleuten war über seine 
Erfolge nichts in Erfahrung Zu bringen. Benutzten andere Gäste 
die verschiedenen Verbindungsmöglichkeiten, um einen geeigneten 
Partner zu treffen, so benutzte er sie gleichsam um ihrer selbst 
willen oder zu verborgenen Zwecken. Jedenfalls erhob er sich nie 
mals von seinem Platz und empfing auch keinen Damenbesuch. 
Aber vielleicht hatte er insgeheim doch eine große Sache getätigt. 
Zu vorgerückter Stunde wurdm ihm drei Herren an den Tisch 
gesetzt. Sie sahen mit Bewunderung zu, wie er von seinem Büro 
aus das Ganze sozusagen dirigierte. „Man amüsiert sich nur gut," 
erklärte er ihnen herablassend, „wenn man allein über einen Tisch 
verfügt." Als sie nicht weichen wollten, stellte er sie kurzerhand in 
seinem Betrieb an. Einer der Herren mußte das Telephon be 
dienen, ein anderer schreiben. Nach einer kleinen Frist zahlten die 
drei und gingen. Entweder waren sie abgebaut worden oder hatten
	        
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